Das muss passieren zur LGBTIQ-Befreiung

LGBTQ-Symbole

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Diskussionsbeitrag der IV. Internationale

Das muss passieren zur LGBTIQ-Befreiung

01.04.2021

Der Sozialismus ist nur denkbar, wenn sich dort auch die LGBTIQ-Personen frei entfalten können. Mit sieben Thesen will die Vierte Internationale zur Diskussion anregen, wie das praktisch aussehen könnte und was sich noch ändern muss.

2019 hat das Internationale Komitee der Vierten Internationale über einen „Vorschlag für eine programmatische Debatte“ diskutiert. Es beschloss daraufhin, die Diskussion über unsere Vorstellung von einer neuen Gesellschaft breit und offen zu führen. In diesem Zusammenhang beauftragte es drei seiner Kommissionen, die neben dem Organisieren von laufenden Aktivitäten in den sozialen Bewegungen unsere Überlegungen über den Charakter der Gesellschaft, die wir anstreben, ausarbeiten sollen. Diese drei Kommissionen, zu den Themen Ökologie, LGBTIQ-Fragen[i] und Frauenunterdrückung/Feminismus, schrieben jeweils einen knappen Beitrag, um die Diskussion zu entfalten. Wir veröffentlichen sie, um zu solch einer Diskussion anzuregen, die heute notwendiger ist denn je. Diese Beiträge wurden natürlich vor der Covid-19-Pandemie geschrieben.

Die Frage des Verhältnisses zwischen dem Kampf für die LGBTIQ-Befreiung und unserer Vision des Sozialismus wurde bis zu einem gewissen Grad in dem Dokument „Über die Befreiung von Lesben und Schwulen“ behandelt, das auf dem 15. Weltkongress der Vierten Internationale 2003 verabschiedet wurde, insbesondere im zweiten Abschnitt „Unsere Standpunkte“.

Die LGBTIQ-Kommission ging daher beim Verfassen dieser Thesen für das IK von diesem Text aus und versuchte auch, wichtige Erkenntnisse aus Peter Druckers Buch über schwule Normalität und queeren Antikapitalismus[ii] einzuarbeiten. Wir haben versucht, unsere Sprache inklusiver zu gestalten als im Text von 2003 und neue Punkte hinzuzufügen; wir hoffen, dass sie wichtige Diskussionen widerspiegeln, die wir und die Bewegung im Allgemeinen seither geführt haben.

Wir denken, dass dies eine wichtige, wenn auch nicht einfache, Diskussion ist. Besonders in diesen dunklen Zeiten ist es wichtig, das Prinzip Hoffnung zu bekräftigen.

These 1

Teil der Entwicklung und Erklärung unserer Vorstellung von der sozialistischen Gesellschaft, für die wir kämpfen, ist die Integration einer Vorstellung der LGBTIQ-Befreiung, wobei wir uns gegen unterdrückende, begrenzte Auffassungen von Männlichkeit, Weiblichkeit und Sexualität wenden ‒ und über die binäre Geschlechterordnung hinausgehen. Wir arbeiten auf eine Gesellschaft hin, in der Gender, das Geschlecht nicht länger eine zentrale Kategorie für die Organisation des gesellschaftlichen Lebens sein wird und in der die Konzepte von „Heterosexualität“ und „Homosexualität“, soweit sie existieren, keinerlei rechtlichen oder wirtschaftlichen Konsequenzen haben werden.

Für solch einen Übergang ist ein aktives Eintreten gegen Stereotypen erforderlich, die in der gesamten Gesellschaft verbreitet sind ‒ in den Familien, sozialen Gemeinschaften (insbesondere in vielen religiösen), Massenmedien und staatlichen Institutionen, insbesondere im Bildungssystem. Solches Engagement wird auch noch einige Zeit nach der sozialistischen Revolution anstehen.

Dazu gehört auch die Auseinandersetzung mit Stereotypen von rassifizierten Menschen, die oft auf abwertenden Bildern von Körpern und Sexualität rassifizierter Menschen beruhen ‒ oft zumindest in gewissem Maße auf der Grundlage, dass sie als „abweichend“ von dem angesehen werden, was als „zivilisierte“ Norm propagiert wird, sowie die Auslöschung des reichen Erbes gleichgeschlechtlicher Sexualität und von Herausforderungen an die Geschlechterbinarität in vielen vorimperialistischen und indigenen Kulturen.

