Breitbeinig, verlogen, bösartig

Unter dem Motto "Es reicht!" organisierte die ehrenamtliche Initiative Moabit Hilft am 17.10.2015 eine Protestaktion vor dem Roten Rathaus gegen das Organisationschaos beim Berliner Landesamt für Gesundheit und Soziales in der Registrierung und Versorgung neuankommender Flüchtlinge. Foto: Leif Hinrichsen, Seehofer Abschieben, CC-BY-NC-ND 2.0

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Seehofers Kreuzzug für mehr Abschottung und mehr Abschiebungen

Breitbeinig, verlogen, bösartig

Von Paul Michel | 25.06.2018

Seit einigen Wochen erleben wir eine CSU-Kampagne für noch perfektere Abschottung, für noch weitergehende Entrechtung und die Freiheit zu ungehemmter Willkür gegen Flüchtlinge. Vor einigen Monaten wurden wir Zeugen einer Kampagne für eine von der CSU willkürlich definierte „Obergrenze“ für die Aufnahme von Flüchtlingen. Jetzt ist es ein vermeintlicher „Masterplan“ des Innen- und Heimatministers Seehofer. Während weite Teile dieses „Masterplans“ noch gar nicht öffentlich bekannt sind, konzentriert sich die von der CSU entfachte Hysterie auf einen Punkt, auf die Frage, ob abgelehnte und „papierlose“ Flüchtlinge an deutschen Grenzen abgewiesen werden sollen.

Phantomdebatte

Wie schon bei der CSU-Kampagne für eine „Obergrenze“ haben wir auch jetzt wieder eine von der CSU inszenierte Phantomdebatte, in der die CSU mit allen Finessen medialer Kunst den Eindruck erweckt, als gehe es um Sein oder Nichtsein der Nation und redet einen nationalen Notstand herbei. Die Wirklichkeit und die nüchternen Fakten spielen in der systematisch geschürten Hysterie keine Rolle. Die Zahl der Flüchtlinge, um die es dabei geht, nennt die CSU bezeichnenderweise nicht. Die Wucht der Hetzkampagne suggeriert, als gehe es um Hunderttausende von Flüchtlingen. „Die aktuelle erhitzte Debatte passt nicht zu den Zahlen, die uns vorliegen“, sagt Dominik Bartsch, der Repräsentant des UN-Hochkommissars in Berlin. Die Zahl der Personen, die vom Vorschlag von Innenminister Horst Seehofer betroffen wäre, so Bartsch, sei „verschwindend klein“. Die Flüchtlingszahlen in der BRD sind rückläufig. Ganze 186 644 Menschen suchten 2017 um Asyl in der BRD nach. Und die Personengruppe, die Seehofer und Söder zur Bedrohung der Nation hochstilisieren, umfasst maximal ca. 60 000 Menschen. Es handelt sich um eine reine Phantomdebatte.

„Gefühlte Bedrohung“ ‒ Wahn und Wirklichkeit

Dass die CSU mit dieser Methode durchkommt, ist ein Ausdruck dessen, wie stark Pegida und AfD mittlerweile die politische Debatte prägen. Erinnern wir uns: Als die Pegida-Wüteriche in Dresden, die sich als „besorgte Bürger“ kostümierten, jeden Montag ihre von Verschwörungstheorien und fremdenfeindlicher Hysterie strotzenden Dummheiten herumschrien, hieß es von Seiten von CDU und SPD, man müsse „ihre Ängste ernst nehmen“. In der Zwischenzeit hat es sich auch in bürgerlichen Kreisen eingebürgert, die häufig erfundenen, stets bombastisch aufgeblasenen Bedrohungsphantasien wildgewordener Spießbürger*innen als „gefühlte Bedrohung“ zu verniedlichen, die es angeblich ernst zu nehmen gelte.

Ein Beispiel dafür ist das Thema Kriminalität. Die Kriminalitätsstatistik sagt, dass 2017 im Vergleich zum Vorjahr rund zehn Prozent weniger Verbrechen erfasst wurden ‒ der stärkste Rückgang seit über 20 Jahren entsprach. Gleiches trifft offenbar für die Diskussionen über Flüchtlinge zu. Anstatt die nüchternen Fakten zur Kenntnis zu nehmen und auf dieser Grundlage eine rationale Diskussion um die realen Probleme zu führen, wird das pathologische Bedrohungsempfinden des verunsicherten Spießbürgers als „gefühlte Bedrohung“ zur Grundlage der Diskussion und Messlatte für Handeln.

