Der offene Marxist

Ernest Mandel bei einer Veranstaltung Foto: Urheber unbekannt

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Zum Todestag von Ernest Mandel

Der offene Marxist

Von Dr. Thomas Goes | 20.07.2017

Am 20. Juli jährt sich der Todestag von Ernest Mandel zum zweiundzwanzigsten Mal. Mandel war m.E. einer der wichtigsten Marxisten des 20. Jahrhunderts und ist in der deutschen Linke heute völlig zu unrecht fast vergessen oder doch beinahe ein Unbekannter. Es ist nicht übertrieben, seinen Beitrag zum Marxismus auf eine Stufe mit denen von Edward P. Thompson, Rosa Luxembrug, Antonio Gramsci, Nicos Poulantzas oder Louis Althusser zu stellen.

Mandel entwickelte, wenn auch zuweilen sich an den Klippen dogmatischer Wendungen aufreibend, einen „offenen Marxismus“ (wie ein Gesprächband mit Johannes Agnoli titelt), der tief im revolutionären Humanismus und Internationalismus wurzelt und auch heute noch für all jene wertvoll ist, die an einem „Sozialismus von unten“ arbeiten und an einer politischen Perspektive festhalten, in der die Befreiung der Unterdrückten, Ausgegrenzten und Ausgebeuteten zu allererst ihr eigenes Werk ist. Ihn nicht zu lesen, können wir uns nicht erlauben.

Ganzheitlicher Marxist

Mandel war Zeit seines Lebens politisch aktiv, seit frühen Jahren Führungsmitglied der revolutionär-marxistischen Vierten Internationale, also ein Erbe Trotzkis und so ein Bewahrer revolutionärer Erbschaften. Schon als junger Mensch beteiligte er sich in Belgien aktiv am Widerstand gegen die Nazis, war nach dem Krieg in der belgischen Gewerkschaftsbewegung aktiv, forschte als marxistischer Ökonom und betätigte sich als vielsprachiger Vortragender, der seine Wissenschaft als Instrument im Befreiungskampf der unterdrückten Klassen und Völker sah. Und weil das so war, erhielt er konsequenterweise in Deutschland Einreiseverbot (auch im Ostblock, den USA usw.) unter der sozialliberalen Regierung Brandt, als er zum Professor an der Freien Universität Berlin berufen werden sollte.

In diesem Sinne war er einer der wenigen ganzheitlichen MarxistInnen des späten 20. Jahrhunderts. Während der „westliche Marxismus“ der 1950er und 1960er (und auch der der 1970er) Jahre weithin akademisierte und – wie etwa die Frankfurter Kritische Theorie – von einer Integration „der“ Arbeiterklasse ins spätkapitalistische System ausging, verband Mandel politisches Engagement, mithin auch in der ArbeiterInnenbewegung, mit einer revolutionären wissenschaftlichen Praxis – und das Zeit seines Lebens, nicht nur in einem wilden Lebensjahrzehnt, wie es so oft der Fall war und ist.

Ganzheitlich ist Mandels Denken und Schaffen auch in einem anderen Sinne gewesen. Er hat zu so unterschiedlichen Fragen wie der Geschichte des 2. Weltkrieges, angemessenen Strategien der radikalen Linken in den 1970er Jahren, Theorie und Praxis der Gewerkschaften, der Entstehung von Klassenbewusstsein, der Theorie der Bürokratie, der Ökonomie der Übergangsgesellschaften (auch in einer lesenswerten Auseinandersetzung etwa mit Charles Bettelheim), der Entwicklung des ökonomischen Denkens bei Marx und der Ökonomie des Gegenwartskapitalismus publiziert.