Es bedeutet auch ein Infragestellen der Tatsache, dass behinderten Menschen oft das Recht verweigert wird, ein sexuelles Leben zu führen, oder dass sie lächerlich gemacht und diskriminiert werden, wenn sie das Recht darauf einfordern.

These 2

LGBTIQ-Befreiung ist Teil einer breiteren, menschlichen sexuellen Befreiung, für die wir kämpfen. Wir streben danach die menschliche Sexualität von dem zu befreien, was in der Resolution zur Frauenbefreiung von 1979 als „Rahmen von wirtschaftlichem Zwang, persönlicher Abhängigkeit und sexueller Unterdrückung“ bezeichnet wurde, in dem sie heute allzu oft gefangen ist. Sexuelle Aktivität, in die frei eingewilligt wird und die für alle Beteiligten angenehm ist, ist ihre eigene ausreichende Rechtfertigung.

Wir arbeiten auf eine Gesellschaft hin, in der unsere Körper, Bedürfnisse und Emotionen nicht länger Dinge sind, die man kaufen und verkaufen kann, in der das Spektrum der Wahlmöglichkeiten für alle Menschen ‒ als Frauen, Männer, sexuelle Wesen, junge Menschen, alte Menschen ‒ stark erweitert wird und in der die Menschen neue Wege entwickeln können, um sexuell miteinander in Beziehung zu treten, zu leben, zu arbeiten und gemeinsam Kinder aufzuziehen.

Wir wollen eine Welt, in der der Körper und die Sexualität von Menschen (vor allem von Frauen[iii]) nicht mehr als Besitz angesehen werden; in der Glück nicht mehr als abhängig vom „richtigen“ Partner verstanden wird; in der der Alltag erotisiert und sinnlich ist und nicht abgeschottet und auf ein Gebiet von sexualisierter Freizeit und Konsum beschränkt ist. Wir wollen eine Gesellschaft, in der alle Menschen (insbesondere Frauen) sexuelle Autonomie genießen und gleichzeitig Teil einer Gemeinschaft sind. Wir wollen eine Welt, in der Liebe als zutiefst sozial verstanden wird.

Wir, die durch die entfremdete Gesellschaft, in der wir leben, geprägt worden sind, können uns nicht vorstellen, wie sich die Sexualität in diesem Kontext entwickeln wird, und deshalb ist es wichtig, Vorhersagen unterlassen, die auf unseren eigenen individuellen Sehnsüchten basieren.

Der Kampf gegen jede Form von sexueller Gewalt, ob physisch und/oder psychisch, ist ein wesentlicher Teil dieser Bemühungen. Die explosionsartig anwachsenden Bewegungen wie #NiUnaMenos („Nicht Eine weniger“, Anm. d. Red.) und die stärkere Aufdeckung der unsäglichen sexuellen und anderen Formen von Gewalt gegen Kinder und Jugendliche nicht nur in der Familie, sondern auch in Institutionen ‒ oft religiösen ‒ können für solch eine Vision wichtige Verbündete sein. Gleichzeitig verbünden wir uns mit jenen Kräften, insbesondere junge Menschen, die für eine „sex-positive“[iv] Sichtweise kämpfen.

These 3

Vollständige LGBTIQ-Befreiung impliziert ein Absterben der kapitalistischen Familie als Institution und die Infragestellung der vom kapitalistischen Staat auferlegten heterosexuellen Norm. Die Vierte Internationale betrachtet vergesellschaftete Alternativen zu den Funktionen der Familie, die nur mit dem Sturz des Kapitalismus in vollem Umfang erreicht werden können, als Voraussetzungen für vollständige Gleichberechtigung und Freiheit für Frauen, LGBTIQ-Personen und Jugendliche.

These 4

Wir arbeiten darauf hin, vergesellschaftete Alternativen zu den verschiedenen Funktionen zu schaffen, die derzeit von der Familie erfüllt werden: verschiedene Formen kollektiver, gemeinschaftlicher Verantwortung für die Betreuung von Kindern und Pflegebedürftigen; eine Wirtschaft, die die Menschen nicht dazu zwingt, von ihren lokalen Gemeinschaften wegzuziehen; verschiedene Formen von Haushalten und Kooperation innerhalb lokaler Gemeinschaften; verschiedene Formen von Freundschaft, Solidarität und sexuellen Beziehungen.

