Biden rehabilitiert den US-amerikanischen Kapitalismus
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Imperialistischer Keynesianismus

Biden rehabilitiert den US-amerikanischen Kapitalismus

Von Ashley Smith | 03.11.2021

Ashley Smith gibt im folgenden Artikel einen Überblick über das Programm der Regierung Biden. Er betont, dass es sich dabei um einen keynesianischen Bruch mit der jahrzehntelangen neoliberalen Politik handelt, der jedoch in erster Linie der Notwendigkeit geschuldet ist, die Rentabilität des US-amerikanischen Kapitalismus und die imperiale Macht der USA wiederherzustellen.

In seiner Rede vor dem Kongress war Joe Biden voll des Lobs für seinen amerikanischen Rettungsplan (American Rescue Plan) und warb um Unterstützung für seine Beschäftigungs- und Familienpläne. Die kapitalistischen Medien nahmen das zum Anlass, das Ende der Reaganomics und eine Rückkehr zum New-Deal-Liberalismus von Franklin Delano Roosevelt (FDR) zu verkünden.

Langjährige Liberale[i] sowie jüngst Dazugestoßene zeigten sich von Bidens Programm begeistert. So erklärte etwa Joan Walsh, dass Biden „aus dem New Deal von Roosevelt und dem Great-Society-Programm[ii] von Lyndon B. Johnson, ergänzt durch Obamas gute Ideen und durch einige der besseren Ideen von Senator Bernie Sanders, ein von Scranton[iii] inspiriertes Gesamtpaket für Rassen- und Wirtschaftsgerechtigkeit geschnürt hat. Das übertrifft alles, was er bei seiner Kandidatur für das Präsidentenamt versprochen hat.”

Selbst Teile der Linken zeigten sich überrascht und kamen nicht umhin, ihre Unterstützung für Biden zu bekunden. Faiz Shakir, der Wahlkampfleiter von Bernie Sanders, lobte Biden für seine „Bemühungen, der arbeitenden Bevölkerung in einem Ausmaß Beachtung zu schenken, das es seit FDR nicht mehr gegeben hat.“ Obwohl wir als Sozialist*innen viele dieser Reformen begrüßen sollten, dürfen wir nicht zu naiven Fans der Regierung werden.

Bei Bidens keynesianischer Wende handelt es sich um den Versuch, das Versagen des Neoliberalismus bei der Wiederherstellung der Rentabilität und Wettbewerbsfähigkeit des US-Kapitalismus nach der Großen Rezession zu überwinden. Die neoliberale Politik hatte es den Kapitalisten zwar ermöglicht, fiktive Reichtümer an der Börse anzuhäufen, aber die Realwirtschaft wurde nicht wieder belebt und die Instandhaltung der Infrastruktur vernachlässigt, was zu Krisen in jenen Schlüsselinstitutionen führte, die zur sozialen Reproduktion des Systems unerlässlich sind, etwa im Bildungs- und Gesundheitswesen sowie bei der Kinderbetreuung.

Das Scheitern des Neoliberalismus hat die Wettbewerbsfähigkeit des US-amerikanischen Kapitalismus und seine Vormachtstellung innerhalb des Weltsystems schwer beeinträchtigt. Nur so erklärt sich die breite Unterstützung der Wirtschaftseliten und des politischen Establishments für Bidens Kurswechsel. Deshalb ist es eine gefährliche Illusion, diesen als Zugeständnis an die Linke zu interpretieren. Bidens imperialistischer Keynesianismus zielt darauf ab, eine zutiefst gespaltene Nation wieder zu vereinen, die Grundlagen des US-Kapitalismus von neuem zu festigen und die Hegemonie der USA als Weltmacht wiederherzustellen – insbesondere gegenüber China, ihrem aufstrebenden imperialen Rivalen.

Systembedingte Krisen des US-Imperialismus

Wie Biden in seiner Rede deutlich machte, steht Washington vor einer beispiellosen Anhäufung miteinander verbundener Krisen. Die wichtigste davon, die auch für die herrschende Klasse und die staatliche Bürokratie absolute Priorität hat, ist die geringe Rentabilität des US-amerikanischen Kapitalismus.

Der Versuch, die Profitrate nach der Großen Rezession wiederherzustellen, ist gescheitert. Bush, Obama und Trump haben die Unternehmen gerettet, ihre Steuern gesenkt, die Zinssätze bei null gehalten und den arbeitenden Menschen Einsparungen verordnet. Aber diese Maßnahmen haben die Probleme des Systems nicht gelöst, sondern nur verschärft.

Anstatt nicht wettbewerbsfähiges Kapital zu beseitigen, wurde es am Leben erhalten, und zwar in Form von „Geisterunternehmen“, die Kredite aufnehmen mussten, nur um die Zinszahlungen für ihre bestehenden Schulden zu begleichen. Da es keinen Spielraum mehr für gewinnbringende Investitionen gab, scheuten sogar gesunde Unternehmen davor zurück, Geld in der Realwirtschaft auszugeben. Stattdessen kauften sie ihre eigenen Aktien auf und schufen somit eine riesige Börsenblase.

Überakkumulation und geringe Rentabilität waren der eigentliche Grund für die Große Rezession und die schwache Erholung im vergangenen Jahrzehnt. Das Weltwirtschaftssystem befindet sich in einem Zustand, den Michael Roberts als „lange Depression“ und David McNally als „globale Flaute“ bezeichnet, in der fluktuierende Rezessionen und schwache Erholungen eines im Abstieg begriffenen Systems einander abwechseln.

Der wirtschaftliche Einbruch hat auch Washingtons imperiale Krise verschärft. Infolge der Niederlagen im Irak und in Afghanistan sowie der Großen Rezession haben die USA und ihre Unternehmen verglichen mit Chinas staatlich gelenktem Kapitalismus einen Rückschlag erlitten.

