„Die Neurose begnügt sich in der Regel damit, das betreffende Stück der Realität zu vermeiden und sich gegen das Zusammentreffen mit ihm zu schützen. Der scharfe Unterschied zwischen Neurose und Psychose wird […] dadurch abgeschwächt, daß es auch bei der Neurose an Versuchen nicht fehlt, die unerwünschte Realität durch eine wunschgerechtere zu ersetzen.“ (Freud, 1924, S. 367)[1]
In allen als „demokratisch“ bezeichneten Staaten – es werden derzeit weltweit immer weniger – figurieren die „demokratischen“ Strukturen nur als eine Insel inmitten vordemokratischer Wirtschafts- und Lebensverhältnisse, eine Insel, die jederzeit in Gefahr steht, von dem vordemokratischen Meer, aus dem sie aufgetaucht ist, wieder verschlungen zu werden, sich also in ein mehr oder weniger „autoritäres“ Regime zu verwandeln.
Auf dem abschüssigen Weg dorthin geben die Parteien und Regierungen, die Mangel und Ungleichheit samt dem gärenden faschistischen Untergrund nur verwalten, den Status quo (von dem sie selbst leben) als „alternativlos“ aus. Tatsächlich beruht der Erfolg der sogenannten „populistischen“ Demagogen und Parteien und die Faszination, die von faschistischen, „evangelikalen“ oder „islamistischen“ Sekten ausgeht, darauf, dass die Entwicklung der höchstentwickelten Gesellschaften in steigendem Maße auf „Eindimensionalität“ (Herbert Marcuse[2]) hinausläuft.
Wo plausible Alternativen zum Status quo und zu der von ihm determinierten Entwicklung nicht mehr gedacht, geschweige denn in die öffentliche Diskussion und in Wahlkämpfe eingeführt werden können, füllen skrupellose Demagogen das Vakuum mit globalen Pseudoerklärungen und phantastischen, gewaltträchtigen Heilsversprechen.
Pathisches Vergessen (1945-2024)
Gegen Kriegsende (1945) wurde deutlich, dass der Frontverlauf zwischen sowjetischen auf der einen und amerikanisch-englisch-französischen Truppen auf der anderen Seite zu einer Grenze zwischen bürokratischer Planwirtschaft und kapitalistischer, kreditgesteuerter Wiederaufbau-Gesellschaft werden würde. Die nach dem Krieg in West-Deutschland seitens der westalliierten Besatzungsmächte begonnene Entnazifizierung und „Reeducation“ war ein halbherziger Versuch, die Bevölkerung ihrer jeweiligen „Zone“ demokratisch umzuerziehen, ohne die vordemokratische Verfassung der Wirtschaft (also die private Verfügung über gesellschaftliche Produktionsmittel) einzuschränken.[3]
Der sowjetischen Zone wurde das Modell einer bürokratischen Planwirtschaft oktroyiert. In beiden Fällen blieb (im Zeichen des „Kalten Krieges“) die innere Opposition verpönt, während die generationenlang eingeübte „autoritäre“ Mentalität einem besinnungslosen Wiederaufbau nutzbar gemacht wurde.
Die Bevölkerungsmehrheit, die unter Nazi-Regie zu einer Raub- und Mordgemeinschaft geworden war, flüchtete sich, nachdem sich infolge des Kriegsverlaufs das Projekt, ein Herrenmenschen-Deutschland zwischen Atlantik und Ural zu erobern, als Illusion erwiesen hatte, angstgetrieben in ein kollektives Nicht-wahr-haben-Wollen der Ära des „Dritten Reichs“. Verleugnet wurden nicht nur die Massenverbrechen des Regimes vor und während des von Hitler und seinen Paladinen initiierten Zweiten Weltkriegs, sondern auch die enthusiastische Zustimmung zur und die aktive Beteiligung der Bevölkerungsmehrheit bei der Realisierung der faschistischen Innen- und Außenpolitik.