Wir erkennen an, dass innerhalb dieses Gesamtplans Individuen und kleine Gruppen idealerweise so viel Wahlmöglichkeiten haben sollten, wie materiell möglich gemacht werden kann. So sollte z. B. die Bereitstellung von Gemeinschaftskantinen sowohl in Wohn- als auch in Arbeitsstätten nicht ausschließen, dass Einzelne sich ihr Frühstück selbst zubereiten und einnehmen oder das von ihnen zubereitete Essen mit einer kleinen Gruppe teilen. Ähnlich sollte eine qualitativ hochwertige gemeinschaftliche Kinderbetreuung in der Nachbarschaft frei verfügbar sein, es sollte aber auch möglich sein und geschätzt werden, Zeit in kleinen Gruppen, zu denen auch Kinder gehören, zu verbringen.

These 5

In den meisten Kulturen werden Sexualität und sexuelle Aktivität immer noch als Aspekte unseres Menschseins behandelt, die als gefährlich oder als „Eigentum“ nicht des Individuums, sondern der Gesellschaft gelten und die oft an männliche Familienmitglieder und/oder religiöse Institutionen delegiert werden. Doch die revolutionären Fortschritte in der Reproduktionstechnologie in den 1950er und 1960er Jahren trugen wesentlich zur Entstehung von Bestrebungen nach sexueller Befreiung bei und führten zu einer weiteren Trennung der Sexualität von der Reproduktion. In den 1950er und 1960er Jahren kam es unter Jugendlichen und Studierenden in den imperialistischen Ländern zu einer kulturellen Radikalisierung, die unter anderem die traditionelle Zuordnung der Gender in Frage zu stellen begann. Teil dieser neuen Herausforderungen an die traditionelle Kultur waren neue Herangehensweisen an Sex.

These 6

Die Kämpfe für Abtreibungsrechte und allgemein zugängliche Empfängnisverhütung sowie der Kampf für LGBTIQ-Rechte stellten die Gleichsetzung von hinnehmbarem Sex mit Reproduktion, Ehe und Familie in Frage. Neue Einschätzungen von Sex und Sexualität förderten eine Aufwertung von sexuellem Vergnügen im Allgemeinen, jedoch besonders für Frauen, die in vielen Kulturen nicht mit der Erwartung von sexuellem Vergnügen sozialisiert wurden. Als die Frauenbewegung Forderungen nach sexueller Gesundheit und Information für Frauen erhob, tat sie dies mit dem Grundgedanken, dass Frauen sexuelle Wesen sind und das Recht auf die sexuelle Lust und die Kontrolle über ihre sexuellen Beziehungen haben, wie Männer sie historisch genossen haben. Eine der Hauptbotschaften, die in diesem Kampf für die sexuelle Autonomie der Frauen befördert wurde, war, dass es nicht den einen richtigen Weg zu sexuellem Vergnügen, sondern eine Vielzahl von Möglichkeiten gibt.

Unter Männern, die Sex mit Männern haben, Sexarbeiter*innen und in LGBTIQ-Kreisen insgesamt veränderte das Aufkommen von HIV das Ausmaß, in dem sexuelle Praktiken zwischen gleichgeschlechtlichen Menschen in vielen Gesellschaften offener als zuvor diskutiert werden. Kampagnenorganisationen wie Act Up in verschiedenen Ländern und der Treatment Action Campaign in Südafrika haben Staaten dazu gezwungen, die Sexualerziehung in Schulen und Hochschulen auszuweiten, die Verfügbarkeit von sexuellen Gesundheitsdiensten (die sich mit einem breiteren Spektrum von Themen als nur HIV befassen) zu bewerben und Safer-Sex-Praktiken zu fördern. Die Erfolge dieser Bewegungen waren jedoch in verschiedenen Teilen der Welt, in verschiedenen Gemeinschaften (z. B. wegen des Mangels an Material in relevanten Sprachen) und zu verschiedenen Zeiten ungleich. Mit dem Erstarken rechtsextremer und religiös-fundamentalistischer Kräfte in vielen Teilen der Welt ist dies heute ein größeres Problem als auf dem Höhepunkt des AIDS-Aktivismus.

