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Länder

Antisoziale Politik in Brasilien: Die Angst siegt über die Hoffnung

Von Daniel Bensaïd | 01.04.2004

Ein knappes Jahr ist seit Lulas Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2002 vergangen. Immer noch betrachtet die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung diese Regierung als die ihrige, aber sie beurteilt deren Politik immer weniger als in ihrem Sinne.

Ein knappes Jahr ist seit Lulas Sieg bei den Präsidentschaftswahlen 2002 vergangen. Immer noch betrachtet die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung diese Regierung als die ihrige, aber sie beurteilt deren Politik immer weniger als in ihrem Sinne.

Schon während der Wahlkampagne 2002 war Lula mit einem "Brief an alle Brasilianer" Verpflichtungen eingegangen, die darauf abzielten, den IWF und die USA zu beruhigen. Mit der Bildung der Regierung wurden diese Zusagen durch die Berufung des Direktors der Boston Bank zum Präsidenten der Zentralbank und mit der Benennung einer eher neoliberalen als sozialen Führungsspitze im Wirtschafts- und Finanzministerium bestätigt. Die offizielle Marschrichtung ist klar: Zuerst die Inflation in den Griff bekommen und die Märkte beruhigen. Und erst dann werde, wie Lula mit unfreiwilliger Komik erklärte, "das Schauspiel des Wachstums beginnen."

Statt des angekündigten Schauspiels schnappt die brasilianische Wirtschaft verzweifelt nach Luft. Der geplante "Übergang" ist auf unbestimmte Zeit verschoben. Der Soziologe Chico de Oliveira hat die Wahlkampfparole umgedreht und vertritt bereits die Einschätzung, dass "die Angst über die Hoffnung siegt." Um ausländische Investitionen anzuziehen, hat sich die Regierung verpflichtet, dem Schuldendienst pünktlich und auf Heller und Pfennig nachzukommen.

Sie hat den Zinssatz auf astronomische Höhen (über 26%) angehoben und das völlig unsinnige Ziel der Begrenzung des Haushaltsdefizits auf 4,5% ausgegeben, was sich voll zu Lasten der Öffentlichen Dienstleistungen und Investitionen auswirkt, aber auch zu Lasten der privaten Investitionen. In der Folge sind allein im ersten Halbjahr die Investitionen um 12% gesunken. die Erwerbslosigkeit steigt, in der Region von São Paolo [der mit Abstand wichtigsten Industrieregion des Landes, d. Übers.] war sie seit 1995 nicht mehr so hoch.

Die im August vom Parlament mit der Begründung des Abbaus von Privilegien verabschiedete Rentenreform fügt sich nahtlos in den von der Weltbank geforderten Rahmen ein und zwar genau so, wie sie zurzeit in mehreren Ländern der Welt umgesetzt wird. Die Beitragsdauer für die Beschäftigten des Öffentlichen Dienstes wird um 7 Jahre erhöht, was für die Mehrheit der in diesem Bereich Beschäftigten, besonders für Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrochen haben, empfindliche Rentenkürzungen zur Folge hat. Mit dieser Reform wird auch den Rentenfonds die Tür geöffnet, die sich "öffentlich" nennen, aber von Privatbanken verwaltet werden.
"Good bye Mister da Silva! Lula, komm zurück!1 "
Die ersten sichtbaren Konsequenzen dieser verheerenden Politik sind auf zwei Ebenen zu beobachten. Zum einen sind die angekündigten Reformen in "spektakulärer" Weise gescheitert. Die Kampagne "Null Hunger" hätte Teil eines umfassenden Programms der Sozialreform einschließlich einer Finanzreform, eines Beschäftigungsprogramms und der Entwicklung des Öffentlichen Dienstes sein müssen; aufgrund der fehlenden Mittel beschränkt sie sich auf eine Kampagne öffentlicher Wohltätigkeit mit mickrigen Ergebnissen. Auch die Kredite, die für die Agrarreform zu Verfügung gestellt werden – was immer als eine Priorität der Regierungspolitik ausgegeben worden war – sind erbärmlich.

