Stuttgart 21
Das Murksprojekt wackelt
Befürworter und Betreiber von Stuttgart 21 verlieren politisch immer mehr an Boden. Im Vorfeld der Anhörung zu Stuttgart 21 im Verkehrsausschuss des Bundestags Anfang Juni bekamen die Gegner von Stuttgart 21 unerwartete Unterstützung. Thilo Sarrazin, in den Jahren 2000 und 2000 Netzvorstand bei der Deutschen Bahn und von der AfD als „Experte“ ausgewählt, plauderte plötzlich aus dem Nähkästchen. Sarrazin erklärte, dass damals, 2000/2001 im Bahnvorstand allen klar war, dass die Kosten wesentlich höher ausfallen würden als offiziell angegeben wurde. Die Kostenschätzung von 2,5 Milliarden Euro im Sommer 2001 habe er schon damals für unrealistisch gehalten und „mindestens eine Verdoppelung“ wie bei anderen DB-Projekten erwartet. Laut Sarrazin warnte ein Gutachten bereits im März 2001, dass die Risikozuschläge äußerst knapp bemessen seien. Bei seinem Antritt bei der Bahn sei das Projekt „praktisch eingefroren“ gewesen, weil es „als besonders unrentabel galt“. Schließlich habe die baden-Württembergische Landesregierung die Zustimmung der Bahn zu Stuttgart 21 erkauft, indem sie beim Abschluss des Nahverkehrsvertrags der Bahn viel mehr zahlte als eigentlich angemessen war.
Damit bestätigt erstmals jemand aus dem „inner circle“, dass das von den S21 GegnerInnen geprägte Wort „Lügenpack“ für Bahnmanager und Landesregierung von Baden-Württemberg absolut angemessen war und ist. Der frühere S21 Kritiker und jetzige S21 Kümmerer, Verkehrsminister Winfried Hermann von den Grünen, hält die Aussage von Sarrazin für glaubwürdig und erklärte in einem plötzlichen Anfall von Vernunft: „Stuttgart 21 ist die größte Fehlentscheidung in der Eisenbahngeschichte.“ An seiner Unterstützung für S21 hält Hermann aber fest.
Die Argumentation der „PROler“, der Anhänger und Betreiber von Stuttgart 21, schnurrt immer mehr zusammen – wie ein kaputter Luftballon.
- Die Bahn behauptet längst nicht mehr, dass der Tiefbahnhof leistungsfähiger ist als der Kopfbahnhof. S21 verringert die Leistung um 36%!
- Bahnchef Lutz gibt jetzt ganz offiziell zu, dass Stuttgart 21 2,228 Mrd. Euro Verlust macht und damit deutlich unrentabel ist.
- Stuttgart 21 hat wegen des Anhydrit ein quellendes Problem. Kommt Anhydrit mit Wasser in Berührung, quillt er auf. 20 km Tunnel verlaufen durch Anhydrit. Selbst das von der Bahn selbst in Auftrag gegebene Gutachten der KPMG sagt, es gebe für Tunnel im Anhydrit generell „keine bautechnische Lösung“ .
- Das Gefälle der Gleise im Bahnsteigbereich ist mit 15,143 Promille 6 fach größer als zulässig und hochgradig unfallträchtig.
- Über den Brandschutz sagt Hans-Joachim Keim, ein international renommierter Brandschutzexperte: “Es ist eine Katastrophe mit Ansage. Im Unglücksfall haben Sie die Wahl: Will ich ersticken? Oder zerquetscht werden? Oder verbrennen?”
- Ein neues Gutachten kommt zu dem Ergebnis, dass in Stuttgart, der Stadt mit der höchsten Wahrscheinlichkeit von Starkregen, aufgrund der baulichen Struktur des Tiefbahnhofs dort die Gefahr einer Überflutung extrem hoch ist.
In Ermangelung anderer Argumente ziehen sich die Betreiber von Stuttgart 21 jetzt auf die angeblich hohen Ausstiegskosten von 7 Mrd. Euro bei einem Abbruch des Projekts zurück. Aber auch hier lügt und betrügt die Bahn. Sie rechnet einfach die Abbruchkosten für die Neubaustrecke Stuttgart –Ulm mit ein, deren Abbruch aber gar nicht zur Disposition steht. Das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21 rechnet dagegen, dass bisher rund 3 Mrd. Euro verbaut worden seien und erwartet zusätzlich Vertragsabbruchskosten von etwa 400 Mio. Euro.
Umstieg 21: Ausstieg ist billiger als Weiterbauen
Ingenieure aus dem Widerstand gegen Stuttgart 21 haben ein Alternativkonzept erstellt, bei dem etwa die bestehende Baugrube als Omnibusbahnhof sowie Parkplatz genutzt würde. Die Kosten für das Alternativkonzept „Umstieg 21“ veranschlagen die Ingenieure auf 1, 6 Mrd. Euro. Damit käme der Ausstieg aus Stuttgart 21 beim jetzigen Stand immer noch 5 Mrd. billiger als die geplante Fertigstellung von Stuttgart 21. Von den bürgerlichen Medien wurde das Konzept „Umstieg 21“ bisher weitgehend ignoriert. Auch das scheint sich allmählich zu ändern.
Weiterbau trotz roter Zahlen und Murks am Bau – warum?
So mancher im Konzern Deutsche Bahn weiß um die Probleme von Stuttgart 21. Dennoch wird weitergebaut. Warum? Da gibt es gewiss die Baufirmen, die an S21 gut verdienen, politische Parteien und Bahnmanager, die keine Fehler zugeben wollen und deshalb Va Banque spielen. Aber ökonomische Motive und menschliche Abgründe allein sind nicht Ausschlag gebend. Entscheidend ist, dass Stuttgart21 für die herrschende Klasse einen hohen Symbolwert hat. Laut Angela Merkel ist Stuttgart 21 der Maßstab für die “Zukunftsfähigkeit Deutschlands”. Es ist für die Herrschenden Gradmesser ihrer „Handlungsfähigkeit“. Sie wollen klarstellen, dass sie in der Lage sind, ein Megaprojekt gegebenenfalls auch gegen den Willen der Bevölkerung durchzusetzen. Dafür nehmen sie in Kauf, dass sie rote Zahlen in Kauf.
Allerdings sind sie nicht bereit, jeden politischen Preis für die Durchsetzung des Megaprojekts zu zahlen. Die Delegitimierung des Projekts Stuttgart21 allein wird sie wahrscheinlich nicht von ihrem Vorhaben abbringen. Wenn allerdings parallel dazu der Widerstand wieder zunimmt und außer Kontrolle zu geraten droht, sieht die Lage anders aus. Da ist es durchaus möglich, dass sie sich ernsthaft fragen, ob Stuttgart 21 diesen politischen Preis wert ist. Für uns bedeutet das, verstärkt darüber nachzudenken, wie wir wieder breitere Bevölkerungskreise für unseren Protest gewonnen werden können.