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Bildung, Jugend

Bildungsstreik: Vom Widerstand zur Selbstbestimmung

Von Philipp Xanthos | 01.07.2010

22. Mai 2008: 8 000 Schüler­Innen demonstrierten in Berlin gegen die Politik des „rot-roten“ Senats. Schon in den Jahren zuvor gingen regelmäßig einige Tausend Berliner Schüler­Innen auf die Straße. Im November des gleichen Jahres waren es wieder 8 000 in Berlin – und 100 000 bundesweit. Der Windhauch war zum Sturm geworden. Lokale Aktionskomitees hatten sich gebildet und Schüler­Innen demonstrierten gemeinsam mit Studierenden.

22. Mai 2008: 8 000 Schüler­Innen demonstrierten in Berlin gegen die Politik des „rot-roten“ Senats. Schon in den Jahren zuvor gingen regelmäßig einige Tausend Berliner Schüler­Innen auf die Straße. Im November des gleichen Jahres waren es wieder 8 000 in Berlin – und 100 000 bundesweit. Der Windhauch war zum Sturm geworden. Lokale Aktionskomitees hatten sich gebildet und Schüler­Innen demonstrierten gemeinsam mit Studierenden.

Im Juni 2009 dann fand eine bundesweite Bildungsstreik-Woche statt, an deren dezentralem Aktionstag 273 000 Schüler­Innen und Studierende demonstrierten. Mit symbolischen „Banküberfällen“ wurde eine Verbindung zur Krisenpolitik hergestellt. Im Herbst desselben Jahres wird hauptsächlich das Hochschulwesen von einer Welle der Besetzungen überrollt. Diese Welle folgte aber keinem bewussten Aufruf, sondern einer Hochschul-Besetzung in Wien. Denn in der Krise des Kapitalismus brodelt es überall in Europa.
Dialektik der Bewegung
Jedoch umfasste diese Welle der radikaleren Aktionen auch weniger Menschen. Den gleichen Prozess beobachten wir im Mai 2010 in Hessen. 10 000 Demonstrant­Innen in Wiesbaden haben die zeitweilige Aussetzung der Unterzeichnung des „Hochschulpaktes“ erwirkt. Denn die Herrschenden sind inzwischen in Hab-Acht-Stellung. Als der Vertrag eine Woche später doch unterzeichnet wurde, machten sich einige Hundert in Marburg, Gießen und Frankfurt auf zu Spontan-Demos. In Marburg wurde für eine halbe Stunde die Stadtautobahn besetzt. Die Bewegung kennt nicht nur Aufs und Abs, sondern auch eine Dialektik von „harmlosen“ Massen- und kleineren radikalen Aktionen. Was das erste Moment nicht aufhalten kann, kann das letzte nicht rückgängig machen. Was wir brauchen, sind radikale Massen-Aktionen. Dafür gilt es, gezielt aktiv zu werden.
Ein Faktor des Widerstands
9. Juni 2010: 100 000 Schüler­Innen und Studierende gehen auf die Straße. Die Bildungsstreik-Bewegung hat sich etabliert. Innerhalb weniger Jahre hat sich im sozialen Gefüge der BRD ein neuer Sektor außerparlamentarischer Kämpfe aufgetan. Welch ungewohnter Anblick auf deutschen Straßen: die jungen Demonstrant­Innen sind selbstbewusst, ausgelassen, fantasievoll und kämpferisch. Gerade diese Merkmale sind im Auge der herrschenden Klasse ein unerklärliches Chaos. Ihre Reaktion deckt die ganze Bandbreite an Mitteln ab, um den Protest niedrig zu halten, zu integrieren, zu verwirren und zu zerschlagen, von „Verständnis“ über „Bologna-Konferenz“ bis zu Räumung, Einsperrung im Klassenraum und Polizeigewalt auf den Straßen. Für den Blick des revolutionären Marxismus hingegen handelt es sich um eine neue Qualität im Klassen-Antagonismus, ein neuer Aggregatzustand im Molekularprozess der Revolution. Tausende Menschen sind in das Geschehen gesellschaftlicher Auseinandersetzungen hineingezogen worden; sie engagieren sich vielleicht erstmalig, lernen Aktive aus anderen Städten kennen. Sie haben Hoffnungen und Fragen, sie suchen nach Antworten. Denn Leistungsdruck und Entfremdung sind offenbar an eine Grenze gestoßen. Ihr Überschreiten musste in sozialer Unruhe münden.
Spontaneität & Kontinuität
Die, die sich aktiv einsetzen, sind weitaus mehr als einige „Verrückte“ und doch viel weniger als die große Masse der Betroffenen. Doch wer kann heute eine Bewegung von Millionen ausschließen? Frankreich kennt schon heute solche Bewegungen. Der spontane Charakter der Bildungs-Proteste ist nicht zu leugnen. Mitglieder von Parteien, Gewerkschaften, linken und revolutionäre Organisationen sind zwar an der Organisation beteiligt gewesen, jedoch war der Bildungsstreik nie eine Klientel-Veranstaltung von Organisationen, sondern im Wesentlichen massenhafte Selbsttätigkeit von Unorganisierten. Keine Organisation ist in der Lage, von allein solche Massenproteste hervorzubringen.

