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Länder

Ankara Massaker – ein Augenzeugenbericht

Von Robert Noone | 16.11.2015

Die Türkei leidet seit den letzten Parlamentswahlen unter eine Terrorwelle. Am 7. Juni hat die Regierungspartei ihre Mehrheit verloren und Erdoğan hat gleich danach erklärt, dass die Wahl „wiederholt“ werden muss. Nach anderthalb Monaten ergebnisloser Koalitionsgespräche hat er Neuwahlen angeordnet.

Parallel zu diesen Entwicklungen und nach dem Massaker in Suruç rollt eine beispielslose Welle der Gewalt über die Türkei. Unter dem Vorwand, die PKK zu bekämpfen, führt die Regierung ein halb-militärisches Regime in Süd- und Südost Anatolien. Mehrere Dutzend Bürgermeister der HDP (Demokratische Partei der Völker) wurden verhaftet oder abgesetzt. Fast alle HDP-Büros im ganzen Land wurden von einem organisierten Mob angegriffen und zum Teil in Brand gesteckt.

Seit Monaten werden kurdische Städte und Stadtteile (in Großstädten wie Diyarbakır) werden von Militäreinheiten, speziellen Polizeiteams und Gendarmerie umzingelt und beschossen. Laut Menschenrechtsverein (IHD) gab es seit dem 24. Juli 114 zivile Tote. In vielen Städten gibt es mehrtägige Ausgehverbote für die Bevölkerung. Währenddessen werden Wohnungen, Läden, Vereinshäuser von den „Esadullah teams“ (das sind nicht uniformierte spezielle Einheiten) wahllos unter Beschuss genommen.

Gegen diese Entwicklung haben verschiedene Gewerkschaften und Berufsverbände von Ingenieuren, Architekten, Ärzten und Rechtsanwälten für eine Friedensdemo am 10. Oktober in Ankara aufgerufen. Gleichzeitig hat die PKK erklärt, dass ihre Einheiten ab 11. Oktober keine bewaffneten Aktionen durchführen, solange sie nicht angegriffen werden. HDP und andere linke Organisationen und Parteien waren nicht unter die Organisatoren. Dennoch haben fast alle demokratischen und linken Organisationen ihre Mitglieder und ihr Umfeld dafür mobilisiert.

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Für die Demonstration am 10. Oktober gab es eine landesweite Mobilisierung. Ich habe Ankara ein Tag vorher erreicht. Am Samstag früh sind wir mit ein paar Freunden von Stadtzentrum zu Fuß zum Hauptbahnhof, wo die Demo-TeilnehmerInnen sich sammeln sollten, gegangen. Als wir ca. 500 Meter vom Bahnhofsvorplatz entfernt waren, sahen wir, dass die Zubringerstraße von Verkehrspolizisten blockiert war. Sie stoppten nur die Busse und Autos, die die Demonstranten aus anderen Städten nach Ankara gebracht hatten. Ab dieser Straßenkreuzung mussten die DemonstrantInnen zu Fuß zu Bahnhofvorplatz gehen. Aber niemand wurde kontrolliert oder durchsucht. Es war sehr überraschend, dass die Menschen ohne irgendeine Kontrollmaßnahme den Sammelpunkt erreichen konnten.

Wir haben dem keine große Bedeutung beigemessen uns sind weiter zum Bahnhofsvorplatz gelaufen. Wir dachten, die Polizei würde sich wahrscheinlich vor dem Bahnhof postiert halten. Aber als wir uns dem Bahnhof näherten, gab es immer noch keine Polizeieinheiten zu sehen. Die Straße geht etwas bergauf; so konnten wir auch die etwas entferntere Umgebung beobachten. Aber auch hier waren keine Polizisten zu sehen.

Die Sammelpunkte bei Demonstrationen in der Türkei wimmeln normalerweise von zivilen Polizisten, sich als fliegende Händler tarnende Beamte und übliche Informanten. Aber es war niemanden zu sehen, als ob jedes Gesindel sorgsam entfernt wurde. Wir haben kurz darüber gesprochen und obwohl es eine Warnung sein konnte, haben wir uns der Menge angeschlossen.