Analytiker des Spätkapitalismus

Zur ökonomischen Analyse hat er unter anderem – als erstes Hauptwerk – die „Marxistische Wirtschaftstheorie“, den „Spätkapitalismus“ (sein eigentliches Hauptwerk) und eine sehr lesenswerte marxistische Erklärung der langen Wellen im Kapitalismus beigesteuert („Die langen Wellen im Kapitalismus“). Die Marxistische Wirtschaftstheorie (zuerst 1962) ist eine historisch-logisch aufgebaute Grunddarstellung, die mit der Betrachtung urkommunistischer Gesellschaften beginnt, die Entwicklung von Tauschgesellschaften nachzeichnet und schließlich über die Einführung in die marxistische Kapitalismusanalyse bei der Diskussion über Imperialismus und Monopolkapitalismus endet. Die historischen Befunde sind heute sicherlich veraltet, als Grundlage für die Auseinandersetzung mit dem „Kapital“ von Marx ist es aber wärmstens zu empfehlen, gerade denen, die geschichtliches Fleisch brauchen, um die Theorie zu verdauen.

Der „Spätkapitalismus“ ist der Versuch Mandels eine eigenständige Analyse des Kapitalismus vorzulegen.

Der „Spätkapitalismus“ hingegen ist der Versuch Mandels eine eigenständige Analyse des Kapitalismus vorzulegen (zuerst 1972 in deutscher Sprache erschienen), die zugleich die Entwicklungen der Jahre nach 1945 reflektierte, ohne in die frühen Stabilitätsprognose zu münden, die sowohl Linkskeynesianer wie auch Monopolkapitalismustheoretiker der Schule Baran/Sweezy formuliert haben (bei denen die Profitraten der Monopole merkwürdig stabil sind). Mandel hielt dagegen mit einer Analyse, die plausibel die grundsätzliche Krisenhaftigkeit des konkreten Gegenwartskapitalismus nachgewiesen hat. Das Werk ist durchaus voraussetzungsvoll, beginnt es doch direkt mit der Debatte um die Marxschen Reproduktionsschemata und deren Interpretation durch Rosa Luxemburg und arbeitet sich auch im weiteren Argumentationsgang an zentralen linken Diagnosen der damaligen Zeit ab – etwa an der frühen Dependenztheorie oder dem Theorem der permanenten Rüstungswirtschaft. Analysiert wird der „Spätkapitalismus“ mithin per se in seinem Welt(markt)zusammenhang, was nicht nur eine ausgesprochen breite empirische Basis (die allerdings stellenweise etwas willkürlich erscheint) verlangt, sondern auch erlaubt wachsende imperialistische politischen Spannungen/Konflikte zu thematisieren.

Frank Deppe, so erzählte man mir, pflegt zwar den Witz zu machen, Mandel habe 8 der letzten 2 kapitalistischen Krisen vorausgesagt (darin steckt ein Fünkchen Wahrheit), das schmälert aber kaum den Wert des Buches. Man muss sich in diese Jahre zurückversetzen – zwar gab es in Europa einen neuen Aufschwung der Klassenkämpfe und eine Jugendradikalisierung, die eine Wende hin zum „Marxismus“ (bzw. bestimmten Bindestrichmarxismen a la Maoismus etc.) nach sich zogen. Liest man aber die Klassiker dieser Tage (man denke etwa an die „Strukturprobleme des kapitalistischen Staates“ oder den Monopolkapitalismus von Baran/Sweezy), dann wirkt das Wirtschaftssystem darin merkwürdig stabil. Natürlich war Mandel nicht alleine mit seinen Krisendiagnosen, aber er legte eine mit großer analytischer Schärfe vor – und ich möchte es kurios nennen, dass „Der Spätkapitalismus“ heute so gut wie gar nicht in der deutschen Linken rezipiert wird. Dabei würde er die krisentheoretische Debatte in Deutschland sicherlich bereichern, in der linkskeynesianische (also unterkonsumtionstheoretische) und finanzmarkttheoretische Erklärungsansätze dominieren.