Diese Gemengelage kommt der AfD sehr entgegen. Sie braucht nur plakativ und lautstark provokativ jene rechten Dummheiten in die Welt setzen, die eh und je schon an deutschen Stammtischen die Lufthoheit hatten – und sie hat ein Thema gesetzt, an dem sich dann die anderen „konstruktiv“ abarbeiten.

CSU in den Fußstapfen von Franz-Josef Strauß

Der CSU ist jene Art von Demagogie, die die AfD auszeichnet, beileibe nicht fremd. Die CSU kann an eine Kultur der Dummdreistigkeit anknüpfen, die in Bayern, der Hochburg der Bierzelte, wohl ausgeprägter ist als im Rest der Republik: Großkotziges Auftreten, Lautstärke und penetrantes Wiederholen banaler Stammtischweisheiten waren schon das Erfolgsgeheimnis von Franz-Josef Strauß. Die aktuelle Führungsriege der CSU versucht sich offenbar in einem Remake von Strauß. Wiederholt haben in jüngster Zeit CSU-Führer eine alte Maxime von F.-J. Strauß bemüht: Rechts von der CSU darf es nur die Wand geben. Mit ihrer aktuellen Kampagne nähern sich die bayrischen Christsozialen „den Rechts­populisten, die sie eigentlich bekämpfen“ wollten, „immer weiter an“, bemerkte etwa Die Zeit.

Etliche der von der CSU bemühten Leerformeln ähneln sehr der AfD-Rhetorik. Der vom bayrischen Regionalfürst Söder verwendete Begriff „Asyltourismus“ ist ein Ausdruck dafür, wie weit die Verrohung bei CSU-Spitzenpolitiker*innen bereits fortgeschritten ist. Söder ist sicher bekannt, dass das eine sprachliche Anleihe bei der NPD und anderen Hardcore-Nazis ist. Dennoch hat er keine Skrupel, damit hausieren zu gehen.

Seehofer gegen CDU-Modernisierer*innen

Das gegenwärtige Schüren von Ressentiments hat wohl auch die Landtagswahlen vom Oktober in Bayern im Blick. Vieles deutet aber darauf hin, dass es Seehofer und Söder um mehr geht. Sie scheinen sich trotz sonstiger Hahnenkämpfe dahingehend einig zu sein, dass jetzt der Moment gekommen ist, eine nachhaltige Schwächung der Modernisier*innen in der CDU, verkörpert von Angela Merkel, zu erreichen. Schon seit vielen Jahren ist die von Angela Merkel betriebene Modernisierung der CSU ein Dorn im Auge. Aber über lange Zeit hinweg war die Dominanz von Merkel so stark, dass die CSU zwar immer wieder meckerte, sich letztendlich aber, wenn auch widerwillig, gefügt hat.

Der seit 2015 maßgeblich von Pegida und AfD forcierte Rechtskurs in der Gesellschaft ist für die CSU einerseits eine Herausforderung, weil sich die AfD nun in politischen Gefilden breit zu machen sucht, die die CSU als ihren Vorhof sieht. Andererseits sehen die gegenwärtigen CSU-„Größen“ jetzt für sich die Chance, das Kräfteverhältnis in der CDU/CSU entscheidend nach rechts zu verschieben. Die Wiedergewinnung eines explizit rechten, „konservativen“ Profils für CSU und CDU ist schon seit Jahren auch ein Anliegen der „Stahlhelmer“ in der CDU. De facto will die CSU die Unionsparteien in eine
C-Partei mit AfD-Programmatik umbauen. In der Kampagne für „Obergrenzen“ hat die CSU dabei bereits einen Erfolg erzielt. Meinungsumfragen sehen in der Gesellschaft eine breite Zustimmung für Seehofer und Söder. Politische Beobachter*innen in Berlin berichten, dass auch viele CDU Abgeordnete Sympathien für Seehofer haben. Offenkundig ist Merkels Autorität in der CDU angeschlagen. Momentan wirkt der polternd rabaukige Stil der CSU-ler*innen noch abstoßend auf einige CDU-ler*innen und verschafft Merkel noch eine gewisse Unterstützung in ihrer eigenen Partei.

Wasser auf die Mühlen der AfD

Es ist durchaus vorstellbar, dass es Söder und Seehofer gelingt, einen Sturz von Merkel herbeizuführen. Im Endergebnis wird auf alle Fälle die Verrohung des öffentlichen Diskurses, die Barbarisierung der spätkapitalistischen Gesellschaft weiter vorangetrieben. Wenig spricht dafür, dass es Söder und Seehofer damit gelingt, die AfD zu marginalisieren. Nach einer Forsa-Umfrage vom 16. Juni verlor die Union seit Ausbruch des Streits um Seehofers „Masterplan“ bundesweit vier Prozentpunkte, sie kommt nur noch auf 30 Prozent. Nach einer anderen Umfrage des Instituts Civey vom 8. Juni erreicht die CSU bei den bayrischen Landtagswahlen 41 Prozent – ein Rückgang von 3,5 Prozentpunkten in den letzten zwei Monaten. Die AfD konnte im gleichen Zeitraum um 1,5 Prozent zulegen und ist mit 13,5 Prozent in Bayern noch vor der SPD zweitstärkste Kraft.