Peking ist heute die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt, es hat mehr Unternehmen in den Fortune 500[iv] als die USA und hat sowohl wirtschaftlich als auch geopolitisch an Selbstbewusstsein merklich zugelegt. Washington und seine Sprachrohre betrachten China mittlerweile als eine aufstrebende Macht, welche die globale Vorherrschaft der USA bedroht.

Diese neue imperiale Rivalität verhindert jede Lösung der dritten großen Krise: des Klimawandels. Unter dem systembedingten Druck, Wachstum und Rentabilität zu gewährleisten, weigern sich die kapitalistischen Staaten – allen voran die USA und China –, dringend erforderliche Umweltreformen umzusetzen, die ihre Gewinne schmälern würden. Gleichzeitig destabilisiert die zunehmende globale Erwärmung Regionen auf der ganzen Welt, indem sie Menschen zwingt, ihre Heimatländer als Klimaflüchtlinge zu verlassen.

Die Krankheiten des imperialen Niedergangs

In den USA haben diese drei großen Krisen die ohnehin schon horrende Kluft zwischen den Klassen und sozialen Schichten vertieft, die vier Jahrzehnte Neoliberalismus hinterlassen haben. Der unerbittliche, von den Bossen einseitig ausgerufene Krieg gegen die arbeitenden Menschen und alle unterdrückten Gruppen, insbesondere gegen die schwarze Bevölkerung, hat ein Ausmaß an Ungleichheit erreicht, das es seit der „Zeit der Räuberbarone“[v] nicht mehr gegeben hat.

Die herrschende Ungleichheit hat eine extreme politische Polarisierung ausgelöst. Eine neue sozialistische Linke ist aus einer Welle von Kämpfen hervorgegangen, die von Occupy Wall Street über die Lehrerrevolte in den roten[vi] Bundesstaaten und #MeToo bis hin zu Black Lives Matter reicht. Diese Bewegungen fanden innerhalb der Demokratischen Partei in den Wahlkampagnen von Politikern wie Bernie Sanders und Alexandria Ocasio Cortez ihre Entsprechung.

Am anderen Ende des politischen Spektrums rief Trump eine neue weiße nationalistische Rechte auf den Plan, die ihre Wurzeln im wütenden Kleinbürgertum hat, das sich um seine prekären Geschäfte sorgt, aber auch in Teilen der Arbeiterklasse, die durch Deindustrialisierung, wirtschaftliches Elend und die damit einhergehenden „Verzweiflungskrankheiten“ wie Opiumsucht demoralisiert wurde. Trump fegte das republikanische Establishment hinweg, besiegte Hillary Clinton und verfügte eine giftige Mischung aus Zugeständnissen an die US-amerikanischen Konzerne, einer rassistischen Innen- und Außenpolitik und einem nationalistischen Bruch mit Washingtons bisheriger Linie, die Vorherrschaft über den globalen Kapitalismus zu beanspruchen.

Die Pandemie – auch ein Produkt des globalen Kapitalismus und des Klimawandels – hat all diese Probleme verschärft. Das gesamte politische Establishment, nicht nur Trump und die Republikaner, sondern auch Demokraten wie der New Yorker Gouverneur Andrew Cuomo, hat es versäumt, dem landesweiten Siegeszug von COVID-19 Einhalt zu gebieten. Millionen sind erkrankt, Hunderttausende sind gestorben, und die schwache Wirtschaft, die sich ohnehin schon am Rande einer Rezession befand, ist auf den tiefsten Stand seit Jahrzehnten gefallen.

Während die US-amerikanische Gesellschaft aus den Fugen gerät, hat der rassistische Mord der Polizei an George Floyd einen von Schwarzen angeführten „rassenübergreifenden“ Aufstand von etwa 26 Millionen Menschen ausgelöst, der Städte im ganzen Land lahm legte und Kampagnen zur Definanzierung bzw. Abschaffung der Polizei in Gang setzte. Arbeitskämpfe von „Systemträgern“– angefangen vom Gesundheits- und Lehrpersonal bis hin zu Fleischverpackungsarbeitern und eingewanderten Landarbeitern – brachten das System weiter ins Wanken.

Zu allem Überfluss inszenierten Trumps rechtsextreme Truppen ihren Aufstand gegen das Wahlergebnis, besetzten kurzzeitig das Kapitol und bedrohten die Sicherheit der wichtigsten Vertreter*innen der politischen Klasse. In den Augen der Weltöffentlichkeit mussten die USA als ein von Krisen geschüttelter hoffnungsloser Fall erscheinen.

Auf der verzweifelten Suche nach einer neuen Strategie

All diese Entwicklungen zwangen die herrschende Klasse der USA, die Staatsbürokratie in Washington und die Vertreter des globalen Kapitalismus zum Umdenken. Ihre neoliberale Wirtschaftspolitik und ihre imperiale Strategie hatten versagt, und so sahen sie sich mit einer wachsenden Legitimationskrise im In- und Ausland konfrontiert. Daher haben ihre Denkfabriken und Institute (nicht jene der Linken) begonnen, neue Strategien zur Wiederbelebung der kapitalistischen Akkumulation und zur Wiederherstellung der imperialen Macht der USA in Erwägung zu ziehen.

Kapitalisten – von Warren Buffet[vii] über den Runden Tisch der Unternehmer[viii] bis hin zur Wirtschaftskammer[ix] – haben ihre Bereitschaft zu einer umverteilenden Wirtschaftspolitik signalisiert, um den Unmut der Bevölkerung zu dämpfen. Die Führungskräfte der Wirtschaft haben erkannt, dass der Klimawandel eine Bedrohung für ihr System und ihre Investitionsmöglichkeiten darstellt.[x] Selbst das Pentagon zeigt sich besorgt, dass die globale Erwärmung seinen Handlungsspielraum bei der Durchsetzung seiner Herrschaftsansprüche einengt.