Lange Wellen im Kapitalismus

Im „Langen Wellen-Buch“ (zuerst 1983 in deutscher Sprache) geht Mandel dann schließlich einen Schritt weiter und legt eine marxistische Theorie der langen Wellen vor, in deren Mittelpunkt der „tendenzielle Fall der Profitrate“ und das Konzept der „dialektischen Determinierung“ steht.

Dieser Ansatz ist unter MarxistInnen heftig umstritten (zuletzt hat Paul Mason in seinem Postkapitalismusbuch auf das Wellenkonzept zurückgegriffen, allerdings in Anlehnung an Kondratieff). WellentheoretikerInnen behaupten nämlich, dass es wiederkehrende Entwicklungsmuster innerhalb des Weltkapitalismus gibt. Demnach wechseln sich Wachstumsphasen, in denen hohe Profitraten vorherrschen, mit eher stagnativen Krisenphasen ab, die durch eine niedrige Profitabilität gekennzeichnet sind.

Mandel erkärt die Expansionsphasen nicht aus der Anwendung neuer Leittechnologien, sondern der breiten Nutzung derselben aus veränderten Profitabilitätsbedingungen.

Lange Wellen kapitalistischer Entwicklung umfassen rund 50 – 60 Jahren und unterteilen sich in eine expansive A-Phase und eine stagnativere B-Phase. Expansive Phasen sind laut Mandel Ergebnisse erfolgreicher Klassenkämpfe von oben, durch die es Kapitalisten und Staatseliten gelingt, die Profitabilität des Kapitals zu erhöhen – gelingt das, dann kann eine länger anhaltende Prosperitätsphase folgen, wie wir sie etwa in den 1950er und 1960er Jahren kennengelernt haben; die stagnativen Phasen setzen schließlich ein, weil sich der Fall der Profitrate nach einer langen Zeit doch wieder durchsetzt – so etwa in den 1920er und 1930er Jahren. Anders als AutorInnen, die Schumpeter folgen, erkärt Mandel Expansionsphasen dabei also nicht aus der Anwendung neuer Leittechnologien, sondern die breite Nutzung derselben aus veränderten Profitabilitätsbedingungen.

Eingestanden ist damit zweierlei:

Erstens, dass es keineswegs ein finale Krise des Kapitalismus geben muss, sondern auf Krisen- wieder Wachstumsphasen folgen können. Anders herum aber auch: Dass es unsinnig ist, in Wachstumsphasen, wie es historisch des öfteren der Fall gewesen, die Stabilität des Kapitalismus als bewiesen anzuerkennen.

Zweitens: Dass politischen Kämpfen für die kapitalistische Entwicklung insofern eine herausragende Bedeutung zukommt, als sie die Vewertungsbedingungen des Kapitals – gleich einer Weichenstellung – beeinflussen. Wer sich ein wenig (und besser als ich) in der marxistischen Ökonomenzunft auskennt, erahnt vielleicht, wieviel Widerspruch das hervorrufen musste. Zunächst sicherlich von denen, die im Monopolkapitalismus eine Art finalen Krisenkapitalismus entdecken wollten, der dem Systemwettbewerb mit dem Mutterland des Sozialismus und dessen Sateliten nicht standhalten könnte; zudem von KrisentheoretikerInnen, die von einem linearen tendenziellen Fall der Profitrate ausgingen, einen neuen Aufschwung der Profitraten also für eher unmöglich hielten. Und natürlich von denen, die die Profitratenentwicklung nicht als zentrale Krisenursache ansehen. Natürlich gibt es Grund zur Skepsis, das liegt aber insbesondere an der ungenügenden historischen empirischen Basis, die nötig wäre, um die langen Wellen erschöpfend zu belegen. In erster Linie liegt das an mangelhaften staatlichen Statistiken (wenngleich es einige interessante empirische Arbeiten gibt, die sich daran versuchen). Der Historiker Eric Hobsbawm hielt es umgekehrt: Seines Erachtens könne man die langen Wellen zwar feststellen, aber nicht befriedigend erklären, weshalb man sie für die marxistische Geschichtswissenschaft keine Rolle spielen sollte – eine durchaus eigensinnige Schlussfolgerung.