Zum zweiten mehren sich ganz deutlich die Anzeichen der Desillusionierung und der Unzufriedenheit bei den sozialen Bewegungen. Vor allem bei den Beamten, die Opfer der Rentenreform wurden. Sie haben sich im Juli-August mobilisiert und anlässlich der Debatte im Senat mit einer Demonstration das Parlament gestürmt. Sie stellen einen bedeutenden Teil der PT-Wählerschaft in den Großstädten und wenn die Regierung mit ihrer gegenwärtigen Politik fort fährt, könnte die Partei bei den Kommunalwahlen Ende 2004 abgestraft werden.

Am 1. Mai hat eine Reihe von bekannten Persönlichkeiten (darunter der ehemalige Bischof von São Paolo, Vertreter der Befreiungstheologie oder der Sänger Chico Buarque) einen offenen Brief an die Regierung gerichtet, um sie zu ihrer Haltung zur Amerikanischen Freihandelszone (ALCA) zu befragen. Sie befürchten einen großen lateinamerikanischen Markt, der von den USA beherrscht wird. Am 30. Mai haben 30 der 90 PT-Abgeordneten einen Text unterzeichnet, in dem sie die monetaristische Politik der Zentralbank kritisieren. Am 10. Juni erschien ein Alarmsignal, das von vielen namhaften Intellektuellen unterzeichnet war, zum größten Teil Mitglieder oder SympathisantInnen der PT. Am 12. Juni haben dann mehrere hundert bekannte Ökonomen eine Kritik an der Wirtschafts- und Finanzpolitik der Regierung veröffentlicht. Anfang Juni kam auf dem Kongress des Gewerkschaftsverbandes CUT (80% der 2700 Delegierten waren Mitglieder der PT oder anderer Parteien der Regierungskoalition) das Unwohlsein zahlreicher Gewerkschaftsfunktionäre zum Ausdruck. Die Führung der CUT stellte drei Abänderungsanträge zur Rentenreform, aber sie wurden nicht übernommen.

Auch auf dem Kongress der Nationalen Studentenvereinigung sind die linken kritischen Strömungen stärker geworden. Seit Anfang des Jahres haben sich die Landbesetzungen verdreifacht und die Zusammenstöße zwischen den Landlosen und den Milizen der Großgrundbesitzer nehmen täglich zu. (s. auch Kasten)

Die Kritik an der Regierung wächst ständig, aber die Popularitätswerte von Lula bleiben mit annähernd 80% sehr hoch. Ein Großteil der Lohnabhängigen betrachtet diese Regierung als ihre Regierung, aber immer weniger können sie sich mit deren Politik identifizieren. Auf manchen Transparenten der protestierenden Beamten kommt dies sehr gut zum Ausdruck: "Good bye Mister Silva! Lula, komm zurück!" Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Regierung basiert auf einer Grundsatzentscheidung. Eine größere Umorientierung der PT kann es somit nicht ohne Krisen und Brüche vor allem auf Regierungsebene geben.

Die Gruppe der 30 kritischen PT-Abgeordneten hat sich anlässlich der Abstimmung zur Rentenreform gespalten. 24 haben sich der Parteidisziplin gebeugt, auch wenn sie das Gesetz weiterhin kritisieren. Bei der entscheidenden Abstimmung haben sich 7 Abgeordnete mit der Begründung enthalten, sie wollten weder gegen ihre Partei noch gegen ihr Gewissen stimmen. 4 Abgeordnete – darunter unser Genosse Walter Pinheiro, Abgeordneter aus Bahia – haben dagegen gestimmt. Gegen 3 von ihnen läuft ein Parteiausschlussverfahren. Sie werden eventuell der PSTU beitreten, um eine neue Partei zu gründen. Unsere Genossin Héloïsa Helena (Senatorin) ist ebenfalls vom Ausschluss bedroht.
Eine blairistische PT in der Version Bossa Nova
Der Sinn dieser Disziplinierungsoffensive zu Lasten des Pluralismus, der den Reichtum der PT ausmacht, ist klar: Die Partei soll ihre Rolle neu bestimmen; entweder als Sprecherin der sozialen Bewegungen oder als Transmissionsriemen für die Regierungsmaßnahmen in die Gesellschaft hinein. Auf dem Spiel steht die
Zukunft einer Partei der ArbeiterInnenklasse, die als Ausdruck einer massiven Radikalisierung gesellschaftlicher Kämpfe seit Ende der 70er Jahre entstanden war. Ihre Transformation in einer "neue PT", eine Art blairistische "dritter Weg"-Partei (Version Bossa Nova) wird in den kommenden Monaten nicht ohne große Widerstände seitens der historischen PT verlaufen, dies allein schon deswegen, weil die Regierungspolitik in offenem Widerspruch zu den Resolutionen des letzten Parteitags vom Dezember 2001 steht.

