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Geschichte und Philosophie

Das Massaker von Paris

Von Paul Junius | 01.12.2011

Am 17. Oktober 2011 jährte sich das Massaker von Paris zum fünzigsten Mal. Immer noch ist viel zu wenig darüber bekannt. In Frankreich wurde das Tabu erst 1991 durch den Historiker Jean-Luc Enaudi gebrochen.

Am 17. Oktober 2011 jährte sich das Massaker von Paris zum fünzigsten Mal. Immer noch ist viel zu wenig darüber bekannt. In Frankreich wurde das Tabu erst 1991 durch den Historiker Jean-Luc Enaudi gebrochen.

Am 17. Oktober 1961 demonstrierten 30 000 Algerier­Innen in Paris gegen den Algerienkrieg und Rassismus. Anfang Oktober hatte der Polizeipräfekt Maurice Pappon eine nächtliche Ausgangssperre gegen „algerische Arbeiter“ und „muslimische Franzosen" erklärt. Von Maurice Papon wird später noch zu sprechen sein.

Die Demonstration war als Sternmarsch, aus den etwas außerhalb von Paris liegenden Wohnvierteln der algerischen Franzosen, geplant. Bereits auf dem Weg zur Demonstration wurden Algerier­Innen festgenommen, durch die Straßen gejagt und verprügelt. Am Abend beginnen die Polizei von Paris und die CRS, Sondereinsatzkräfte des französischen Innenministeriums, in die Menge zu schiessen. Demonstrant­Innen werden gefangen genommen, gefesselt und in die Seine geworfen. Im Hof der Polizeizentrale werden später 50 Leichen gezählt.  Mehr als zehntausend algerische Franzosen werden für mehrere Tage in improvisierte Lager gebracht. Noch Wochen später werden Leichen aus dem Fluss geborgen. Der Historiker Jean-Luc Enaudi schätzt die Zahl der Ermordeten auf mehr als 300. Er ist der erste der sich intensiv mit dem Massaker auseinandersetzt und 1991 – dreißig Jahre nach den Geschehnissen – das Buch La Bataille de Paris: 17 octobre 1961 veröffentlicht. Die Presse berichtete nicht über die extreme Polizeigewalt, eine Filmvorführung über das Massaker wurde verboten. In Frankreich wurde und wird zum Teil noch immer der Algerienkrieg und insbesondere das Massaker vom Oktober 1961 tabuisiert.
Algerien als französische Kolonie
Im Jahr 1830 begann die Eroberung Algeriens durch Frankreich und endete 1847 mit einer Niederlage der Algerier­Innen. Im Unterschied zu anderen französischen Kolonien wurde Algerien Bestandteil des französischen Mutterlandes und in drei Departments aufgeteilt. Die Ausbeutung durch das imperialistische Frankreich war total. Die ungefähr eine Million Menschen  umfassende weiße, französische Minderheit besaß das volle französische Bürgerrecht, der überwiegende Teil von sieben  Millionen Algerier­Innen wurde entrechtet und ausgebeutet.
Während des Zweiten Weltkriegs bestand die Armee des freien Frankreich zum überwiegenden Teil aus Maghrebinern. Zu dem Zeitpunkt benutzte das imperialistische Frankreich die Entrechteten für ihren Krieg, als sie zum Ende des Zweiten Weltkriegs bei den Siegesfeiern in Sétif in großen Demonstrationen die Unabhängigkeit forderten, erschoss die französische Armee tausende von ihnen. Als eine der Folgen begann am 1. November 1956 der Algerienkrieg. Er dauerte bis 1962 und wurde von beiden Seiten extrem brutal geführt.

Die französische Armee befand sich bereits von Anfang an in der stärkeren Position und führte den Krieg mit besonderer Härte. Sie verbesserte ihre „moderne Kriegsführung“ gegen die  Aufständischen. Der wichtigste Bestandteil der „französischen Doktrin“ waren Folter und Vertreibung. Über 1,6 Millionen Algerier wurden vertrieben oder zum Teil in Konzentrationslager deportiert. Für die algerische Unabhängigkeit kämpfte die nationale Befreiungsfront FLN. Ihr Gegenüber stand die französische Armee, die Fremdenlegion (Légion Étrangère) und die in Teilen faschistische OAS der französischen Minderheit in Algerien. Die bewaffnete Geheimorganisation OAS verübte häufig Anschläge in Algerien und Frankreich und verbreitete Terror. Wochen vor der Demonstration wurden immer wieder tote Algerier oder muslimische Franzosen tot in der Seine schwimmend aufgefunden.

Als Antwort auf den Terror der OAS wendete ihn die FLN ebenfalls an. Sie beging Terroranschläge, erschoss Polizisten in Frankreich und verübte Anschläge auf Einrichtungen der Armee. Während des Krieges benutzte Frank­reich die algerische Wüste für Atombombentests.  Jean-Paul Satre schreibt im Vorwort des im Dezember 1961 veröffentlichten Hauptwerks von Frantz Fanon „Die Verdammten dieser Erde“:
„Sie [die Kolonialisierten]sind eingekeilt zwischen unseren Waffen, die auf sie gerichtet sind, und jenen entsetzlichen Gelüsten, jenen Mordgelüsten, die in ihnen aufsteigen und die sie nicht immer erkennen. Den es ist zunächst nicht ihre Gewalt, sondern unsere, die ihnen anwächst und sie zerreißt.[…] Sobald dieser Krieg ausbricht, ist er erbarmungslos. Man bleibt entweder terrorisiert oder wird selbst terroristisch.“
Eine Verurteilung für die Morde in Paris?
Etwa 35 Jahre nach dem Morden in Paris, wird der damalige Polizeipräfekt Maurice Papon vor Gericht gestellt. Aber nicht für das Vorgehen im Oktober 1961 sondern für zurückliegende Verbrechen. Maurice Papon war hoher Beamter des Vichy-Regime in Frankreich gewesen, das mit den Nazis kollaborierte, und er war maßgeblich verantwortlich für die Deportation von 1560 Juden. Ein Teil der Juden wurde nach Ausschwitz verschleppt und dort getötet. Die Gerichtsverhandlung dauerte vom Oktober 1997 bis April 1998 und endete mit einer Verurteilung von 10 Jahren Gefängnis. Nach drei Jahren wurde Maurice Papon aus gesundheitlichen Gründen entlassen und starb 2007 im Alter von 96 Jahren. Addiert man die auf seinen Befehl hin deportierten Juden und die Ermordeten vom Oktober 1961 ergibt das nicht einmal einen Tag Gefängnis für jeden Toten.

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