Wie dem auch sei, auch dieser Beitrag Mandels ist anregend, wenngleich – wie etwa zuletzt Michael Roberts in seinen Arbeiten „The Great Recession“ und „A Long Depression“ gezeigt hat – er angesichts der Entwicklungen der letzten 40 Jahre modifiziert werden müsste (zwar brachen die Profitraten Anfang der 1970er Jahre ein, es folgte aber keine lange depressive Phase, sondern seit Anfang der 1980er eine neoliberale Expansion – wenngleich mit niedrigeren Wachstumszahlen etc.).

Kritiker und Analytiker der Bürokratie

Einen wertvollen Beitrag zum Verständnis der Klassenauseinandersetzungen in den kapitalistischen Zentren lieferte Mandel mit Artikeln zu Gewerkschaften und Bürokratie, die er im Laufe der Zeit erarbeitete und die später in das Buch (mit dem missverständlichen deutschen Titel) „Macht und Geld“ einflossen. Wer heute verstehen möchte, wieso Gewerkschaften funktionieren wie sie funktioneren (und es dennoch sinnvoll und wichtig ist politisch in ihnen zu arbeiten), sollte etwa den langen Artikel „Systemkonforme Gewerkschaften?“ lesen – Mandel umreisst nicht nur die Funktionen der Hauptamtlichen (als Mittler des Klassenkampfes und der Ware Arbeitskraft), er gibt mit dem Konzept der „Dialektik der Teilerrungenschaften“ auch ein Werkzeug an die Hand, das etwa „Apparate“ gleichzeitig als notwendige und bewahrenswerte Errungenschaften (in einer Gesellschaft mit kapitalistischer Arbeitsteilung geht es nicht anders, auch wenn sich das einige syndikalistische GenossInnen anders vorstellen) würdigt, ohne aber ihre Tendenz zu konservativer Politik zu bemänteln.

Im Gegenteil, es erklärt sie aus dem Bedürfnis sowohl der aktiven Mitgliedschaft wie hauptamtlicher Funktionäre, Errungenschaften zu bewahren und nicht durch „abenteuerliche“ Politik aufs Spiel zu setzen – eine Tendenz, die sich gleichwohl nicht nur bei Gewerkschaften, sondern auch anderen Organisationen findet, etwa linken Parteien. Sicherlich, das ist noch keine erschöpfende Analyse, sie ist aber um ein Vielfaches differenzierter und „sättigender“ als Basis-Apparate-Erklärungen (hier die möglicherweise rebellische Basis, dort die schlechten Funktionäre) oder gar einseitige Apparatetheorien.

In „Macht und Geld“ (zuerst 2000) schließlich versucht Mandel den großen Wurf, indem er sich der Soziologie der Arbeiterbürokratien (also sowohl ihrer „Kampforganisationen“ im Kapitalismus, als auch der Bürokratien in den postkapitalistischen Ostblockstaaten) widmet. Worum es ihm politisch dabei geht, ist klar: die Macht von Bürokratien ist nicht (wie etwa Robert Michels es nahelegt) alternativlos, sondern ihr kann – und muss deshalb – entgegengewirkt werden. Eine Perspektive, die auch uns Linken anzuempfehlen ist, die wir einen neuen Anlauf versuchen.

Sozialistische Strategie

Einen ganz eigenen Beitrag zur marxistischen Debatte, den es wiederzuentdecken gilt, lieferte Mandel en passent mit verschiedenen Aufsätzen, in denen er eine zeitgemäße revolutionäre Strategie zu entwickeln suchte bzw. auszubuchstabieren, wie eine revolutionäre Strategie unter den hochentwickelten westeuropäischen Bedingungen auszusehen hätte. Es mag als Lob dieser Versuche gelten, dass „Mandelismus“ für orthodoxe TrotzkistInnen eine Art Schimpfwort ist.