Wer für die Revolution ist, hegt kein Misstrauen gegenüber der Spontaneität der Massen. Der Bildungsstreik-Bewegung mangelt es aber zum großen Teil an Kontinuität. Während Menschen an ihren Arbeitsstellen einen Großteil ihres Lebens verbringen, erlangen Schüler­Innen meist erst in den letzten ein, zwei Jahren ihres Schullebens ein kritisches Bewusstsein. Auch die Universitäten haben einen ständigen Durchlauf. Daher macht es für die meisten keinen Sinn, sich für nachhaltige Verbesserungen einzusetzen, die erst für spätere „Generationen“ wirksam werden. Außerdem geht ein großer Teil der im Kampf gesammelten Erfahrungen ständig verloren. Diesem Prozess müssen wir entgegenwirken.
Kontinuität & Zentralisierung
Die Protestbewegung hat bereits gezeigt, dass sie Hunderttausende erreichen kann, doch „Bildungsstreik“ ist nicht viel mehr als ein gemeinsames Label. Es gibt keine zentralisierte und demokratische bundesweite Struktur. Auf den bundesweiten Treffen diskutieren und entscheiden die, die zufällig in der Nähe wohnen, die sich die Fahrt leisten können oder von ihrer Organisation bezahlen lassen, die Zeit haben. Hier wurde bislang meist bis zur völligen Erschöpfung der Mehrheit nach dem „Konsensprinzip“ bei fraktal verzweigten Tagesordnungen diskutiert. Fanatische Kleingruppen versuchten, ganze Bündnisse zu dominieren, während ein großer Teil der Unzufriedenen eine spontane „Linken-Feindlichkeit“ aufweist. Die Treffen versanken im Chaos und viele Aktive nach anfänglicher Euphorie in Frustration.

Die Wahl von lokal gewählten Aktiven in einen bundesweiten Bildungsstreik-Rat nach einem Delegiertenschlüssel wäre ein Anfang. Denn das Vorhandensein eines Bildungsministeriums ist bereits Zentralisierung, mehr noch europaweite Absprachen wie das ganze Projekt „Bologna“. Lokaler „Unabhängigkeits“-Dünkel auf unserer Seite ist hiergegen nur ein Ausdruck von Ziellosigkeit. Eine europaweite Vernetzung der Proteste wäre im Gegenteil nötig. Informellen Hierarchien und Machtkonzentration muss mit allem Engagement entgegen gewirkt werden.
Unsere Aufgaben
Die Bewegung kann heute zerfallen, stagnieren oder einen weiteren Aufschwung nehmen. Sie wird zerfallen, wenn wir nicht für Kontinuität und Bündelung der Kräfte sorgen. Wir brauchen eine theoretische Diskussion zwischen den Aktionen, die möglichst viele Aktive mit einschließt. Wir müssen die Erfahrungen, die wir heute machen, austauschen und konservieren, denn die Herrschenden werden ihre Lehren ziehen, wie sie es immer geta
n haben. Wir müssen ständig attraktiv auf neue und unerfahrene Menschen einwirken und sie zu Protesten ermuntern. Wir müssen in den lokalen Bildungsstreik-Runden einen permanenten Ausnahmezustand der Solidarität schaffen: Eine solidarische Diskussion, in der auch Differenzen offengelegt werden, statt einem vorgeschobenen „Konsens“, der nie über das Heute hinauskommt.
Repression und Solidarität
Je niedriger die staatliche Ebene, je mehr Autorität der treue Staatsbeamte über sich hat, desto kleinlicher sein Denken, desto schamloser die Repression. Dass Schüler­Innen während der Schulzeit in den Schulen eingesperrt werden, ist heute Alltag und wurde beim Bildungsstreik als gezielte Repressionsmaßnahme genutzt. Tausende wurden so am Streiken gehindert, teils durch direktes Einsperren in den Klassenräumen. Und so mancher Hochschuldirektor bietet in Anbetracht eines besetzten Raumes einen „Dialog“ an, nur um nach Sondierung der Lage eine uniformierte Hundertschaft zu rufen, die seinem „Hausrecht“ mit Knüppeln und Tränengas Geltung verschafft. Unsere Aufgabe ist es daher immer auch, Solidarität gegen die staatliche Repression zu üben. Als revolutionäre Marxist­Innen sind wir der Auffassung, dass staatliche Machtmittel nie einem abstrakten „Recht“ dienlich sind, sondern immer denen, deren gesellschaftliche Stellung mit Privilegien und Macht verbunden ist. Wie Ernst Bloch sagte: „Das Auge des Gesetzes sitzt im Gesicht der herrschenden Klasse“.
Historische Tradition
Der bürgerliche Staat hat immer mit allen Mitteln an seinem Bildungssystem festgehalten. Gab es doch in der gesamten bürgerlichen Epoche in Deutschland keinen grundlegenden Neuanfang im Bildungssystem. Ursprung der betrieblichen Berufsausbildung ist das mittelalterliche Zunftwesen, Ursprung des Gymnasiums die Klosterschule. Und so ist das Bildungswesen stets eine Hochburg des Konservatismus gewesen.

