Der Fall Afghanistans: Imperiales Debakel

Foto: Dennis Skley, Zukunftsträume 140/365, CC BY-ND 2.0

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Geschichte

Der Fall Afghanistans: Imperiales Debakel

Von David Finkel für das Nationale Komitee von Solidarity | 24.08.2021

Die USA verfolgen seit 1979 in Afghanistan militärische Ziele. Zuerst wollten sie die Sowjetunion schwächen, dann verbündete Regime in der ganzen Region installieren. Doch jetzt sind die Taliban an der Macht und brauchen Verbündete, um ihre Herrschaft zu festigen.

Die blitzartige Eroberung Afghanistans durch die Taliban-Offensive ist der Höhepunkt eines wahrhaft parteiübergreifenden imperialen US-Debakels, das in mehr als 40 (nicht nur 20) Jahren entstanden ist.

Der Rückzug des US-Militärs ist ein Thema, bei dem Trump und Biden auf dem gleichen Weg waren. Das hindert die Republikaner (und einige Demokraten) natürlich nicht daran, Biden für die chaotischen Umstände des Rückzugs zu verurteilen. Wie der endlose leere Lärm über „Bengasi“ (wer erinnert sich noch?) wird das Gerede noch einige Zeit anhalten, ist aber nicht besonders bedeutsam.

Wichtiger ist es, die Geschichte hinter den Ereignissen zu verstehen, die wir kurz skizzieren.

1. 1979 begann Präsident Jimmy Carter, beraten von dem Falken Zbigniew Brzezinski, heimlich islamistischen Mudschaheddin-Kämpfern gegen eine linke afghanische Regierung zu helfen, die versuchten, das Land mit Unterstützung der Sowjetunion zu modernisieren. Dies war nur vier Jahre nach der endgültigen Niederlage der USA in Vietnam.

2. Als das Sowjetregime im Dezember 1979 in Afghanistan einmarschierte, um seine Verbündeten zu retten, reagierte Carter mit dem Boykott der Olympischen Spiele 1980 in Moskau und eskalierte die verdeckten Operationen der CIA zur Unterstützung der Mudschahedin-Fundamentalisten.

3. In den 1980er Jahren führten die USA und die Sowjetunion einen blutigen Stellvertreterkrieg zwischen afghanischen Kräften, an dem auch die „strategischen Verbündeten“ der USA Saudi-Arabien und Pakistan stark beteiligt waren. Zu diesem Zeitpunkt begann die Regierung Ronald Reagan, Osama bin Laden in Afghanistan (sowie gleichzeitig auch Saddam Hussein im Irak) zu unterstützen. All dies hatte die Unterstützung beider Parteien, Republikaner und Demokraten. Reagans Präsidentschaft, die heute als eine Art goldenes Zeitalter verklärt wird, war auch die Ära der von den USA unterstützten völkermörderischen, konterrevolutionären Kriege in Mittelamerika.

4. Mit dem sowjetischen Rückzug aus Afghanistan 1989 und der Auflösung der UdSSR 1991 verlagerte sich die Aufmerksamkeit der USA unter George H. W. Bush von Afghanistan auf den ersten Golfkrieg gegen den Irak. Ohne sowjetische Unterstützung wurde die afghanische Regierung 1992 gestürzt und ihr Präsident Najibullah brutal gelyncht; die Folge waren ein Machtvakuum und ein blutiger Bürgerkrieg unter den afghanischen Warlords. Dies dauerte bis 1996, als eine neue islamistische fundamentalistische Kraft, die Taliban, die vom pakistanischen Militär und Geheimdienst und von Saudi-Arabien unterstützt wurde, die Macht übernahm.

5. Die Taliban-Herrschaft von 1996-2001 war geprägt von berüchtigten Gräueltaten und insbesondere der abscheulichen Unterwerfung von Frauen, ganz zu schweigen von der mutwilligen Zerstörung „nicht-islamischer“ Kulturschätze. Aber als Osama bin Ladens Organisation al-Qaida mit Sitz in Afghanistan die Terroranschläge vom 11. September 2001 verübte, billigte der US-Kongress fast einstimmig – mit dem mutigen Widerspruch allein der Abgeordneten Barbara Lee – die Invasion von Präsident George W. Bush in Afghanistan, die bis August 2021 dauerte.

6. Der Krieg in Afghanistan war einer, in dem die Vereinigten Staaten niemals eine Schlacht verlieren würden – aber den Krieg nie gewinnen konnten. Geld, das für die Entwicklung ins Land floss, wurde oft in die Taschen außerordentlich korrupter Eliten umgeleitet, ganz zu schweigen von riesigen Profiten für US-amerikanische Vertragspartner. Genau wie im Vietnamkrieg versteckte die US-Militärführung konsequent die Wahrheit hinter den Fassaden der „Befreiung afghanischer Frauen“ und des „Aufbaus einer effektiven nationalen afghanischen Armee“, die größtenteils aus Geistersoldaten bestand.

7. Unterdessen sahen die neokonservativen Ideologen, die die Regierung G.W. Bush dominierten, Afghanistan fatalerweise nur als den Anfang – den Ausgangspunkt für umfassende Regimewechsel-Kriege im Irak, im Iran und in Syrien, um „den Nahen Osten zu transformieren“. Wir wissen, wie sich das alles entwickelt hat.

