Die außerparlamentarische Opposition ist im Aufwind. Mehr als eine Viertel Million – 273 000 – SchülerInnen und Studierende protestierten am Mittwoch, dem 17. Juni, im Zuge der Bildungsstreik-Woche – in 110 Städten. Die NRW-weite Demonstration in Düsseldorf am 20. Juni zählte zusätzlich 5 000 TeilnehmerInnen. Somit hat sich nach 100 000 demonstrierenden SchülerInnen im letzten November innerhalb von sieben Monaten ein weiterer Bereich der sozialen Unruhe aufgetan.
Und dieser Bereich der sozialen Unruhe ist gleichzeitig ein bedeutender, denn im Vergleich zu ihm zeigt sich, wie weit die soziale Bewegung mit 55 000 DemonstrantInnen am 28. März und vor allem die Gewerkschaften zurück liegen. Denn der DGB mit seinen sechs Mio. Mitgliedern stellte am 16. Mai in Berlin nur eine langweilige Demo mit etwa 80 000 TeilnehmerInnen auf die Beine.
Bunt, kämpferisch und ideenreich zeigte sich dagegen der Bildungsstreik. Meist spontane Besetzungen von Straßenkreuzungen, Bahnhöfen, Fakultäten, Eingängen, Prüfungsämtern, Rektoraten oder dem Uni-Hochhaus in Frankfurt sind keine waghalsigen Guerilla-Aktionen, sondern inzwischen gewöhnliche Protestformen mit breiter Beteiligung und großer Sympathie.
Banküberfälle
Kämpferisch und neu waren auch die „Banküberfälle“, die in vielen Städten stattfanden. Damit konnten lautstarke und überfallartige Flugblattaktionen in Bankfilialen gemeint sein, aber auch Blockaden und kurzzeitige Besetzungen. In Berlin und Hamburg etwa wurden so jeweils viele Banken nacheinander „überfallen“ und schnell wieder verlassen, um der Polizeirepression zuvor zu kommen. Hier kommen zwei Dinge zum Ausdruck: Zum einen wird von BildungsprotestlerInnen vielfach ein direkter Bezug hergestellt zum Krisenmanagement der Regierung, das den Staat durch seine Milliardengeschenke als einen Staat der Banken entlarvt hat. Die Bilder von Polizeieinheiten in Kampfmontur, die Bankfilialen vor unbewaffneten SchülerInnen beschützen, unterstreichen dies nun. Gleichzeitig zeigen die AktivistInnen, dass ihnen einfache Demos nicht mehr genug sind, dass mehr passieren muss, als den Herrschenden auf der Straße ein bloßes Feedback für ihre Politik zu geben.
Spontaneität
Mitglieder von Linkspartei/Linksjugend, Gewerkschaften und linke und revolutionäre Organisationen sind zwar an der Organisation beteiligt gewesen, jedoch war der Bildungsstreik als solcher keine Klientel-Veranstaltung von Organisationen, sondern massenhafte Selbsttätigkeit von Unorganisierten. Die Organisationen partizipierten zwar am Bildungsstreik und unterstützten ihn und riefen als Autoritäten dazu auf, denn noch immer sind viele OrganisatorInnen der Meinung, dass unter einem wirkungsvollen Aufruf eine Parteijugend oder ein Gewerkschaftsverband stehen müsse. Jedoch sind sie nicht in der Lage, von allein solche Massenproteste hervorzubringen. Denn die Missstände an den Bildungseinrichtungen spüren die Betroffenen, ohne dass sie auf einem Flugblatt – unterschrieben von einer Parteijugend – davon lesen müssen.
Youtube machts möglich
Für den Bildungsstreik wurde vor allem auch mit unzähligen selbst erstellten Videos auf youtube geworben, sowie mit Gruppen auf SchülerVZ, StudiVZ und Facebook – Internetplattformen, die eigentlich für alles andere, nicht aber dafür gemacht sind. Hier verbreiten sich Informationen explosionsartig und mit geringem Aufwand, gleichzeitig vollkommen unabhängig von den klassischen Informationskanälen. Daneben gab es auch Mobilisierungsaktionen, bei denen z. B. in Seminarräume gegangen wurde und die Studierenden so auf den Bildungsstreik aufmerksam gemacht wurden. Davon wurden dann wieder Videos gemacht und ins Internet gestellt, so dass sie als Vorlage für andere dienten. Solche Prozesse können von politischen Organisationen nicht gesteuert, sondern nur beeinflusst werden. Und die staatlichen Autoritäten sind erst recht machtlos.
Gewerkschaften
Wo war die Jugend von ver.di und von der IG Metall, die doch unter dem bundesweiten Aufruf stehen? Die Überwindung der Beschränkung der Aktionen auf Gymnasien und Hochschulen steht auf der Tagesordnung, wenn die Proteste nicht gesellschaftlich isoliert enden sollen.