Die brasilianische Frage wird also in den Debatten der Linken eine zentrale Rolle spielen. Zunächst in Lateinamerika: Wenn im stärksten Land des Subkontinents eine Linksregierung nichts Anderes zustande bringt als sich dem IWF und der Weltbank zu unterwerfen, welche Schlussfolgerungen sollen dann die oppositionellen Volksbewegungen in Ecuador, Bolivien, Uruguay usw. ziehen? Schließlich ist es möglich, mit Argentinien und Venezuela eine Front gegen die Gläubiger zu bilden.

Auf der internationalen Ebene identifiziert sich die Sozialdemokratie mit der "lulistischen Erfahrung" und stellt dessen "Weisheit", nämlich im Schneckentempo und im breiten Bündnis nach "brasilianischem Modell" vorzugehen, der Flucht nach vorne gegenüber, wie sie die chilenische Regierung unter Allende durchgeführt habe, die damit den Staatsstreich Pinochets erleichtert (wenn nicht provoziert!) habe. Ohne eine radikale Änderung der Politik in Brasilien wird es ein sehr brutales Erwachen geben.
Wie steht es mit der Landreform?
In einem Land, in dem 10% der Grundbesitzer über 80% des Landes verfügen, ist die Landreform eine der drängendsten Fragen. Sie kann nicht auf die Landverteilung beschränkt bleiben. So haben z. B. von den 500 000 Familien , die in den Jahren 1995 bis 2002 Land erhielten, 90% kein Wasser, 80% haben immer noch keinen Strom und keinen Zugang zum Straßennetz, 57% bekommen keine Kredite, um sich eine Wohnung zu bauen, und mehr als die Hälfte bekommt keine technische Hilfe.

Seit seinem Amtsantritt hat der Minister für Landwirtschaftsentwicklung und Agrarreform die Mittel für die bäuerliche Landwirtschaft verdoppelt, die Kredite für zahlreiche Bauern neu verhandelt, eine Versicherung für die Kleinbauern eingerichtet, die von Naturkatastrophen getroffen werden, spezifische Kreditlinien für Frauen, junge Menschen und die Biolandwirtschaft entwickelt und ein staatliches Aufkaufprogramm geschaffen, das den Produzenten bestimmte Mindestpreise garantiert.

Für den Übergang zu einer zweiten Phase der Reform, die sich die Landverteilung vornimmt, wird die Haushaltsfrage entscheidend. Die Zahl der Familien, die Land wollen, wird auf 4 Millionen geschätzt. Im Staatshaushalt waren bisher gerade mal die Mittel, um etwa 10 000 Familien zu versorgen. Mit dem Haushalt des Jahres 2004 schlägt die Stunde der Wahrheit, und zwar um so mehr als die Spannungen steigen und die gewaltsamen Zusammenstöße zwischen den Landlosen und den Milizen der Großgrundbesitzer zunehmen. Mehrere Dutzend AktivistInnen und Landlose sind aufgrund des Einschreitens der Justiz in mehreren Bundesstaaten in Haft, während die Rechte eine unaufhörliche Kampagne gegen den Minister Miguel Rossetto führt, den sie als Vertreter der Gesetzlosen bezeichnet.

1 Sein vollständiger Name lautet Ignacio "Lula" da Silva (d.Übers.)

entnommen aus rouge vom 4.10.03, der Zeitung unserer französischen Sektion LCR
(Übers.: D. Berger)

 

Neue Koordination
Im August hat sich eine Koordination verschiedener Bewegungen gebildet: Weltfrauenmarsch, MST, CUT, StudentInnenbewegung, Verbände der Erwerbslosen und der Obdachlosen, verschiedene katholische Gewerkschaften und Bewegungen sowie Künstler und Intellektuelle. Sie hat alternative Vorschläge zu den drei von der Regierung angekündigten Reformen erarbeitet: Soziale Sicherungssysteme, Finanzen und Erziehung. Diese Koordination ist schon in einer Kampagne gegen die ALCA (Freihandelszone) aktiv und hat eine nationale Initiative gegen Erwerbslosigkeit und für das Recht auf einen Arbeitsplatz beschlossen.

 

 

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