In der vermeintlichen „Stunde Null“ wurden 1945 auch zwölf Jahre der Lebensgeschichten entwertet, umgedichtet oder „annulliert“.[4] Zur Vorgeschichte dieses lebenspraktischen deutschen Kraftakts gehörten zweifellos die nationalistisch „entschiedenen“ Debatten um „Kriegsschuld“ und „Dolchstoß“(-Legende), das Schweigen über die Weltkriegs-Gefallenen und über die Opfer von Gegenrevolution und Klassenjustiz während der Weimarer Republik.
Doch der „traumatische“ Regimewechsel von 1945 löste eine weitaus tiefgreifendere „Erinnerungsstörung“ aus, nämlich nicht nur eine Revision, sondern den Versuch einer Löschung des individuellen und kollektiven Gedächtnisses.[5] Natürlich sind solche Löschungsversuche letztlich zum Scheitern verurteilt.[6]
Der Freud‘schen Theorie zufolge werden im Fall der (angstbedingten) Verdrängung „Sachvorstellungen“ von den mit ihnen verknüpften „Wortvorstellungen“ getrennt (vermöge deren sie überhaupt erst zu Bewusstsein kommen). Die energetisch-affektive „Besetzung“ einer verpönten Vorstellung wird zu „Gegenbesetzungen“ verwendet oder auf weniger riskante Objekt-Repräsentanzen verschoben. Der „Auftrieb“ des Verdrängten, das drohende Misslingen seiner Exkommunikation erfordert jedoch mit der Zeit immer aufwändigere Gegenbesetzungen. Darum macht Verdrängung, eine Fluchtbewegung um des Überlebens willen, am Ende Individuen und Kollektive lebensunfähig. Zunächst aber wird der Versuch, der eigenen Schreckens-Geschichte zu entkommen, indem man sie ignoriert, dem Arsenal der „Gefühlserbschaften“[7] einverleibt und nachfolgenden Generationen vermacht, und so lastet „die Tradition“ auch dieses – wie aller anderen „toten Geschlechter“ – „wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden“ (Marx[8]).
Die Nazi-Führer und -Ideologen waren nicht nur fanatisch entschlossen, den Wahn von der Überlegenheit ihrer „Rasse“ durch die Vernichtung von vielen Millionen Menschen – die sie für „minderwertig“ erklärten und deren Lebensraum sie für „ihresgleichen“ beanspruchten – durch ihre Untaten zu beglaubigen, sondern zugleich darauf bedacht, die Spuren ihrer Massenverbrechen (und mit diesen Spuren die Erinnerung an ihre Untaten) zu tilgen.
Sowohl das „Euthanasie“-Programm (der Ermordung von etwa 70.000 behinderten und kranken Menschen) seit Herbst 1939, die „Aktion T4“, als auch das Folge-Projekt der Ermordung der europäischen Juden wurden als „Geheime Reichssache“ deklariert. Die berüchtigte „Wannseekonferenz“, die der Organisation der sogenannten „Endlösung der Judenfrage“ galt (die seit 1979 als „Holocaust“ umschrieben wird), fand im Januar 1942 statt – ein halbes Jahr nach dem Überfall der NS-Wehrmacht auf die Sowjetunion, der mit Massen-Erschießungen und -Vergasungen von Juden, Kommissaren, Partisanen und Kriegsgefangenen einherging. Zur gleichen Zeit begann auch die Planung für die SS-„Sonderaktion 1005“, deren Aufgabe es war (unter Leitung des Organisators des Massakers von Babyn Jar, Paul Blobel), in den Jahren 1942-44 viele Hunderttausend Leichen in den Massengräbern der Erschießungsstätten und Vernichtungslager (vor allem in der Ukraine und in Polen) zu exhumieren und zu verbrennen.[9] Im Frühjahr 1945 tat es ihnen dann die Bevölkerung, die lange Zeit auf den „Endsieg“ gehofft hatte, nach: In Millionen Haushalten gingen nationalsozialistische Literatur und Hakenkreuzfahnen, persönliche Dokumente und Propaganda-Schallplatten, Foto-Alben und Filme, Uniformen und Hitlerbilder in Flammen auf, Orden und Parteiabzeichen wurden vergraben (oder in Puppenköpfe eingenäht). In Stadt und Land gab es kaum mehr jüdische Überlebende, doch von den achteinhalb Millionen Parteimitgliedern wollte keiner dafür verantwortlich sein oder etwas von ihrem Schicksal gewusst haben. Als die ersten Panzer, die ersten Jeeps der Alliierten durch die Straßen fuhren, hob plötzlich keiner mehr, wie in den zwölf Jahren zuvor, seinen Arm zum Hitlergruß …
Realitätsverlust war die Folge dieser kollektiven Flucht ins Vergessen, und nicht einmal die anti-autoritäre Studenten- und Schüler-Protestbewegung von 1968 vermochte es, das gestörte Verhältnis der Mehrheit zur deutschen Vergangenheit nachhaltig zu korrigieren. Sind Abwehrmechanismen wie die angstvolle „Verleugnung“ einmal habitualisiert [zur Gewohnheit geworden], überdauern sie so manchen Generations- und Regimewechsel, nicht nur die kurzen, sondern auch die „langen Wellen“ der Konjunktur.