Wer heute in der BRD Politiker, Richter, Journalist oder höherer Beamter ist, also etwas zu sagen hat, kommt aus genau diesem Sumpf, weshalb das Bildungssystem nicht reformierbar ist. Wo etwa versucht wurde, eine Gesamtschule zu etablieren, blieb parallel das Gymnasium bestehen. Die Folge war eine noch stärkere soziale Barriere.
Institutionalisierte Entfremdung
Das Bildungssystem erfüllt eine gesellschaftliche Funktion. Damit aus einem Menschen ein „ordentlicher“ Staatsbürger – in ökonomischer, politischer und geistiger Hinsicht – wird, sind in etwa zehn Jahre Schule nötig:

  • In ökonomischer Hinsicht, d. h.: fremde Bedürfnisse aus dem Fernsehen als eigene zu akzeptieren, für äußere Anreize wie Geld alles zu tun bereit sein, „selbstständig“ für fremde Ziele arbeiten; sich selbst zum Mittel für Zwecke zu machen und sich dabei die ganze Zeit an anderen messen.
  • In politischer Hinsicht, d. h.: ein vorgegebenes System von Regeln und Hierarchien als naturgegeben anzuerkennen, sein Vertrauen an die Obrigkeit zu richten und alle vier Jahre eine Einverständnis-Erklärung für die Zukunftspläne der weisen Regierenden abzugeben.
  • In geistiger Hinsicht, d. h.: Sein Denken an Religion und lebensfremden Theorien ausrichten, in Gedichten die Adverbien und Adverbialen zu sehen, in Ländern die Rohstoffe und in der Physik die Zahlen; und das alles nicht nur zu sehen, sondern zu lieben.

Das mehrgliedrige Schulsystem gewöhnt hierbei an die spätere Rolle im sozialen Gefüge. Mit einem Wort: Das Bildungssystem steht an der Schnittstelle zwischen den Bedürfnissen der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft und denen der Individuen. Solange diese Gesellschaftsordnung besteht, wird sich an der institutionalisierten Entfremdung nichts wesentlich ändern. Wir wollen sie nicht verbessern, sondern überwinden: Das heißt Selbstbestimmung.
Das Projekt Bologna
Der Bildungssektor erscheint dem Staat als ideellem Gesamtkapitalisten als eine notwendige Ausgabe, um den Verwertungsprozess des Kapitals am Laufen zu halten. Diese Ausgabe ist aber nicht sofort rentabel, sondern erst nach vielen Jahren. Daher ist der Bildungssektor permanent unterfinanziert. Alltägliche Prekarität bei den Dozent­Innen, unzureichende Arbeitsschutzmittel im Labor, versteckte und offene Studiengebühren und wachsender Einfluss von Unternehmen sind die Folgen. Innerhalb dieses Widerspruchs siedelt sich das Projekt „Bologna“ an: Es geht darum, die Bildungsausgaben für das Kapital „vernünftig“ zu gestalten, d. h.: Anpassung der Inhalte an die Erfordernisse der Wirtschaft, Abwälzung der Kosten auf die Individuen, Verkürzung der Ausbildungsdauer auf das Minimum. Hieraus folgen Leistungsdruck und finanzielle Existenzängste unter Studierenden und Schüler­Innen und ihren Familien.

Die herrschende Klasse ist dabei in der Bildungsfrage selbst gespalten, denn vom Standpunkt des langfristigen Standortnationalismus ist es tatsächlich unvorteilhaft, wenn etwa die Zahl der Studierenden, also der potenziellen zukünftigen Facharbeiter­Innen, sinkt oder wenn an unterfinanzierten Schulen Potenzial vergeudet wird. Deswegen gibt es immer Politiker­Innen, die Bildungsproteste „verstehen“, ja sogar „begrüßen“, solange sie friedlich, freundlich diskussionsorientiert und klassenindifferent bleiben. Der institutionalisierte Politik-Betrieb von Parlamenten, Ausschüssen und runden Tischen sichert genau dieses notwendige Gleichgewicht zwischen den Fraktionen des Kapitals. Wir sehen uns daher nicht als Politik-Berater­Innen, sondern als Kämpfer­Innen gegen diese Ordnung.
Unsere Forderungen
Diese Einschätzung des Bildungssystems und des Bildungsstreiks legen wir unseren Forderungen zugrunde. Gleichzeitig wollen wir an die sinnliche Erfahrung der Betroffenen anknüpfen, statt über deren Köpfe hinweg zu reden. Denn zu viele sind bislang passiv. Wir setzen uns daher in erster Linie für folgende drei Forderungen ein:

  1. Gegen den enormen Leistungs­druck an Schulen und Hochschulen!
  2. Für eine finanzielle Grundsicherung für Studierende und Schüler­Innen!
  3. Für wirkliche Selbstbestimmung im Lernen: Für ein Bildungssystem nach dem Räteprinzip!
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