8. Unter Präsident Obama gelang es den USA, Osama bin Laden in seinem pakistanischen Versteck zu töten. Doch der Krieg in Afghanistan ging weiter, einschließlich einer US-Truppenverstärkung, die kaum mehr bewirkte als frühere Bemühungen, da die Taliban immer ihren sicheren Rückzugsort in Pakistan hatten. Das Gemetzel an Zivilisten eskalierte mit US-Drohnenangriffen, Operationen des US-amerikanischen und afghanischen Militärs und immer gewalttätigeren Taliban-Angriffen. (Wie der heldenhafte inhaftierte Whistleblower Daniel Hale enthüllte, waren 90 Prozent der Opfer von Drohnenangriffen nicht die beabsichtigten Ziele.)

9. Der politische Aufstieg von Donald Trump wurde teilweise durch die Abscheu der US-Öffentlichkeit über den endlosen Krieg und sein Versprechen, ihn zu beenden, gefördert. In seiner üblichen impulsiven opportunistischen Manier entsandte Trump US-Unterhändler*innen, um mit den Taliban ohne Beteiligung der afghanischen Regierung ein Abkommen über einen US-Militärabzug bis Mai 2021 und die Freilassung von 5000 Taliban-Kämpfern in afghanischen Gefängnissen auszuhandeln – im Austausch für Taliban-Versprechungen, die natürlich nicht eingehalten werden würden, außer dem, die meisten direkten Angriffe auf US-Truppen zu unterlassen.

10. Biden erbte diese Realität und hatte auch selbst versprochen auszusteigen. Es gab jedoch offenbar ein ziemlich spektakuläres „Geheimdienstversagen“, bei dem unsere hochbezahlten strategischen Genies eine elementare Tatsache übersahen: Sobald die afghanische Regierung durch das Trump-Taliban-Abkommen zur Bedeutungslosigkeit reduziert war, begannen afghanische Regional- und Stammesführer selbstverständlich, ihre eigenen Abkommen mit den Taliban zu schließen. Natürlich gab es nur begrenzten Widerstand, als sie durch das Land fegten.

11. Die Machtübernahme durch die Taliban ist für den Großteil der Bevölkerung wirklich katastrophal. Einer der wenigen Silberstreifen am Horizont ist, dass es in Kabul keine Straßenkämpfe gab, die schreckliche zivile Opfer und später mörderische Repressalien zur Folge gehabt hätten.

12. Dies ist natürlich nur ein sehr kurzer Überblick, wie Supermachtkonflikte und dann die Hybris „der einzigen verbleibenden globalen Supermacht“ einem Land so viel Schaden zugefügt haben, ganz zu schweigen von so vielen anderen Orten. Was also lief falsch? Kurz gesagt, alles. Und die Geschichte ist noch nicht zu Ende.

Wenn sich die Kontrolle der Taliban konsolidiert, hängt das, was als nächstes passieren könnte, von mehreren unbekannten Variablen ab, darunter:

  • Wie wichtig der Taliban-Führung internationale Legitimität, Anerkennung und Entwicklungshilfe sind, wenn sie ein zersplittertes Land regieren.
  • Was den Taliban ihre Unterstützer im pakistanischen Militär und Geheimdienst raten.
  • Die Beziehungen der Taliban-Führung zu den lokalen und regionalen Führern, mit denen sie offensichtlich vor ihrer letzten Offensive Vereinbarungen getroffen hat.
  • Wie umfassend die Taliban-Führer ihre eigenen Kommandeure und Kämpfer auf dem Land kontrollieren.

Die Taliban werden nicht nach ihren Versprechen, sondern nach ihren Taten beurteilt werden. Natürlich auch die Vereinigten Staaten und die anderen imperialen Mächte, die zu diesem Debakel beigetragen haben. Im Moment ist unabhängig von sogenannten „strategischen“ Überlegungen die Evakuierung der afghanischen Dolmetscher und einfachen Leute, die mit der Besatzung gearbeitet haben, ein absolutes moralisch-humanitäres Gebot. Dass dies bisher dank absurder bürokratischer Prozesse nicht gelungen ist, ist beschämend.

Für die Zukunft stellt sich die vorrangige Frage, ob der US-Imperialismus – nach Vietnam, Irak, Afghanistan und anderen von ihm verursachten Katastrophen – aus den vielen blutigen Fehlschlägen etwas gelernt hat. Es gibt wenig Grund, dies von unseren politischen Eliten zu erwarten, zumal viele von ihnen ihren flotten Lebensunterhalt mit dem militärisch-politisch-ideologischen Komplex bestreiten. Die Änderung der Begriffe der „außenpolitischen“ Debatte und der Anbetung militärischer Macht liegt in der Verantwortung einer breiten Friedens- und antiimperialistischen Bewegung, die bei uns aufgebaut werden muss.

17. August 2021

Solidarity ist eine sozialistische, antirassistische, feministische Organisation in den USA

Übersetzung: Björn Mertens

Quelle: https://solidarity-us.org/afghanistan_imperial_disaster/

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