In der Folge wurde von Vielen alles vermieden, was an die „dunklen“ zwölf Jahre erinnerte; und das wird immer mehr, seit nicht nur Vergangenheits-Historiker (die es ausgraben), sondern auch Vergangenheits-Wiederholer, völkische Ideologen und Mordgesellen, die es darstellen, auf den Plan treten (wie die drei Leute vom „nationalsozialistischen Untergrund“, die vor zwanzig Jahren „Alis“ umbrachten, oder der Synagogen- und Dönerbuden-Attentäter Balliet 2019 in Halle). Gewohnheitsmäßiges Vergessen beschränkt nicht nur das Welt- und Gesellschaftsverständnis, sondern ruiniert auch das affektive Reaktionsvermögen: Es wird disproportional oder versagt auch gänzlich … So schweigen die Affekte hinsichtlich der Gefahr, die von Atommeilern und Atomwaffen droht[10], geraten aber in Aufruhr, wenn es um Covid-Schutzimpfungen geht; einzelne Attentate faschistischer Attentäter (in Halle oder Hanau …) werden stets wieder „unfassbar“ genannt, auf diese Weise isoliert und dann rasch vergessen; dass sie eine lange Reihe bilden, also eine „Tendenz“ indizieren, entzieht sich der Wahrnehmung.[11]
Die arglos Vergesslichen im Theater der Gegenwart sind außerstande, die anders Vergesslichen auf der politischen Bühne, die ihnen als zwanghafte Wiederholer Furcht und Elend des „Dritten Reiches“ noch einmal vorspielen (und sie zum Mitspielen bei einem neuerlichen großen Totentanz auffordern), als das zu erkennen, was sie sind: Wiedergänger, Reinkarnationen der Propagandisten und Schläger von vor hundert Jahren. Zu den ahnungslosen Wiedergängern gehören auch jene 16 Prozent der jugendlichen Erstwähler, die jüngst das Verhalten ihrer Urgroß-Eltern in der Endzeit der ersten Republik kopierten. Die wussten damals nicht, was sie taten, als sie für die NSDAP stimmten, in der Hoffnung, Hitler könne ihnen einen Weg aus dem Labyrinth der Krise weisen; doch führte sie dieser Weg geradewegs nach Auschwitz und Stalingrad.
