Das Märchen von der Herden-Immunität

Foto: James Cridland, James Cridland Crowd, CC BY 2.0

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Schwedische Sommernachtsträume

Das Märchen von der Herden-Immunität

Von Madeleine Johansson | 27.11.2020

Nachdem Schweden im Frühjahr eine der schlimmsten Covid19-Sterberaten in Europa zu verzeichnen hatte, verwiesen etliche auf die niedrigen Zahlen im Sommer und begründeten das mit der sog. Herden-Immunität. Nachdem aber nun die Fallzahlen wieder dramatisch steigen, nimmt Madeleine Johansson das schwedische Märchen von der Herden-Immunität auseinander.

Mit Covid19 leben?

Die schwedische Gesundheitsbehörde hat immer wieder bestritten, dass sie die Strategie der Herden-Immunität verfolge. Bei einem solchen Vorgehen würde man nichts tun und der Verbreitung des Virus in der Bevölkerung freien Lauf lassen – mit der Folge, dass das Gesundheitswesen überlastet und eine große Anzahl Menschen sterben würden. Die Logik eines solchen Vorgehens geht davon aus, dass sich ein ausreichend hoher Immunitätsgrad in der Bevölkerung entwickelt, der die weitere Ausbreitung der Seuche im Wesentlichen stoppt. Bei Covid19 ist es allerdings hochwahrscheinlich, dass sich eine Immunität nicht langfristig, sondern bestenfalls kurzfristig, also zwischen 3 und 6 Monaten herausbildet. Wir wissen inzwischen, dass Menschen bereits mehrfach an Covid erkrankt sind. So war eine 53-jährige Schwedin im Mai erkrankt und dann ein weiteres Mal im August, die Tests hatten ergeben, dass es sich um eine Neuinfektion handelte. https://www.thelocal.se/20201016/sweden-confirms-its-first-case-of-coronavirus-reinfection

In Schweden war es das Bestreben der Gesundheitsbehörde, die Kurve der Erkrankungen soweit abzuflachen, dass eine Überlastung des Gesundheitswesens verhindert wird. Zu diesem Zweck hatte man im März eine Reihe von Einschränkungen verhängt. So waren größere Versammlungen sowohl innen wie außen untersagt, Richtlinien für das Abstandhalten und Bewegungseinschränkungen erlassen worden. Alle, die auch von Zuhause arbeiten können, waren dazu aufgefordert worden, dies bis Januar 2021 zu tun, eine Maßnahme, die wahrscheinlich verlängert werden wird. Für einen Zeitraum im März und April war es nicht gestattet, zwischen bestimmten Ländern zu reisen. Derzeit sind Versammlungen von mehr als 50 Personen in Gebäuden nicht gestattet. In einer Reihe von Bezirken sind die Menschen unlängst aufgefordert worden, sich nicht außerhalb ihres Haushalts mit anderen zu treffen oder öffentliche Verkehrsmittel zu benutzen. Man hat die Leute dazu gedrängt, nicht einkaufen zu gehen, es sei denn wesentliche Lebensmittel.

Das Ausbleiben strengerer Restriktionen zu Beginn des Ausbruchs im Frühjahr hatte eine enorme Ausbreitung von Covid19 und eine der höchsten Todesraten weltweit zur Folge. Man sprach insbesondere von der Ausbreitung der Seuche in Pflegeheimen http://www.rebelnews.ie/2020/10/12/brid-smith-profit-care-homes-must-go/ während der ersten Zeit. Aufgrund der Privatisierungen in diesem Bereich fehlte es an persönlichen Schutzausrüstungen, gering bezahlte Beschäftigte gingen mit Krankheitssymptomen zur Arbeit, und viele wurden auch weiterhin an verschiedenen Stellen eingesetzt. Die Ausbreitungsrate in Schweden sollte mit anderen skandinavischen Ländern verglichen werden, wo strengere Maßnahmen ergriffen wurden.

(Das Schaubild im zeigt, dass bis November in Schweden 134.532 Fälle verzeichnet wurden, in Norwegen nur rd. 20.000. Die Sterberate erreichte in Schweden im November bereits 5.969, während sie in Norwegen weit unter 500 lag – d. Übers.).