Solidarität mit Merkel?

Bedeutet das für uns als Sozialist*innen, dass wir Merkel verteidigen sollten? Gewiss nicht. Die Kanzlerin steht für alles andere als einen humanen Umgang mit Flüchtlingen. Sie hat in der Vergangenheit eine Politik der systematischen Asylrechtsverschärfung betrieben und sie tritt auch gegenwärtig für eine Verschärfung der Abschottungspolitik ein. Sie will die Grenzschutzorganisation FRONTEX weiter verstärken. Und sie will wie Seehofer und Söder Internierungslager für Flüchtlinge in Libyen, obwohl das Auswärtige Amt den libyschen Flüchtlingslagern noch vor wenigen Monaten in einem durchgesickerten geheimen Bericht „KZ-ähnliche Zustände“ attestierte.

Merkel hat betont, sie könne 62 von 63 Punkten von Seehofers „Masterplan“ für Abschottung und Abschiebung unterstützen. Sie ist für „Ankerzentren“ ‒ große Lager, in denen Flüchtlinge bis zum Abschluss ihres Asylverfahrens isoliert von der Bevölkerung festgehalten werden sollen. Sie unterstützt die von Seehofer vorgeschlagenen Kürzungen bei den Asylleistungen, ihren Ausschluss aus dem Arbeitsmarkt und das Errichten höherer Hürden für staatliche Integrationsmaßnahmen. Sie hat nicht einmal grundsätzlich etwas gegen die Zurückweisung von Flüchtlingen, deren Daten schon in anderen „sicheren“ EU-Staaten erfasst wurden. Sie will lediglich vorher dafür mit den anderen Staaten gemeinsam entsprechende bilaterale oder multilaterale Verträge schaffen, während die CSU-„Größen“ in Anlehnung an Donald Trump eine Politik des „Deutschland zuerst“ propagieren und einfach Fakten schaffen wollen, ohne das mit anderen Regierungen abzusprechen.

Solidarität statt Hetze

Es ist ein Skandal, dass im Jahr 2018 in der BRD in weiten Teilen der veröffentlichten Meinung und bei den bürgerlichen Parteien die Schicksale und die konkrete Lebenssituation von Flüchtlingen kaum ein Thema sind, während die „gefühlte Bedrohung“, die vermeintlichen Nöte von AfD-Wähler*innen ständig rauf und runter dekliniert werden. Es geht darum, praktische Hilfe zu leisten und gleichzeitig politisch der Hetze von AfD und CSU entgegenzutreten und den Protest gegen eine Regierungspolitik zu organisieren, die gezielt auf Entrechtung und Schikanieren und Abschottung abzielt. Grenzen werden immer undurchdringlicher gemacht, Flüchtlinge in Lager weggesperrt, dort werden ihre Bürgerrechte systematisch beschnitten und dort, wo sie noch existieren, kaltschnäuzig umgangen. Mit der Einsetzung von Hans-Eckhard Sommer, einem „harten Hund“ aus dem bayrischen Innenministerium, zum neuen Chef des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ist zu befürchten, dass von der BAMF-Spitze der Druck auf die Entscheider*innen über Asylanträge wächst, Ablehnungsbescheide zu produzieren.

Leider waren die Menschen, die aktive Solidarität mit Flüchtlingen praktizieren, in den letzten Wochen erschreckend schweigsam. Es wird Zeit, dass wir klare Kante gegen Rassismus zeigen!

Dankenswerterweise haben vor einigen Tagen medico international und das Institut für Solidarische Moderne einen Aufruf „Solidarität statt Heimat“ (https://solidaritaet-statt-heimat.kritnet.org/) veröffentlicht, in dem es heißt: „Nennen wir das Problem beim Namen. Es heißt nicht Migration. Es heißt Rassismus.“ Diesen Aufruf haben innerhalb von wenigen Tagen 10 000 Menschen unterzeichnet. Wir sollten ihn aufgreifen und die Köpfe zusammenstecken, um auszuloten, wie trotz unterschiedlicher Meinungen in Detailfragen spektrenübergreifend gemeinsam gehandelt werden kann.

Paul Michel

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