Ein Teil dieser Artikel ist unter dem Titel „Revolutionäre Strategien im 20. Jahrhundert“ erschienen (zuerst 1984). Darin greift er etwa das Konzept „antikapitalistischer Strukturreformen“ auf, diskutiert Aussteigerstrategien (wenn 10.000 Hippies aussteigen, dann verändert es das System dennoch nicht, so heißt es sinngemäß) und reflektiert Ereignisse wie den Mai 1968 in Frankreich (eine erfolgreiche Revolution unter spätkapitalistischen Bedingungen, so lässt Mandel andernorts wissen, das ist ein erfolgreicher Mai 1968, in dem neue Organe einer Macht von unten gebildet werden etc.). Dabei hält Mandel an der Möglichkeit radikaler Massenkämpfe der arbeitenden Klassen fest, nicht zuletzt, indem er Zyklen des Klassenkampfes nachzeichnet, in denen sich Phasen intensiver Selbstorganisation, Selbsttätigkeit und Kampflust „der“ Klasse mit Perioden der Ebbe abwechseln – eine Betrachtungsweise, die eine Art strategischen Kompass in die Hand gibt für wiederkehrende Zeiten, in denen „die“ Klasse wenig kämpft (Perioden, in denen sie in der Regel als „integriert“ gilt).

Mit alledem versucht Mandel das Erbe der frühen Dritten Internationale zu aktualisieren und das auf eine Art und Weise, die erfrischend offen gegenüber anderen Ansätzen (etwa dem Guevarismus etc.) war. Man muss das alles nicht teilen – interessant ist es aber allemal, diese Strategiebrocken vor dem Hintergrund alternativer Ansätze der Zeit zu diskutieren.

Mandel aktualisiert die Strategie der Übergangsforderung und der Einheitsfront.

Nehmen wir zwei Pole: Der umstürzlerische Maoismus („Nur der Griff der Massen zum Gewehr schafft den Sozialismus her“) oder die Strategie der antimonopolistischen Demokratie, wie sie etwa von der DKP vertreten wurde (und sich in ähnlichen Varianten in anderen europäischen KPen fand). Während Maoisten von einer organisch-dynamischen Verbindung realer Reformkämpfe mit Brüchen mit der Macht von Kapital und Staat aus einer linksradikalen (im leninschen Sinne) Perspektive Abstand nahm, schob die DKP in ihrer Strategie eine Phase zwischen, in der die Arbeiterklasse, das Kleinbürgertum (so weit, so schön) und alle nicht-monopolistischen Teile des Kapitals gegen den Hauptfeind gewonnen werden sollten (so weit, so falsch): Das Monopolkapital. Auch hier – weil eine antimonopolistische Demokratie nun einmal ein Bündnis mit dem Kapital gegen das Kapital sein sollte – fehtle eine dynamisch-organische Verbindung von Kämpfen im Hier mit Versuchen, aus diesen Kämpfen heraus Bewegungen zu entwickeln, die das Tor in eine nachkapitalistische Zukunft aufstoßen könnten. Dem Alles-oder-Nichts der Maoisten stand so eine intelligentere Etappentheorie der offiziellen Kommunisten gegenüber, die mit erstaunlich merkwürdigen Ansichten über den Charakter des Staates verbunden wurde.