Die US-amerikanischen Unternehmen fühlen sich von Chinas Aufstieg nach wie vor bedroht. Einige eher auf den Binnenmarkt ausgerichtete Branchen wie die Stahlindustrie befürworten einen Protektionismus gegen die chinesische Konkurrenz. Andere, etwa Technologiekonzerne, beklagen sich über die Zugangsbeschränkungen zum riesigen chinesischen Markt, über Chinas Verletzung von Rechten an geistigem Eigentum und über seine Unterstützung für einheimische Technologieriesen. Sie betreiben Lobbying beim Staat, um China zu zwingen, sich den neoliberalen Bedingungen der WTO zu beugen und seinen Markt zu öffnen.

Daher haben die staatliche Bürokratie und die politische Klasse Washingtons, die stets dem Kapital verpflichtet sind, einen scharfen Kurs gegenüber China eingeschlagen. Das Pentagon, das Außenministerium und beide politischen Parteien haben sich von der Einschätzung Pekings als „strategischem Partner” verabschiedet und betrachten es nun als „strategischen Rivalen” und als Bedrohung für die so genannte „liberale, auf Regeln basierende internationale Ordnung”, die seit dem Zweiten Weltkrieg von den USA angeführt wurde.

Eine ganze Reihe von Ökonomen – wie die ehemaligen Chefökonomen der Weltbank Joseph Stieglitz und Paul Krugman, die sich jahrzehntelang mit den Problemen der neoliberalen Weltordnung, dem Aufstieg Chinas und der Notwendigkeit einer nationalen Industriepolitik auseinandergesetzt hatten – begannen, für eine Rückkehr zum Keynesianismus als Strategie für kapitalistisches Wachstum zu werben. Niemand Geringerer als der Internationale Währungsfonds (IWF) und die Weltbank schlossen sich ihnen an, indem sie für massive Staatsausgaben während der tief greifenden pandemiebedingten Rezession plädierten. Das veranlasste die Financial Times, ein „Begräbnis der Sparsamkeit“ und die Wiedergeburt des „finanzpolitischen Aktivismus“ zu verkünden.

Die Kombination aus Trumps vierjähriger inkompetenter Misswirtschaft, der Übernahme der Republikanischen Partei durch die extreme Rechte und deren Aufstand gegen den Wahlausgang sowie die Black-Lives-Matter-Bewegung hat das Establishment der Demokratischen Partei aufhorchen lassen. Man erkannte, dass man nicht mehr auf die alte neoliberale Art weiterregieren konnte.

In einer Reihe von Artikeln von Joe Biden, Antony Blinken, Kurt Campbell und Hillary Clinton in Foreign Affairs und anderen Organen des imperialen Establishments stellte die graue Eminenz der Demokratischen Partei den imperialistischen Keynesianismus als ihre neue Strategie vor. Zu Beginn des Jahres 2020, noch bevor er Bidens Nationaler Sicherheitsbeauftragter wurde, schrieb Jake Sullivan eine Beitrag mit dem Titel „Amerika braucht eine neue Wirtschaftsphilosophie“:

[D]ie Vereinigten Staaten müssen die vorherrschende Wirtschaftsideologie (manchmal eher unscharf als Neoliberalismus bezeichnet) der letzten Jahrzehnte überwinden und neu darüber nachdenken, wie Wirtschaft funktioniert, welche Ziele sie verfolgen und wie sie umstrukturiert werden sollte, um diesen Zielen zu dienen – das ist nicht nur ein wirtschaftliches, sondern auch ein geopolitisches Gebot.“ [xi]

Die neue Führungsriege des Präsidenten beriet sich während des gesamten Prozesses und insbesondere bei der Ausarbeitung von Bidens Plänen mit den maßgeblichen Vertretern des Großkapitals, die Trump gründlich verprellt hatte.

Bidens imperialistisches keynesianisches Programm

Biden ist sich darüber im Klaren, dass Washington seine globale Hegemonie nicht aufrechterhalten kann, wenn es nicht wie eine außergewöhnliche „strahlende Stadt auf einem Hügel“ aussieht, sondern wie ein „Drecksloch“ mit bröckelnder Infrastruktur, dramatischen sozialen Gegensätzen, unüberbrückbaren politischen Gräben und einem Staat, der nicht einmal in der Lage ist, das Überleben seiner eigenen Untertanen zu garantieren. Die Politik der Regierung Biden zielt daher darauf ab, die Wettbewerbsfähigkeit der USA im Ausland wieder zu beleben und dabei gleichzeitig neue Unruhen der arbeitenden und unterdrückten Bevölkerungsschichten im eigenen Land zu verhindern.

Bidens erster Schritt bestand darin, einen realistischen Impfplan auszurollen. Dank der von Trump eher dilettantisch („sophomorically-named“) benannten „Operation Warp Speed”[xii] hatte die neue Regierung ausreichend Impfstoffe zur Verfügung, um die Bevölkerung zu impfen, den Regierungen der Bundesstaaten und Kommunen die Öffnung von Schulen zu ermöglichen, die Menschen wieder wie gewohnt arbeiten und konsumieren zu lassen und den US-amerikanischen Kapitalismus nach seinem Zusammenbruch im Jahr 2020 zu stabilisieren.

Wenig überraschend konzentrierte sich Bidens Impfkampagne fast ausschließlich auf die USA. Wie in anderen entwickelten kapitalistischen Staaten hortete die Regierung Impfstoffe, schützte zunächst die geistigen Eigentumsrechte und Gewinne der großen Pharmakonzerne und hinderte die Staaten des globalen Südens an der Herstellung eigener Impfstoffe.

Es bedurfte des massiven Drucks von Gesundheitsaktivisten, einer Allianz von Drittweltstaaten und verschiedenen Instituten für globale Gesundheit, um Biden zum Umschwenken zu zwingen und eine Aussetzung der geistigen Eigentumsrechte zu unterstützen. Doch wie die Financial Times dokumentiert, bezog er diese neue Position nicht in erster Linie, um Leben zu retten, sondern um Washingtons geopolitisches Ansehen gegenüber China und anderen Staaten zu verbessern, die bei der Verteilung von Impfstoffen an die Entwicklungsländer weitaus großzügiger waren.

