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Brasilien: Der Weg in die Katastrophe

Von joe hill | 01.10.2003

Nach einigen Monaten ist es angebracht, eine erste Bilanz der linken Regierungsarbeit unter Lula in Brasilien und Lucio Gutierrez in Ecuador zu ziehen. Anfängliche große Hoffnungen stoßen dabei immer brutaler auf die Tatsachen.

Nach einigen Monaten ist es angebracht, eine erste Bilanz der linken Regierungsarbeit unter Lula in Brasilien und Lucio Gutierrez in Ecuador zu ziehen. Anfängliche große Hoffnungen stoßen dabei immer brutaler auf die Tatsachen.

Mit dem Himmelreich auf Erden oder dem Sozialismus hatte zwar fast niemand gerechnet, gewisse Verbesserungen der Lebensumstände der Massen oder zumindest Ansätze in diese Richtung waren dennoch von vielen erwartet worden. Statt dessen machen die Regierungen in Brasilia und Quito in zentralen Fragen dort weiter, wo die vorherigen Administrationen aufgehört haben. Die ArbeiterInnenbewegung und andere soziale Bewegungen scheinen sich dabei langsam aus einer nach dem Regierungswechsel aufgetretenen Starre zu befreien.

Zum Kulminationspunkt scheint hierbei in Brasilien die Rentendeform zu werden, die zum gegenwärtigen Zeitpunkt schon von der Abgeordnetenkammer verabschiedet wurde. Dabei soll das Rentenalter angehoben und Pensionen zukünftig mit einem Steuersatz von 11% belegt werden können. Für letztere Maßnahme war eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erforderlich, welche Lula mit Hilfe der diversen bürgerlichen Parteien auch erreichte. Nur drei Abgeordnete der ArbeiterInnenpartei PT, Luciana Genro, Joao Bautista Babá und Joao Fontes stimmten dagegen und sollen nun Anfang September aus Partei und Fraktion ausgeschlossen werden, acht enthielten sich der Stimme – was auch bedeutet, dass die Mehrheit der ca. 35 PT-Linken in der Abgeordnetenkammer für dieses Gesetz gestimmt haben. Für die Abstimmung im Senat droht ähnliches, hier hat nur die PT-Senatorin Heloisa Helena ihre Ablehnung ausgedrückt.
Sozialer Widerstand und das Versagen der (meisten) PT-Linken
Gegenüber den in Gang kommenden Bewegungen wird ebenfalls eine harte Linie gefahren. Da wird ein Streik von 850.000 Staatsangestellten als linksextrem inspiriert denunziert, der bekannte Sprecher der Landlosenbewegung MST, José Rainha, inhaftiert und Heloisa Helena unter Verletzung ihrer Immunität als Abgeordnete bei einer Protestaktion von der Polizei angegriffen. LandbesetzerInnen werden zur Einhaltung "rechtsstaatlicher Normen" aufgefordert. Kein Wunder, dass bei Protestaktionen wie am 6. August gegen die Rentenreform GewerkschafterInnen ihre PT-Mitgliedsbücher und -Fahnen verbrannten. PT-DissidentInnen, Noch-PT-Mitglieder und andere Linke haben daher einen Diskussionsprozess zur Schaffung einer alternativen linken Kraft begonnen. Auch in der ebenfalls an der Regierung beteiligten, exmaoistischen PCdoB beginnt sich eine linke Minderheit gegen den Regierungskurs zu wehren.

Leider spielen auch die Mitglieder der IV. Internationale in Brasilien, die Tendenz "Democracia Socialista" (DS) innerhalb der PT mehrheitlich bei diesem Spiel mit. Einerseits wird das Nichteinverständnis mit der Regierungspolitik ausgesprochen, um dann größtenteils zuzustimmen. Von den zehn Abgeordneten der DS in der Abgeordnetenkammer haben sich nur zwei bei der Abstimmung zur Rentenreform der Stimme enthalten, zum drohenden Ausschluss des DS-Mitgliedes Heloisa Helena, der ihre Prinzipien wichtiger als Organisationsdisziplin sind, scheint mensch auch keine Position zu haben. Die Mehrheit der DS scheint sich weit von den Grundsätzen und Positionen der IV. Internationale entfernt zu haben. Der Platz revolutionärer MarxistInnen ist jedenfalls nicht an der Seite – oder wie im Fall des DS-Mitgliedes Miguel Rossetto – in der Regierung, sondern an der Seite der kämpfenden ArbeiterInnen, Landlosen und PensionärInnen und an der Seite von Genro, Babá, Fontes und Helena.
Kein "zweiter Chavez"
Auch in Ecuador spielt sich vordergründig Ähnliches ab. Der mit Unterstützung eines breiten linken Bündnis gewählte "linke Offizier" Lucio Gutierrez zeichnete sich in bester neoliberaler Manier durch Servilität gegenüber dem IWF und eine harte Politik gegenüber den Gewerkschaften aus. Allerdings führte dies zum Zerbrechen des Regierungsbündnisses: Relativ schnell ging die Indigena-Organisation CONAIE (welche die Mehrheit der 40% UreinwohnerInnen des Landes hinter sich hat) auf Distanz, wenig später haben sich u.a. auch das breite alternative Linksbündnis Pachakutik (hier arbeitet auch die kleine ecuadorianische Sektion der IV. Internationale mit) und die stalinistische Partei MPD mitsamt der Außenministerin und dem Landwirtschaftsminister aus der Regierung zurückgezogen. Gutierrez kann sich nur noch auf sechs von hundert Abgeordneten stützen, ist aber momentan dabei, einen Pakt mit dem PSC, der konservativen Partei, zu schließen.

Die nächsten derartigen Pleiten kündigen sich derweil in Uruguay und El Salvador an, wo linke Bündnisse in den nächsten Monaten gute Chancen haben, die Wahlen zu gewinnen. Auch hier scheint mensch in der Linken mehrheitlich der Meinung zu sein, dass es nicht darauf ankommt, die Gesellschaft mittels Bewegung von unten zu verändern, sondern bestehende kapitalistischen Zustände effektiv zu verwalten.

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