Mandel aktualisiert dagegen die Strategie der Übergangsforderung und der Einheitsfront. Forderungen, die im Hier und Jetzt erhoben werden, sollen demnach aus Bewegungen heraus mit solchen verbunden werden, die – bewusst – nur dann zu verwirklichen sind, wenn die Macht von Kapital und Staatsbürokratien angegriffen wird: mit antikapitalistischen Reformen also, die mit der Logik des kapitalistischen Systems brechen. Mitgedacht ist darin, dass die Überwindung bürgerlicher Klassenherrschaft nur dann möglich ist, wenn eine kämpfende Massenbewegung entsteht – und das, so der strategische Hintergedanke, wird nur dann geschehen, wenn Reformkämpfe dynamisiert werden, Erfahrungen mit der Macht der Gegenseite gesammelt werden etc. Um das zu erreichen ist zugleich das Bündnis der Linken nötig, um die politische Zersplitterung der Klasse zu überwinden – oder doch zumindest zu relativieren: Die Einheitsfront.

Mandels eigene Antworten wirken auch heute noch anregend (insbesondere sein Vertrauen auf die Fähigkeit zur politischen Selbsttätigkeit der ArbeiterInnen), wenngleich sie m.E. am großen Mangel leiden, dass sie kaum aufzeigen, was eine Linke eigentlich tun kann (abgesehen davon „die Organisation aufzubauen“ und Propaganda zu betreiben), wenn es keine vorrevolutionären Phasen (oder einen Aufschwung sozialer Bewegungen) gibt. Mit anderen Worten: Eine Abwägung von Defensiv- und Offensivstrategien, ein differenzierteres Verständnis von Hegemoniepolitik etc. wird bei Mandel nicht sichtbar. Es würde sich aber meines Erachtens lohnen sei zu Vorschläge neu zu entdecken, indem man sie systematisch in einen Dialog mit „gramscianischen“ Beiträgen setzt.

Kritiker des Eruokommunismus

Wer es ein bisschen schärfer mag, der oder die mag Mandels Buch über den „Eurokommunismus“ (zuerst 1978) lesen, der eine in der Sprache und zum Teil in der Sache auch etwas dogmatisierte Abrechnung mit der Realpolitik der PCI, der spanischen Kommunisten und der PCF ist. Urteilsmaßstab ist für Mandel hier der revolutionäre und internationalistische Klassenkampf – und daran gemessen, fallen die benannten Parteien für ihn glatt durch. Interessant ist an dem Buch aber weniger diese Seite, also Mandels positive Kritik, sondern seine negative. Soll heißen: Wenn man sich fragt, wie aus einem Großteil der PCI etwa 1990 schwuppdiwupps eine prokapitalistische Linkspartei (ich meine nicht die PRC, sondern die italienische PDS) werden konnte, wird mit Gewinn Mandels Auseinandersetzung mit der Austeritätspolitik der PCI lesen, die diese in regionaler Verantwortung exekutierte. Oder wer sich für tiefere Wurzeln des Proeuropäismus in der postkommunistischen Linken (etwa Syriza) interessiert, wird interessiert Mandels kritische Einschätzung der falschen optimistischen Haltung der PCI zur EWG studieren.

Neben diesen Stärken findet sich m.E. aber auch eine erhebliche Schwäche im Buch – und das ist die fast vollständige Ignoranz des sog. „linken Eurokommunismus“, wie er sich etwa mit den Namen Pietro Ingrao oder Nicos Poulantzas verbunden hat. Möglicherweise ist das auch in Ordnung, weil Ingrao vielleicht eine Identifikationsfigur dissidenter italienischer Kommunisten war, allerdings seiner eigenen Dissidenz in der Partei kaum einen sichtbaren Ausdruck verliehen hat – und Poulantzas mag ein sehr produktiver Kopf gewesen sein, sein praktischer Einfluss in der kommunistischen Massenbewegung Frankreichs dürfte aber gegen Null gegangen sein. Dennoch ist es eine verpasste Chance auf eine möglicherweise produktive intellektuelle Begegnung/Entdeckung gewesen (aus revolutionär-marxistischer Perspektive suchte in Frankreich Henri Weber diese Debatte mit Poulantzas, was sich in interessanten Aufsätzen in der New Left Review und einem sehr aufschlussreichen Interview dort niedergeschlagen hat).