Im Spätsommer schien es, dass Schweden mit niedrigen Infektionsraten dem Trend widerstehen könne, während sie in ganz Europa anstiegen. Dies führte dazu, dass etliche dazu aufriefen, man solle sich am schwedischen Vorgehen ein Beispiel nehmen. Nun aber steigen die Zahlen in Schweden erneut, und zwar in vielen Teilen des Landes mehr oder weniger exponentiell.

Das Schaubild zeigt, dass die Anzahl der Krankenhauseinweisungen in Schweden bis Ende Oktober schon 500 erreicht hatte und die Zahl der Intensivpatienten ebenfalls wieder deutlich ansteigt.
Das Schaubild der Gesundheitsbehörde zeigt, dass die bestätigten Fallzahlen bis zum 2.11. bereits 4.000 überschritten hatten und damit sehr weit über den Zahlen vom Frühjahr liegen. Dabei muss allerdings berücksichtigt werden, so der Text zum Schaubild, dass breiter angelegte Covid19-Tests erst Ende Mai aufgenommen wurden, sodass eine große Anzahl von Infektionen in den Monaten März und April unbestätigt bleibt.

Die Sommerpause

Was erklärt nun den Rückgang der Ausbreitungsrate in den Sommermonaten? Zum einen, dass alle Bildungseinrichtungen geschlossen hatten. Höhere Schulen und weiterführende Bildungseinrichtungen waren im März zum Online-Unterricht übergegangen, aber die Grundschulen, die offen geblieben waren, gingen im Juni turnusgemäß in die Sommerferien. Der gesamte Bildungsbereich, einschließlich weiterführender Einrichtungen, nahm zwischen Mitte und Ende August den Normalbetrieb wieder auf. Des Weiteren waren viele Beschäftigte in Urlaub. In Schweden gehen viele Betriebe sogar kollektiv in Urlaub, meistens im Juli. Da alle Beschäftigten einen Anspruch auf vier Wochen bezahlten Urlaub haben, dürfte sich die Infektionsrate am Arbeitsplatz während dieser Zeit beträchtlich verringert haben. Zum dritten waren es die Wetterverhältnisse, die es den Menschen erlaubten, sich draußen zu treffen, was erheblich sicherer ist als im Haus. Mehr Zeit draußen zu verbringen, ermöglicht auch mehr sozialen Abstand. Außerdem sind viele Leute in den Sommermonaten zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs gewesen und weniger mit Kollektivtransporten. Es mag auch weitere Gründe für den Rückgang der Infektionen während der Sommermonate gegeben haben, wie ein gewisser Grad von Immunität in der Bevölkerung (was allerdings stark bezweifelt werden kann), oder dass wärmere Temperaturen ungünstiger für das Virus sind. Aber es ist klar, dass das Verhalten der Leute während der Sommermonate einen erheblich größeren Einfluss auf die Verbreitung des Virus hatte und nicht ein gewisser Grad von Widerstandsfähigkeit. Wir sollten jenen auf der politischen Rechten widersprechen, die auf opportunistische Weise Schweden als Vorwand genommen haben, um die Wirtschaft voll in Betrieb zu lassen, und die damit bereit sind, um des privaten Profits willen die Gesundheit der Menschen zu opfern.

Null-Covid-Strategie

Wissenschaftler*innen stimmen inzwischen weitgehend überein, dass es noch einige Zeit brauchen wird, bevor wir wieder zu „normalen Aktivitäten“ zurückkehren können, und dass wir selbst in dem Fall, dass ein Impfstoff zur Verfügung steht, immer noch eine gewisse Zeit lang mit einigen Einschränkungen leben müssen.

Neuseeland hat gezeigt, dass eine „Zero Covid Strategy“ möglich und erstrebenswert ist. http://www.rebelnews.ie/2020/10/19/zero-covid-way-out/ (…) Wir sollten uns an Ländern wie Neuseeland orientieren, um schneller zu normalen Aktivitäten zurückkehren zu können, was einen gewaltigen positiven Einfluss auf Leben und Gesundheit hätte, sowohl physisch wie mental, und nicht an Schweden und seinem Märchen von der Herden-Immunität.

Übersetzung aus dem Englischen: Hermann Dierkes; leicht gekürzt um Bezüge auf Verhältnisse in Irland

Quelle: http://www.rebelnews.ie/2020/11/11/swedish-herd-immunity-myth/

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