Der zweite Teil von Bidens Maßnahmenpaket bestand in seinem 1,9 Billionen Dollar schweren amerikanischen Rettungsplan. In Anlehnung an Trumps CARES Act[xiii], der bereits den dringenden Wunsch der herrschenden Klasse nach massiven finanzpolitischen Interventionen angesichts der Wirtschaftskrise aufgegriffen hatte, brach Biden mit Obamas Reaktion auf die Große Rezession, der – in den Worten von Occupy – die Banken gerettet und die Arbeiterschaft ausverkauft hatte.

Biden übermittelte jedem Staatsbürger einen Scheck über 1400 Dollar, erweiterte vorübergehend die Steuergutschriften für Kinder, erhöhte die Arbeitslosenversicherung und gewährte den bundesweiten und lokalen Regierungen Finanzhilfen in der Höhe von 350 Mrd. Dollar, um Haushaltslöcher zu stopfen. Diese Unterstützung der Verbrauchernachfrage beflügelte die US-amerikanische Wirtschaft, die sich gerade zu erholen begann. Aktuell wird erwartet, dass das Wachstum in diesem Jahr 6,5 Prozent erreichen wird (allerdings im Vergleich zum Rückgang im Jahr 2020).

Wie macht man den US-amerikanischen Kapitalismus wettbewerbsfähig (mit China)?

In der Folge stellte Biden das 2,7 Billionen Dollar schwere amerikanische Arbeitsbeschaffungsprogramm vor – als Alternative zu einem vom Establishment abgelehnten Grünen New Deal. Dabei handelt es sich in den Worten der Regierung um „eine Investition in Amerika, die Millionen guter Arbeitsplätze schaffen, die Infrastruktur unseres Landes wieder aufbauen und die Vereinigten Staaten in die Lage versetzen wird, China zu überflügeln.“

Es ist geplant, 621 Mrd. Dollar in die nationale Infrastruktur – Straßen, Brücken und Verkehrssysteme – zu investieren. 590 Mrd. sind für Forschung und Entwicklung im Bereich der einheimischen Produktion sowie für die staatliche Unterstützung der US-Industrie und für die berufliche Weiterbildung vorgesehen. Diese Eckpfeiler einer neuen Industriepolitik verfolgen das Ziel, die Vorherrschaft des US-Kapitals im Technologiesektor und die Unabhängigkeit des militärisch-industriellen Komplexes des Pentagons von chinesischen Lieferketten sicherzustellen.

Weitere 328 Mrd. Dollar sollen für die umweltfreundliche Umrüstung von Häusern, Schulen und Regierungsgebäuden ausgegeben werden. Schließlich werden 311 Mrd. Dollar für den Ausbau des Breitbandnetzes, die Verbesserung des Stromnetzes und die Versorgung mit sauberem Trinkwasser für Städte wie Jackson (Mississippi) und Flint (Michigan) bereitgestellt. Viele dieser Maßnahmen kommen der Arbeiterklasse zugute, vor allem Wohngebieten mit überwiegend schwarzer Bevölkerung.

In seiner Rede vor dem Kongress kündigte Biden eine dritte zentrale Initiative an – den 1,8 Billionen Dollar schweren amerikanischen Familienplan. Seine Regierung erklärte, sie investiere „in die Zukunft der amerikanischen Wirtschaft und der amerikanischen arbeitenden Bevölkerung und ermögliche den USA, China und andere Länder auf der ganzen Welt zu überholen.“[xiv]

Der Plan zielt darauf ab, die vom Neoliberalismus zerrüttete soziale Infrastruktur der USA zu stärken. Vorgesehen sind neben einer kostenlosen vorschulischen Kinderbetreuung auch zwei kostenlose Studienjahre an einem Community College, zusätzliche Subventionen für vierjährige Studienprogramme, eine Erhöhung der Stipendien („Pell Grants“) und mehr Mittel für die Lehrerbildung. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Bereichen Naturwissenschaften, Technologie, Mathematik und Ingenieurswesen (MINT), um dem US-Kapital die für den Technologiewettstreit mit China benötigten Arbeitskräfte zur Verfügung zu stellen.

Weiters verspricht der Plan eine bezahlte Elternkarenz, Gesundheitsprogramme für (werdende) Mütter und Nachbesserungen bei Obamacare statt einer Gesundheitsversorgung für alle. Einige dieser wichtigen Reformen geben sich zwar feministisch, doch geht es Biden in erster Linie darum, die zahlreichen Frauen, die während der pandemiebedingten Rezession aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind, um ihre Kinder zu betreuen, dazu zu bewegen, an ihre Arbeitsplätze zurückzukehren, um Produkte herzustellen, Dienstleistungen zu erbringen und Profite für das Kapital zu erwirtschaften.

Der letzte Teil des Plans sieht Steuererleichterungen für Arbeitnehmer vor. Er macht Steuergutschriften für Eltern, die Kinder mit Behinderungen betreuen, dauerhaft, verlängert die befristeten Steuergutschriften für Kinder um weitere fünf Jahre und gewährt Steuergutschriften für kinderlose Niedriglohnempfänger.

Schließlich schlug Biden den Made-in-America-Tax-Plan[xv] vor, um dieses 6 Billionen Dollar schwere Steuerprogramm zu finanzieren. Er versprach, die Steuern für die Reichsten auf ein Vor-Trump-Niveau von 39,6 Prozent zu erhöhen, die Kapitalerträge der Reichen höher zu besteuern, den Körperschaftssteuersatz auf 38 Prozent anzuheben, die Steuerbehörde IRS besser auszustatten, um reiche Steuerbetrüger zu verfolgen und Unternehmen, die ihre Gewinne in internationalen Steueroasen parken, zu besteuern, sowie Steueranreize für Investitionen, Produktion und Gewinne im Land zu gewähren.