Eine neue, totalitäre Partei
1945 kam es im besetzten Deutschland zu einer umfänglichen De-Realisierung[12] der Wirklichkeit des „Dritten Reiches“ – eingeschlossen zwölf Jahre des je eigenen Lebens. Was die ungeheuerlichen Untaten im Gefolge der „Nationalen Erhebung“ von 1933 anging, wollte es keiner gewesen sein, und so gab es plötzlich auch keine Nazis mehr. Seither treten sie maskiert auf, eben als „Nicht-Nazis“ … Und so waren die schweigende Mehrheit und ihr Staat bisher denn auch außerstande, sie zu bekämpfen. Das galt und gilt für die immer wiederkehrenden Versuche, NS-Nachfolgeorganisationen zu gründen; und es galt für die 90er Jahre, in denen zwar die wieder vereinten West- und Ostdeutschen einander zu tolerieren lernten, ihr Hass sich aber gegen die „Anderen“, Flüchtlinge und Migranten, richtete und mehr als 100 ungesühnte Morde forderte. Selbst als die „Zwickauer Zelle“ des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ in den Jahren 2000 bis 2006 Polizei und Publikum mit ihrer – gegen „Alis“ gerichteten – Mordserie ein Stück NS-Alltag für sie nachspielte, sträubten sich Polizei und Bevölkerung so lange wie möglich gegen das Wieder-Erkennen des alten, in den Hitler-Jahren alltäglichen Schreckens in dieser öffentlichen Re-Inszenierung.[13]
Und so sind wir im Jahr 2024 in Deutschland mit einer veritablen Faschisten-Organisation konfrontiert, die 35.000 Mitglieder zählt und für die bis zu einem Fünftel der Wahlberechtigten stimmt. Ein Jahrzehnt nach ihrer Gründung ist sie zur zweitstärksten Partei geworden, obwohl zu ihren erklärten Zielen die Abschaffung des parlamentarischen Systems und eine „Homogenisierung“ der Bevölkerung mit Hilfe von Massen-Deportationen gehören.
Zur Maskerade dieser „Extrem Rechten“ gehört, dass sie längst auch Forderungen der in die Defensive gedrängten „Linken“ übernommen haben, also gegen (nicht näher spezifizierte) „Eliten“, gegen die etablierten Parteien, gegen die USA und für direkte Demokratie agitieren. Um die Verwirrung komplett zu machen, verschieben sie ihren Antisemitismus auf die Muslime und spielen sich als wahre Freunde Israels (und seiner Regierungen) auf, und wie einst Hitler mit Stalin paktierte und später die kremltreue Linke Stalin huldigte, so liebäugelt die heutige Rechte mit dem Stalinisten im Kreml.
Die angeblich „wehrhafte“ Demokratie übt sich der AfD gegenüber in repressiver Toleranz, finanziert die Nazi-Partei wie alle anderen und traut sich nicht, sie zu verbieten. Statt den Brand zu bekämpfen, treten die deutsche Mehrheitspartei CDU/CSU und die „Liberalen“ als „Brandmauer“ auf und bereiten sich im Stillen „realpolitisch“, also um des „Macht“-Erhalts willen, auf künftige Mitte-Rechts-Koalitionen vor.
Seit 100 Jahren figurieren die parlamentarisch-kapitalistischen Demokratien als Antithesen zum „Totalitarismus“. Zwei dieser „totalitären“ Bewegungen und Regime, die zeitweilig mit einander paktierten und einander schließlich im Zweiten Weltkrieg ruinierten, sind längst zu verpönten (und darum gern auch imitierten) Modellen geworden. Sie erfüllten konträre politisch-ökonomische Funktionen: Sollte der Faschismus Privateigentum und Nationalstaat vor der Arbeiterbewegung „retten“, so ging es dem Stalinismus um die Verteidigung der revolutionär verstaatlichten Produktionsmittel und um die bürokratische Kontrolle über Wirtschaft und Gesellschaft (Arbeiter, Bauern und Intelligenzija).
Beide Regime standen im Dienst utopischer Projekte – des Aufbaus des „Sozialismus“ in einem zwar riesigen, aber unterentwickelten Land (oder Block) beziehungsweise der Eroberung Europas (und seiner Kolonien) durch eine deutsche Herrenmenschen-„Volksgemeinschaft“. Beide Regime entwickelten – mit GPU und Gestapo – ungeheure Repressionsapparate, die einander auf fatale Weise glichen.[14] Die entscheidende Analogie der beiden „klassischen“ Totalitarismen war jedoch der – Führung und Gefolgschaft gemeinsame – Wahn, ihr (utopisches) Ziel sei (nur) erreichbar, wenn jenes Zehntel oder Fünftel der Bevölkerung ihres Herrschaftsgebiets, das ihnen als ungeeignet oder als „Saboteur“ des erwünschten Fortschritts galt, interniert, deportiert oder umgebracht würde.