Forderungen
Die SchülerInnen und Studierenden gingen auf die Straße vor allem für die Abschaffung des eisernen Bologna-Studienkorsetts, für mehr Geld für den Bildungssektor und für ein Ende der sozialen Selektion an Schulen. Der häufigste Sprechchor dürfte „Bildung für alle und zwar umsonst“ gewesen sein. Forderungen, die nicht mit dem Kapitalismus zu vereinbaren wären, waren weniger vertreten, sind aber im Grunde auch schwerer zu finden. Die Forderung nach der Abschaffung von Noten kann nur ein erster Schritt sein, denn er stellt das Beurteilungsprinzip nach Leistung in Frage. Allerdings ist dieses Prinzip auch in der bürgerlichen wissenschaftlichen Pädagogik schon lange in Frage gestellt, ohne jedoch politisch wirkungsmächtig zu werden. Die Frage ist zudem, ob es den SchülerInnen in erster Linie um die aufgestellten Forderungen ging, oder eher um etwas schwerer Greifbares, nämlich den Ausbruch aus dem repressiven Alltag.
Bildung im Kapitalismus
Dass die Proteste, im Vergleich zur sozialen Bewegung, eine solche Wucht erreicht haben, dürfte auch daher kommen, dass die bürgerliche Gesellschaft im Bildungswesen einen überdurchschnittlich hohen Grad an Auflösung erreicht hat. Das Reaktionäre am Kapitalismus zeigt sich in diesem Bereich besonders deutlich; gab es doch in der gesamten bürgerlichen Epoche in Deutschland keinen grundlegenden Neuanfang im Bildungssystem. Ursprung der betrieblichen Berufsausbilung ist das mittelalterliche Zunftwesen, Ursprung des Gymnasiums die Klosterschule. Und so ist das Bildungswesen stets eine Hochburg des Konservatismus gewesen. Wer heute in der BRD PolitikerIn, RichterIn, JournalistIn oder höhere/r Beamter/in ist, also etwas zu sagen hat, kommt aus genau diesem Sumpf, weshalb das Bildungssystem nicht reformierbar ist.
Reaktion der Bourgeoisie
Die Reaktionen der Herrschenden deckten die ganze Bandbreite an Mitteln ab, um den Protest niedrig zu halten, zu verwirren und zu zerschlagen. Dass Spiegel, Stern & Co. von 100 000 oder „Zehntausenden“ DemonstrantInnen sprechen, ist der erste und vorhersehb
are Reflex. Schavan als Bildungsministerin gab sich verständnisvoll, bezeichnete aber die Proteste als teilweise „gestrig“ und lud sogleich zu einer Bildungs-Konferenz am 7. Juli ein, an der auch Studierenden-VertreterInnen teilnehen dürften. Gleich am Tag nach der Demo hielten einige ProtestlerInnen mit den Kultusministern auf der KMK (Kultusministerkonferenz) in Berlin ein Plauderstündchen ab. Wenn es danach von Regierungsseite zufrieden heißt: „Es war ein konstruktiver Dialog.“, wird daran deren Freude über das Gelingen der Integration von Protesten sichtbar. Die herrschende Klasse ist in der Bildungsfrage selbst gespalten, denn vom Standpunkt des langfristigen Standortnationalismus ist es tatsächlich unvorteilhaft, wenn etwa an Hauptschulen später ausbeutbares Potential vergeudet wird oder die Zahl der Studierenden, also der potentiellen zukünftigen FacharbeiterInnen, sinkt. Deswegen gibt es immer PolitikerInnen, die Bildungsproteste „verstehen“, ja sogar „begrüßen“, so lange sie friedlich, freundlich diskussionsorientiert und klassenindifferent bleiben.
Auf niedrigerer Ebene zeigte sich, was „konstruktiver Dialog“ jenseits der medialen Aufmerksamkeit bedeutet. So wurden alle Besetzungen von der Polizei brutal geräumt. Allein in Heidelberg kam es zu 112 Strafverfahren wegen Hausfriedensbruch. Der Schüler-Verband der CDU forderte öffentlich ein hartes Durchgreifen der Polizei.
Einsperrung in Schulen
Je niedriger die staatliche Ebene, je mehr Autorität der Staatsbeamte über sich hat, desto kleinlicher sein Denken, desto schamloser die Repression. Dass SchülerInnen während der Schulzeit in den Schulen eingesperrt werden, ist heute Alltag und wurde beim Bildungsstreik als gezielte Repressionsmaßnahme genutzt. Tausende wurden so am Streiken gehindert, teils durch direktes Einsperren in den Klassenräumen, so u. a. in München, Potsdam, Leipzig und Münster. Diese massenhafte Freiheitsberaubung ist höchstens Lokalblättern eine Bemerkung wert. Gegen die Repression ist dringend Solidaritätsarbeit zu leisten. Angriff ist natürlich immer noch die beste Verteidigung.