Die Grenzen von Bidens Plänen

Bidens Programm stellt zweifellos einen Bruch mit der Loyalität der Demokratischen Partei zum Washingtoner Konsens dar, der auf Privatisierungen, Kürzungen des Wohlfahrtsstaats, Deregulierung und Globalisierung setzte. Doch trotz der begeisterten Zustimmung seitens der Liberalen und trotz rechter Panik ist Bidens keynesianisches Projekt völlig unzureichend, um die tief sitzenden systembedingten Ungleichheiten des US-amerikanischen Kapitalismus zu beseitigen und den Klimawandel aufzuhalten, geschweige denn rückgängig zu machen.

Während der amerikanische Rettungsplan ein beispielloses Bündel an Sofortmaßnahmen darstellt, um die Verbrauchernachfrage zu beleben und die Haushalte der Bundesstaaten und Kommunen zu stärken, sind die verbleibenden 6 Billionen Dollar für Infrastruktur, Arbeitsplätze und Sozialausgaben, wie Adam Tooze argumentiert[xvi], eigentlich sehr gering, vor allem, wenn man bedenkt, dass sich das meiste davon über acht Jahre verteilt.

Bidens angepeilte Erhöhung der Ausgaben für den Wohlfahrtsstaat wird wenig dazu beitragen, die tief greifenden sozialen Ungleichheiten in den USA abzumildern. Susan Watkins zufolge wird der US-amerikanische Wohlfahrtsstaat, auch wenn die Pläne in Kraft treten sollten, nicht einmal das Niveau der europäischen Staaten, die ihrerseits durch neoliberale Kürzungen schwer angeschlagen sind, erreichen. Sie betont:

„Der amerikanische Rettungsplan hat Nachholbedarf. Die Arbeitslosenunterstützung in den USA ist im OECD-Vergleich erbärmlich niedrig; sie beträgt weniger als ein Zehntel des dafür vorgesehenen Budgets im Vereinigten Königreich. Im Verhältnis zum BIP sind die Sozialausgaben in Frankreich und Italien etwa 50 Prozent höher als in den USA. Die öffentlichen Ausgaben für amerikanische Familien betragen kaum ein Viertel des deutschen, französischen und britischen Niveaus.“[xvii]

Die Ausgaben zur Bewältigung des Klimawandels sind im Vergleich zu den 10 Billionen Dollar, die im Grünen New Deal vorgesehen waren, verschwindend gering, entsprechen nicht dem Ausmaß der Krise und werden kaum zu ihrer Lösung beitragen. Brett Hartl vom Center for Biological Diversity meint dazu:

 „Bidens industriefreundlicher Infrastrukturplan verspielt eine unserer letzten und besten Chancen, den Klimanotstand aufzuhalten. Anstelle eines Marshall-Plans, der unsere Wirtschaft auf erneuerbare Energien umstellen würde, enthält der Plan verführerische Subventionen für die Abscheidung und Speicherung von CO2 (CSS), hegt den unrealistischen Wunsch, dass der freie Markt uns rettet, und versäumt es, entscheidende und ehrgeizige Schritte zum Ausstieg aus fossilen Brennstoffen zu unternehmen. Biden hat versprochen, die Kohlenstoffemissionen um 50 Prozent zu senken und den Stromsektor zu dekarbonisieren, aber dieser Infrastrukturplan ist davon weit entfernt.“[xviii]

Trotz der Klagen der Unternehmen über ihre erhöhte Steuerlast weist die New York Times darauf hin, dass selbst „wenn alle von Biden vorgesehenen Steuererhöhungen umgesetzt würden, […] der Gesamtsteuersatz auf Bundesebene für die Wohlhabenden deutlich niedriger bliebe als in den 1940er, 50er und 60er Jahren. Er wäre sogar etwas niedriger als Mitte der 1990er Jahre.“

Schließlich würde eine höhere Besteuerung die Klassenstruktur der US-amerikanischen Gesellschaft in keiner Weise antasten. Michael Roberts erklärt: „Da die ungleiche Verteilung des Reichtums auf die Konzentration der Produktions- und Finanzmittel in den Händen einiger weniger zurückzuführen ist und diese Eigentumsstruktur unangetastet bleibt, reicht auch eine höhere Besteuerung des Reichtums nicht aus, um die Verteilung von Reichtum und Einkommen in modernen Gesellschaften nachhaltig zu verändern.“[xix]

Biden brachte die Grenzen seiner kosmetischen Operationen am System auf den Punkt, als er seinen Geldgebern an der Wall Street mitteilte:

„Wenn die Einkommensunterschiede so groß sind wie heute in den Vereinigten Staaten, steigt die Unzufriedenheit mit der Politik und somit die Gefahr einer Revolution. Das erlaubt Demagogen, auf den Plan zu treten und ,den anderen’ die Schuld zu geben. […] Sie alle wissen aus dem Bauch heraus, was zu tun ist. Wir können, was Einzelheiten betrifft, unterschiedlicher Meinung sein. Aber in Wirklichkeit haben wir alles selbst in der Hand. Niemand muss bestraft werden. Niemand müsste seinen Lebensstandard ändern. Nichts würde sich grundlegend ändern.“[xx]

Ein neuer nationalistischer Konsens (gegen China)

Dennoch versucht Biden, mit seinen Plänen mehrere miteinander verknüpfte politische, wirtschaftliche und imperiale Ziele zu erreichen. Ein kürzlich erschienener Bericht der New York Times über Bidens Kongressrede mit dem Titel „Biden Calls for U.S. To Enter a New Super Power Struggle“[xxi] („Biden ruft die USA auf, in einen neuen Supermachtwettstreit einzutreten”) fasst die Dynamik zusammen:

„Präsident Biden hat seine weitreichende Vision, die amerikanische Wirtschaft umzugestalten, als notwendigen Schritt gerechtfertigt, um im langfristigen Wettbewerb mit China zu bestehen, einem Wettlauf, bei dem die Vereinigten Staaten nicht nur beweisen müssen, dass Demokratien leistungsfähig sind, sondern auch, dass sie den erfolgreichsten autoritären Staat der Welt in Sachen Innovation und Produktion weiterhin übertreffen können.“

Innenpolitisch möchte Biden der gesellschaftlichen Polarisierung, welche die stabile kapitalistische Herrschaft bedroht, Einhalt gebieten. Um die politische Rechte zu schwächen, hofft er, Trumps Anhängerschaft in Teilen der Arbeiterklasse zurückzuerobern, indem er Arbeitsplätze schafft und Serviceleistungen finanziert, insbesondere in den zu Grunde gerichteten ehemaligen Industriegebieten des Landes.

Weiters will Biden die „progressive Bewegung“, insbesondere ihre parlamentarischen Vertreter, für sich gewinnen, um das Wachstum der Linken in Schach zu halten. Seine Regierung muss definitiv wieder eine gewisse Kontrolle über den nicht nachlassenden Radikalisierungsprozess erlangen, der in den Kampagnen von Bernie Sanders und in der Stärke der antirassistischen Massenbewegung im Sommer 2020 seinen Ausdruck gefunden hat.

Zu diesem Zweck werden Biden und die Führung der Demokratischen Partei ihr Bestes tun, um Forderungen wie den Grünen New Deal, eine Gesundheitsversorgung für alle (Medicare for All) und vor allem Defund the Police[xxii] an den Rand zu drängen und, wenn möglich, zum Schweigen zu bringen. Mit seinen halbherzigen liberalen Reformen will er diese Forderungen abwehren und sich gleichzeitig die Unterstützung liberaler NGOs und der Gewerkschaftsbürokratie sichern, damit diese ihre Mitglieder bei den Zwischenwahlen im Jahr 2022 an die Urnen bringen.

Biden hat bereits einige Erfolge bei der „Umarmung“ der Linken errungen. Verglichen mit Trumps Regierungszeit haben die Protestaktionen abrupt abgenommen, seit Biden im Amt ist. Er hat sich für seine Pläne die bedingungslose Unterstützung von Bernie Sanders, Alexandria Ocasio-Cortez und dem Rest des progressiven Flügels der Demokratischen Partei gesichert. Sanders ging sogar so weit, die Biden-Administration als „die fortschrittlichste seit Roosevelt“ zu bezeichnen.

Biden kann diese Unterstützung nutzen, um einen neuen nationalistischen Konsens zu schaffen und die Grundfesten des US-amerikanischen Imperialismus zu stärken. Die Erwähnung seiner vier Hauptinitiativen (American Rescue Plan, American Jobs Plan, American Families Plan und Made in America Tax Plan) war beabsichtigt. Dabei handelt es sich um nichts weniger als um eine liberale Version der „America First“-Politik. Im Gegenzug hofft die Regierung, die Hegemonie über die Verbündeten Washingtons, die Trump vor den Kopf gestoßen hatte, wieder zu erlangen und eine „Liga der Demokratien“ zu schmieden, um China sowie andere Staaten wie Russland und den Iran zu disziplinieren. Leider unterstützen sowohl Sanders als auch die meisten progressiven Demokraten diesen multilateralen Imperialismus.

Kann der imperialistische Keynesianismus funktionieren?

Es stellt sich nun die Frage, ob Bidens imperialistischer Keynesianismus funktionieren kann. Zwei Probleme könnten das gesamte Projekt zu Fall bringen. Erstens ist völlig unklar, ob es gelingen wird, die Arbeitsbeschaffungs-, Familien- und Steuerpläne durch den Kongress zu bringen.

Um das zu erreichen, müsste Biden entweder das Filibustering[xxiii] abschaffen – wofür er sich bisher aus Angst, rechte Demokraten wie Joe Manchin zu verärgern, nur widerwillig eingesetzt hat – oder aber, analog zum amerikanischen Rettungsplan (American Rescue Plan), das Paket unter Zuhilfenahme des reconciliation process[xxiv] verabschieden. Selbst dann müsste er sich mit Manchin und anderen absprechen, um das Paket auf den Weg zu bringen, indem er bei ohnehin unzureichenden Reformen weitere Kompromisse eingeht.

Aber die Chancen stehen gut, dass er sein Programm mit Ach und Krach durch den Kongress bringt. Seine Vorhaben sind bei den Wählern äußerst beliebt und das Kapital, vertreten durch die Handelskammer und den Business Roundtable, unterstützt Bidens aktive Finanzpolitik, obwohl es sich über Steuererhöhungen, und seien sie noch so gering, beklagt. Die Tatsache, dass der Aktienmarkt auf ein Rekordniveau gestiegen ist, das die ersten hundert Tage eines jeden Präsidenten von Truman bis Trump übertrifft, ist ein Zeichen für die Unterstützung der Konzerne.

Bidens größeres Problem besteht darin, dass seine keynesianische Politik das grundsätzliche Problem der Überakkumulation und der niedrigen Profitrate des US-Kapitalismus nicht lösen kann. Trotz der allzu oft von Teilen der Linken verbreiteten Mär, der Keynesianismus sei eine Lösung für die kapitalistische Krise, haben keynesianische Methoden die USA nicht aus den letzten beiden großen Krisen des Systems herausgeführt.

Roosevelts New Deal hatte das System während der Großen Depression nicht wieder belebt. Das gelang vielmehr durch die massenhaften Insolvenzen jener Zeit: Nicht wettbewerbsfähiges Kapital wurde beseitigt, die Profitrate wiederhergestellt und Raum für neue Investitionen profitabler Unternehmen geschaffen. Roosevelts Programme und insbesondere seine Kriegsausgaben hatten die Wirtschaft angekurbelt, da sie ohnehin bereits im Begriff war, sich zu erholen. Und die Zerstörung Europas und Asiens durch den Krieg eröffnete weitere Möglichkeiten für rentable Investitionen, was zu dem langen Nachkriegsboom führte.