Für ein antikapitalistisches Aktionsprogramm
In Deutschland müsste das Drehbuch des Aufstiegs einer faschistischen Partei – mit Unterstützung durch Finanz- und Industriekapitalisten und mit Rückendeckung der Armee –, sowie dasjenige des Ausbaus ihrer Terrorherrschaft wohlbekannt sein; es wird aber angestrengt vergessen. Interessenten sprechen sich dezidiert dagegen aus, aus dieser fatalen Geschichte Lehren für die Gegenwart zu ziehen. Die Faschisten aber tun eben das – freilich auf ihre Weise. Sie wissen, dass ihre Stunde kommt, wenn die Instanzen und Verteidiger der parlamentarischen Demokratie bei der Krisenbewältigung versagen. Und da es das Geschäft der Christ- und Sozialdemokraten ist, Krisen zu verwalten, nicht aber deren Ursachen zu bekämpfen (was nur mit Hilfe antikapitalistischer Reformen möglich wäre), bieten Faschisten sich als Krisen-Bewältiger an, die ein autoritäres Regime an die Stelle des parlamentarischen setzen wollen und den – nach Austreibung von vielen Millionen „Fremden“ – verbleibenden Deutschen (mit ethnisch einwandfreier Abkunft) Sicherheit und Wohlstand versprechen.
Die wenigen demokratischen Republiken sind international nur zu retten, wenn die sie verteidigenden Kräfte ein radikales Reformprogramm entwickeln, das für die Mehrheit verständlich ist und sie so weit überzeugt, dass sie aus ihrer Apathie ausbricht, nicht länger klagt, dass niemand sie (er)hört, sondern selbst politisch aktiv wird, um die Realisierung von einem Jeden einleuchtenden, längst überfälligen Reformen in absehbarer Zeit politisch durchzusetzen.
Ein plausibles, alternatives Programm notwendiger gesellschaftlicher Reformen muss den Bogen schlagen von der Armutsbekämpfung zum Recht auf Arbeit, von der Vier-Tage-Woche zur gleitenden Lohnskala (zwecks Sicherung eines akzeptablen Lebensstandards) und weiter zum Recht auf öffentlich finanziertes Wohnen, Gesundheitswesen und Bildung für alle. Dieses Programm richtet sich gegen die private Aneignung des gesellschaftlichen Reichtums, also gegen die Quelle aller politischen Macht (und deren Sicherung durch Korruption), es setzt die Fixierung von Vermögens- und Einkommensgrenzen voraus. Denn 2024 gilt wie 1924: Gelingt es nicht, die parlamentarische zu einer Wirtschaftsdemokratie zu erweitern und der stets nur verwalteten und „repräsentierten“ Bevölkerung einen Weg zur Selbstverwaltung zu öffnen, dann werden die (neuen) Faschisten die »Abgehängten«, »Zurückgesetzten«, »Verunsicherten« und »Beleidigten« abermals zu einer Gefolgschaft bündeln, die Demokratie und Menschenrechten alsbald den Garaus macht.
Wien, 21.06./26.10.2024
[1] Freud, Sigmund (1924), „Der Realitätsverlust bei Neurose und Psychose“, Gesammelte Werke (GW), Band XIII, Frankfurt (Fischer) 1963, S. 367.
[2] Marcuse, Herbert (1964), Der eindimensionale Mensch, Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industriegesellschaft, [One-Dimensional Man], Neuwied (Luchterhand) 1967.
[3] Die westlichen Besatzungsmächte verhängten zwar Produktionsbeschränkungen (Stahl, Leichtmetalle, Werkzeuge …), demontierten zahlreiche Betriebe und übernahmen deutsche Patente, blockierten aber (unter anderem in Hessen und Nordrhein-Westfalen) alle Initiativen zur Vergesellschaftung von Schlüsselindustrien, auch wenn die entsprechenden Verfassungsartikel und Ausführungsgesetze bereits durch Volksabstimmungen legitimiert worden waren.