Internationalist

Weltpolitisch vertrat Mandel eine Art Dreiweltentheorie, das heißt er stritt für eine revolutionäre Klassenbewegung in den kapitalistischen Zentren; unterstützte antikoloniale Befreiungsbewegungen; und setzte auf antibürokratische Arbeiterrevolten gegen die Herrschaft einer stalinistischen Bürokratie in den Ostblockstaaten, in denen er (anders etwa als Maoisten und die Trotzkisten der International Socialist Tendency) keinen neuen (Staats-) Kapitalismus und keine neue Klassengesellschaft, sondern – hier an älteren Einschätzungen Trotkis festhaltend – einen degenerierten Arbeiterstaat sah: also eine nachkapitalistische Gesellschaft, in der neue Schichten auf Kosten der Arbeiter lebten und nicht eine Diktatur der Arbeiterklasse (im Sinne Marxens), sondern eine politische Diktatur über die Arbeiterklasse ausgeübt wurde. Wem das heute alles spinnert erscheint, muss sich nur mal vorstellen, wie sich das damals verhalten hat in den politischen Auseinandersetezungen. Wer in der DDR etwa einen stinknormalen (na ja: staatskapitalistischen) Staat sah, mag wenig Grund empfunden haben, diesen gegen imperialistische Aggressionen zu verteidigen (Maoisten entwickelten sogar die Theorie des Sozialimperialismus und ein Teil von ihnen stand eher auf Seiten der NATO); wer aber in der DDR eine schicke sozialistische Gesellschaft sah (die DKP zum Beispiel) hatte für Kritik an der SED, an der Bürokratie wenig Verständnis – und wenig auch übrig für oppositionelle Bewegungen. Das Konzept des „degenerierten Arbeiterstaats“ mag selbst recht verknöchert gewesen sein – richtiger als Staatskapitalismustheorien und Lobhudeleien auf die Diktatur scheint es mir dennoch gewesen zu sein. Alles egal heute? Ich glaube, eine Linke, die die Hoffnung auf eine nachkapitalistische Gesellschaft noch nicht aufgegeben hat, darf sich solche Haltungen nicht erlauben. Im Gegenteil – nur eine kritische Aneignung dieser Debatten vermittelt uns ein nötiges intellektuelles Rüstzeug für einen neuen Anlauf.

Dementsprechend sind auch heute noch Mandels Texte zur „Übergangsgesellschaft“ von unzeitgemäßer Aktualität. Wir wissen, dass sozialistische Transformationen nicht direkt in Sozialismen münden, schon gar nicht in einem Lande. Wenn dem aber so ist, dann müssen wir uns schon heute mit Fragen der Übergangswirtschaft beschäftigen oder damit, wie und wie nicht Klassenkämpfe in diese Phase geführt werden müssen. Gerade dann, wenn wir nicht als IdeotInnen der Geschichte wiedererleben wollen, was Generationen vor uns passierte: der Umschlag von Befreiungsbewegungen in Herrschaft über die, die zu befreien sich begonnen haben.

Zum Weiterlesen

Wer sich auführlicher mit Mandel beschäftigen möchte, sei die Dissertation von Manuel Kellner ans Herz gelegt, die im ISP-Verlag erschienen ist. Eine (nicht sonderlich kritische, aber dennoch sehr produktive) Würdigung Mandels findet sich im von Gilbert Achcar herausgegebenen Band „Gerechtigkeit und Solidarität“, in dem neben Achcar etwa Enzo Traverso oder Charles Post schreiben. Sehr lesenswert ist die tatsächlich kritische Biografie von Stutje, die im VSA-Verlag auf Deutsch erschienen ist. Wer es filmisch mag, sei „Die reine Flamme der Revolution“ und „A life of a revolutionary“ ans Herz gelegt, beide bei Youtube anzusehen.

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