Auch während der Krise der 1970er Jahre hatte der Keynesianismus keine Antwort auf die durch Überakkumulation und geringe Rentabilität verursachte Stagflation (stagnierendes Wachstum bei hoher Inflation). Trotz wiederholter Versuche von Richard Nixon, der bekanntlich erklärte: „Wir sind jetzt alle Keynesianer“, das Wachstum durch Staatsausgaben anzukurbeln, scheiterte diese Strategie. Daher wandte sich die herrschende Klasse zunächst unter Jimmy Carter und schließlich deutlich entschlossener unter Ronald Reagan dem Neoliberalismus als neuer Strategie zu.

Aktuell haben Bidens nationale Impfkampagne und seine Konjunkturanreize einen Wachstumsschub ausgelöst. Doch dieser Aufschwung wird, wie Michael Roberts ausführt, wahrscheinlich nur ein vorübergehendes Aufflackern sein und wie vor der pandemiebedingten Rezession von einer stagnierenden Wirtschaft abgelöst werden.

In Wahrheit wird Bidens Keynesianismus, wie bei den vorangegangenen großen Systemkrisen, keinen neuen Aufschwung auslösen. Keine noch so hohen Staatsausgaben, vor allem nicht die von Biden vorgeschlagenen relativ bescheidenen Beträge, können die durch die geringe Rentabilität bedingten zögerlichen Investitionen des Privatkapitals ausgleichen.

Schlimmstenfalls könnten Bidens Staatsausgaben die Probleme des Systems sogar weiter verschärfen. Die Linie der Federal Reserve, die Zinssätze auf einem Rekordtief zu halten, obwohl sich die Wirtschaft erholt, ermöglicht Zombie-Unternehmen nach wie vor, billige Kredite aufzunehmen. Dadurch werden die Abwanderung von nicht wettbewerbsfähigem Kapital aus dem System und die Wiederherstellung der Profitrate verhindert.

Bidens großzügige Ausgabenpolitik könnte zudem neue Probleme für das System verursachen. Es besteht die Gefahr, dass die Nachfrage bei einem Angebot, das durch die Investitionszurückhaltung des Kapitals begrenzt ist, in die Höhe getrieben wird. Dieser Nachfrageüberhang könnte bei relativ stagnierendem Wachstum einen Inflationsschub auslösen – eine Rückkehr zum Alptraum der Stagflation der 1970er Jahre.

Schon jetzt steigt die Inflation schleichend an, und wenn sie anhält, wird die Federal Reserve gezwungen sein, die Zinssätze zu erhöhen, um eine Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern, sodass es für Zombies schwierig sein wird, sich neue Kredite zu leisten und einen Konkurs zu riskieren. Sollte das eintreten, könnte sich das Kapital gegen Biden wenden und die Grand Old Party (GOP)[xxv] dabei unterstützen, Sparmaßnahmen auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung und der Unterprivilegierten durchzusetzen.

Sozialisten dürfen nicht zum Anhängsel von Bidens Liberalismus werden

Aktuell jedoch erlebt Bidens imperialistischer Keynesianismus noch seine Blütezeit. Er wurde von der Basis der Demokratischen Partei akzeptiert und hat die sozialistische Linke überrascht, die nicht weiß, wie sie reagieren soll.

Die neue Linke, vor allem die Demokratischen Sozialisten von Amerika (DSA), hat sich in Opposition zu den neoliberalen Demokraten und den rechten Republikanern radikalisiert und war daher nicht darauf vorbereitet, mit Bidens Keynesianismus umzugehen. Noch schwerer wiegt die Tatsache, dass Sanders den New-Deal-Liberalismus mit einer sozialistischen Politik verwechselt und gemeinsam mit Alexandria Ocasio-Cortez und der Gruppierung „the Squad“[xxvi] Biden bei dessen Umsetzung unterstützt.

So ist die Linke dabei, zum Anhängsel von Bidens imperialistischem Keynesianismus zu werden. Es verwundert nicht, dass die Liberalen Biden begeistert unterstützen, aber Teile der Linken haben sich ihnen angeschlossen. Sie glauben (fälschlicherweise), dass Biden ihnen zuhört und sogar ihr Programm übernimmt. Das tut er nicht; er setzt ein liberales imperialistisches Programm um, das vom Washingtoner Establishment ausgearbeitet wurde, um den US-Kapitalismus zu stärken.

Andere sind zu kritischen Befürwortern von Bidens Vorhaben geworden, da es aktuell nicht möglich sei, weitreichende Reformen durch den Kongress zu bringen. Bestenfalls setzen sie sich für oberflächliche Verbesserungen ein. Diese realpolitische Haltung führt dazu, dass die Linke völlig unzureichende Reformen unterstützt, die sie in wesentlichen Teilen eigentlich ablehnen sollte, und sie daran hindert, sich für radikalere Reformen einzusetzen.

Einige Biden-kritische Stimmen versuchen, das von ihnen unterstützte keynesianische Programm gesondert zu betrachten, während sie das imperialistische Ziel der Konfrontation mit China ablehnen. Aber es ist nicht möglich, diese beiden Seiten der Politik Bidens zu trennen. Bidens Programme zielen, wie er selbst und alle Mitglieder seiner Regierung immer wieder betonen, darauf ab, die Wettbewerbsposition der USA in der Weltwirtschaft gegenüber China zu verbessern.

Ausgehend von diesen falschen Prämissen vertritt die Mehrheit der Linken aktuell die Position, dass der Schlüssel zur Veränderung der Gesellschaft darin liegt, die Demokraten zu wählen bzw. für sie zu kandidieren. Tatsächlich wären jedoch massenhafte, das System erschütternde und, falls erforderlich, illegale Kämpfe außerhalb der und mitunter gegen die Demokratische Partei die beste Strategie für die Linke, notwendige Reformen durchzusetzen.