These 7

Wir arbeiten auf eine Welt hin, in der die Basisdemokratie des Alltagslebens in vielfältigen Formen der Selbstorganisation verankert ist. Auch in postrevolutionären Gesellschaften wird es notwendig sein, dass Organisationen aktiv sind, die die Unterdrückten repräsentieren. Frauenbefreiungsbewegungen, anti-rassistische Bewegungen, Bewegungen von Menschen mit Behinderung werden neben Nachbarschafts- und Arbeitsplatzorganisationen aktiv sein müssen, denn unterdrückende, repressive und diskriminierende Ideologie ist langlebiger als die wirtschaftlichen Strukturen, die sie hervorgebracht haben, ebenso wie die Unterrepräsentation der am meisten Unterdrückten. Gleichzeitig kämpfen wir für eine besondere Vertretung von LGBTIQ-Personen Seite an Seite mit anderen unterdrückten Gruppen innerhalb von Nachbarschafts- und Arbeitsplatzkomitees, so dass solche Organisationen bestmöglich inklusiv sein können. Wir erkennen auch an, dass die Form solcher Bewegungen in verschiedenen Teilen der Welt sehr unterschiedlich sein wird.

Aus dem Englischen übersetzt und mit Anmerkungen von Ixchel und Christian unter Mitarbeit von Wilfried

Quelle: https://fourth.international/en/international-committee/583/208


[i] Heute wird eine inklusivere Bezeichnung genutzt, nämlich LGBTQIA+. Das „+“ bezeichnet Menschen, die sich nicht unter den anderen Initialen wiederfinden.
Für die Geschichte des Ausdrucks LGBT usw. siehe https://en.wikipedia.org/wiki/LGBT.

[ii] Peter Drucker, Warped. Gay Normality and Queer Anti-Capitalism, Leiden u. Boston, Massachusetts: Brill, 2015, (Historical Materialism Book Series, Bd. 92). – Paperback-Ausgabe: Chicago: Haymarket Books, 2015 https://www.haymarketbooks.org/books/896-warped.

[iii] Heute wird statt von „Frauen“ eher von FLINTA*-Personen gesprochen. Sie sind genauso von sexistischer Diskriminierung betroffen.
FLINTA* ist eine Abkürzung für Frauen, Lesben, Intersexuelle-, Non-binary, Trans- und Agender-Personen; das „*“ steht für eine Inklusion von Nicht-Cis-Männern, die sich nicht unter den anderen fünf Initialen wiederfinden. „Um jedes Mal Irritation hervorzurufen, wenn der Begriff [Frauen*] gelesen wird, statt ihn selbstverständlich zu verwenden, und anzuzeigen, dass auch Frauen* und Weiblichkeiten* vielfältig sind. Ebenso verweist das * für uns auf die Konstruktion und Brüchigkeit des Begriffs“ (https://fstreikfrankfurt.noblogs.org/post/2021/02/10/was-bedeutet-flinta/)

[iv] Sex-positiver Feminismus (engl. sex-positive feminism) ist eine Bewegung, die in den frühen 1980er Jahren in den USA entstand und in deren Zentrum der Ansatz steht, dass sexuelle Freiheit ein wesentlicher Bestandteil der Freiheit von Frauen ist.
Diese Bewegung entstand als Reaktion auf die Versuche einiger Feministinnen, die Pornografie in den Mittelpunkt feministischer Erklärungsmodelle für die Unterdrückung der Frau zu stellen. Manche sexpositive Feministinnen beteiligten sich an diesen Auseinandersetzungen, wobei sie sich aus ihrer Sicht nicht gegen andere Feministinnen richteten, sondern gegen eine Entwicklung, die sie als patriarchalische Kontrolle der Sexualität betrachteten. Im deutschsprachigen Raum nahm die Diskussion um die 1987 von Alice Schwarzer gestartete PorNO-Kampagne die wichtigsten Argumente und Forderungen der antipornografischen Seite auf, eine vergleichbar intensive Diskussion unter Feministinnen blieb jedoch weitgehend aus. (Stark gekürzt, nach https://de.wikipedia.org/wiki/Sex-positiver_Feminismus, https://en.wikipedia.org/wiki/Sex-positive_feminism.)

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