[4] Sigmund Freud hat uns (in einem an Romain Rolland adressierten Brief) ein – in diesem Zusammenhang aufschlussreiches – Stück seiner Selbstanalyse hinterlassen, in dem er eine „Erinnerungsstörung auf der Akropolis“, nämlich ein „Entfremdungsgefühl“, aufzuklären suchte. Es handele sich dabei um eine Fehlleistung, „von abnormem Aufbau wie die Träume […]. Man beobachtet sie in zweierlei Formen; entweder erscheint uns ein Stück der Realität als fremd oder ein Stück des eigenen Ichs. In letzterem Fall spricht man von ,Depersonalisation‘; Entfremdungen und Depersonalisationen gehören innig zusammen.“ Freud, Sigmund (1936), „Brief an Romain Rolland“, GW, Band XVI, Frankfurt (Fischer) 1961, S. 254 f.
[5] In der „Stunde Null“ gab es – von überlebenden Widerständlern und KZ-Häftlingen abgesehen – in Deutschland eine klare Mehrheit von „Holocaust-Leugnern“…
[6] „Die stärkste Unterdrückung muß Raum lassen für entstellte Ersatzregungen und aus ihnen folgende Reaktionen.“ Freud, Sigmund (1912/13), Totem und Tabu, GW, Band IX, Frankfurt (Fischer) 1961, S. 191.
[7] Freud, a. a. O.
[8] Marx, Karl (1852), Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, Marx-Engels-Werke (MEW), Band 8, Berlin (Dietz) 1960, S. 115.
[9] Die heutige Generation lebt, ohne sich dessen bewusst zu sein, in Europa auf einem ungeheuren Schindanger. Und der Kampf um Vergessen oder Exhumieren ist weder in Spanien noch in Russland
entschieden. Vgl. dazu meinen Artikel „Leben im Zeitalter der Massaker“ (2005) in: Divergenzen, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2009, S. 172-189.
[10] Vgl. dazu Hennigan, W. J. (2024), „The human toll of nuclear tests“, The New York Times, International vom 27. 6. 2024, S. 8 und 10.
[11] Vgl. dazu meine Broschüre Antisemitismus, Xenophobie und pathisches Vergessen, Münster (Westfälisches Dampfboot) 2020. – Der Hamas-Überfall vom 7. Oktober 2023 auf ein israelisches Musikfestival und auf einen Kibbuz, bei dem 1.139 Menschen umgebracht und 239 verschleppt wurden, löste in Deutschland – unter dem Schatten des „Holocaust“ – bei Vielen Mitleids- und Ohnmachtsgefühle aus, die umso heftiger waren, je weniger die von ihren Gefühlen Überwältigten vom historischen „Kontext“ dieses Massakers wussten. In der Folge blockierte dieser Affekt dann auch ihr Reaktionsvermögen, als sie mit dem nachfolgenden Vergeltungs-„Krieg“ der israelischen Armee im Gaza-Streifen konfrontiert wurden, der bislang – nach Angaben des Hamas-Gesundheitsministeriums – etwa 42.000 Opfer gekostet hat.
[12] Dahmer, H. (1990), „Derealisierung und Wiederholung“, in: Dahmer (2009), Divergenzen; Münster (Westfälisches Dampfboot) 1990, S. 37-45.
[13] Das zu lebenslanger Haft verurteilte Mitglied der sogenannten „Zwickauer Zelle“ des „NSU“, Beate Zschäpe, hat 2023 gegenüber BKA-Beamten „Angaben zum Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter im April 2007 in Heilbronn“ gemacht: Ihr Kumpan Böhnhardt habe ihr erzählt, „dass er am Tatort die Buchstaben ,NSU‘ an einer Wand hinterlassen habe. Tatsächlich fand sich an der Mauer, vor der Kiesewetters Streifenwagen geparkt war, ein solcher Schriftzug. Bei den damaligen Ermittlungen erkannte jedoch niemand seine Bedeutung.“ Der Spiegel, 8. 6. 2024, S. 18 („Doppelleben in der Schweiz?“); von mir unterstrichen (H. D.).
[14] Die erfolgreiche Liquidierung jeglicher Opposition und die Straflosigkeit der Täter verlieh den beiden „totalitären“ Herrschaftssystemen die Bedeutung von international vielfach imitierten Modellen. Eine der Folgen totalitärer Herrschaft ist die intergenerationell wirksame Lähmung der Spontaneität der Bevölkerung.