Wir dürfen nicht vergessen, dass die bestehenden Klassenunterschiede erst seit der Entstehung der Occupy-Bewegung in einer breiteren Öffentlichkeit diskutiert werden. Erst die Streiks der Chicagoer Lehrergewerkschaft, der United Teachers of Los Angeles und die illegalen Streiks des Lehrpersonals in einigen roten Bundesstaaten haben das Establishment veranlasst, sich mit den Anliegen von Lehrkräften, Schülern und der Bevölkerung auseinanderzusetzen. Und, was wohl der wichtigste Punkt ist, erst durch die Black-Lives-Matter-Bewegung sah sich das demokratische Establishment gezwungen, das Problem des strukturellen Rassismus zumindest rhetorisch anzuerkennen.

Eine sozialistische Alternative zum imperialistischen Keynesianismus

Wir als Sozialisten müssen Bidens Lockruf widerstehen, seiner Regierung den Rücken zu stärken. Stattdessen müssen wir unsere Unabhängigkeit bewahren, indem wir Kämpfe für radikale Reformen organisieren oder uns daran beteiligen. Nur so können wir eine sozialistische Alternative zu Biden und zu den Demokraten aufbauen. Andererseits müssen wir vermeiden, in eine ultralinke Falle zu tappen und Bidens liberale Reformen als bedeutungslos abzutun, denn sie werden das Leben der Menschen verbessern, auch wenn das nicht das primäre Ziel des Reformpakets ist. Aber statt einer bedingungslosen Unterstützung sollten wir eine drastische Auswe


[i] Unter „liberal“ versteht man im US-amerikanischen Kontext fortschrittliche Strömungen bzw. Parteien.

[ii] Als Great Society („großartige Gesellschaft“) wird das Programm sozialpolitischer Reformen der US-Regierung unter dem von 1963 bis 1969 amtierenden Präsidenten Lyndon B. Johnson bezeichnet.

[iii] Scranton in Pennsylvania ist die Stadt von Bernie Sanders.

[iv] Fortune Global 500 ist eine jährlich erscheinende Liste der 500 umsatzstärksten Unternehmen der Welt. Sie wird vom US-amerikanischen Wirtschaftsmagazin Fortune veröffentlicht. https://fortune.com/2020/08/10/fortune-global-500-china-rise-ceo-daily/

[v] Als Räuberbarone (robber barons) werden US-amerikanische Kapitalisten des späten 19. Jahrhunderts bezeichnet.

[vi] = republikanische Bundesstaaten

[vii] https://www.forbes.com/sites/cartercoudriet/2019/10/15/billionaires-more-taxes-gates-buffett-bloomberg/?sh=69af86027792

[viii] Eine konservative Lobby der Führungskräfte großer US-amerikanischer Unternehmen, die 1972 gegründet wurde, um auf die Politik und die Regierung der Vereinigten Staaten Druck auszuüben. https://www.businessroundtable.org/business-roundtable-redefines-the-purpose-of-a-corporation-to-promote-an-economy-that-serves-all-americans

[ix] https://www.politico.com/news/2021/02/12/chamber-of-commerce-biden-468820

[x] https://www.blackrock.com/us/individual/larry-fink-ceo-letter

[xi] https://foreignpolicy.com/2020/02/07/america-needs-a-new-economic-philosophy-foreign-policy-experts-can-help/

[xii] Mitte Mai 2020 leitete die US-Regierung die „Operation Warp Speed“ ein, um die Entwicklung und Herstellung viel versprechender Impfstoffkandidaten gegen SARS-CoV-2 zu beschleunigen. Der Name des Projekts leitet sich vom fiktiven Warp-Antrieb in der Serie Raumschiff Enterprise ab, mit dessen Hilfe die Lichtgeschwindigkeit überflügelt wird.

[xiii] Der Coronavirus Aid, Relief, and Economic Security Act ist ein 2,2 Billionen schweres Paket zur Belebung der Wirtschaft. Das Gesetz wurde am 27. Mai 2020 von Präsident Trump unterzeichnet.

[xiv] https://www.whitehouse.gov/briefing-room/statements-releases/2021/04/28/fact-sheet-the-american-families-plan/

[xv] https://home.treasury.gov/system/files/136/MadeInAmericaTaxPlan_Report.pdf

[xvi] https://soundcloud.com/novaramedia/downstream-how-radical-is-president-joe-biden-w-adam-tooze

[xvii] https://newleftreview.org/issues/ii128/articles/susan-watkins-paradigm-shifts

[xviii] https://www.commondreams.org/news/2021/03/31/critics-warn-biden-infrastructure-plan-falls-woefully-short-climate-crisis

[xix] https://thenextrecession.wordpress.com/2021/05/02/wealth-inequality/

[xx] https://www.bloomberg.com/news/articles/2019-06-19/biden-tells-elite-donors-he-doesn-t-want-to-demonize-the-rich

[xxi] https://www.nytimes.com/2021/04/29/us/politics/biden-china-russia-cold-war.html

[xxii] Gefordert wird eine Umschichtung der Mittel für die Polizei auf andere Bereiche wie Programme für die psychische Gesundheit.

[xxiii] Taktik einer Minderheit, durch Dauerreden eine Beschlussfassung durch die Mehrheit zu verhindern oder zu verzögern.

Formularbeginn

[xxiv] Im Fall der reconciliation (Versöhnung) genügt die Unterstützung einer einfachen Mehrheit des Senats für die Verabschiedung eines Gesetzes.

[xxv] die Republikanische Partei

[xxvi] „The Squad“ ist die informelle Bezeichnung einer Gruppe von sechs demokratischen Abgeordneten des Repräsentantenhauses.

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