Kurz vor 10 Uhr waren schon 14 000 Menschen am Bahnhofsplatz und in den Seitenstraßen versammelt, Dutzende Busse brachten immer noch Menschen von anderen Städten. Die Organisationskomitee hat vor Wochen durch Wandplakate, die überall in Ankara zu sehen waren, bekannt gegeben, dass die Menschen um 10 Uhr zusammenkommen und der Demonstrationszug um 11 Uhr Richtung Sıhhiye (ein zentraler Platz in Ankara) sich in Bewegung setzen sollte. (Die türkische Innenminister und auch Davutoğlu sagten nach dem Massaker, dass sie keine Informationen hatten, dass die Menschen sich zuerst am Hauptbahnhof sammeln wollten.) Es war nicht mehr möglich wegen eines „komischen Gefühls“ die versammelte Menschenmenge aufzulösen.

Wir haben gemerkt, dass am Vorplatz unter einem Baum eine Gruppe von HDP Anhängern (ca. 30 – 40 Leute) sich versammelt hatten. Sie sangen Lieder und schwankten HDP Banner und Flaggen. Weil wir eine Freundin aus der HDP treffen wollten, sind wir in diese Gruppe reingegangen. Aber unsere Freundin war nicht da. Wir wollten sie weiter suchen und haben uns von dieser Gruppe in Richtung Bahnhofshalle entfernt. Als wir 13 – 14 Meter von der Gruppe entfernt waren, hat uns eine wuchtige Explosion nach vorne gedrückt. Als ich nach hinten geschaut habe, konnte ich sehen dass eine Rauchwolke, hinter dem Baum, wo wir vor 1 – 2 Minuten vorher noch waren, empor kam. Die Luft war voll von Ästen, zerfetzte Körperteile und kleine dunkle Kügelchen. Menschen rannten in alle Richtungen. Ich wollte mich in die Bahnhofshalle retten. Im gleichen Augenblick ist die breite und ziemlich hohe Glasfront wand der Bahnhofshalle zerbrochen. Es regnete von hinten Körperteile, Äste, und kleine Kugeln und Glasteile von vorne. Ich habe versucht, mit meinem Rucksack meinen Kopf zu schützen und mich in die Bahnhofsvorhalle zu bringen. In dem Augenblick habe ich eine zweite Explosion gehört. Es kam aber nicht von der gleichen Stelle, sondern in ca. 70-80 Meter Entfernung Richtung Sıhhiye-Zubringerstraße.

In der Halle konnte ich feststellen, dass ich nicht verletzt war, aber mein Sakko war voll mit Blutflecken. Als ich gesehen habe, dass meine Freunde sich auch in der Halle retten konnten, war ich etwas beruhigt. Nach 5 – 6 Minuten als der erste Schock und die Orientierungslosigkeit vorbei war, sind wir aus der Halle raus gegangen. Wir wollten verstehen, was genau passiert war und den Verletzten helfen. Deswegen haben wir uns vorsichtig zurück zur Explosionsstelle bewegt. Der Boden war voll mit zerfetzten Körperteilen und schwarz-grauen Kugeln. Eine kleine Gruppe von Menschen war schon an der Stelle, um Erste Hilfe zu leisten.

Bevor wir die Explosionsstelle erreichen konnten, ist ein Polizeiauto mit hoher Geschwindigkeit in diese Gruppe, die sich um die auf dem Boden liegenden Toten und Verletzten versammelt hatten, gefahren. Die Menschen haben sich vor das Polizeiauto geworfen, um die Verletzen zu schützen. Innerhalb einer Minute hat eine größere und wütende Menge das Auto umzingelt und angefangen, mit zerfetzten Flaggenstöcken und Fäusten auf das Polizeiauto zu hauen. Sie wollten, dass das Auto zurückfährt. Als die beiden Polizisten gemerkt haben, dass sie nicht weiter fahren konnten, hat der beisitzende Polizist seine Pistole gezogen 8 bis 9 Mal geschossen. Mir schien es, dass er eher in die Menge geschossen hat, statt in die Luft zu schießen. Schließlich haben die Polizisten das Auto zurückgefahren. Die Leute haben sich wieder um die Verletzen gekümmert.

Nach 8-10 Minuten hat eine bewaffnete (Gasgewehre, Pistolen, Masken, Schilder usw.) Polizeieinheit, aus der Richtung Sıhhiye kommend, die gleiche Stelle angegriffen und angefangen, mit Gasgewehren zu schießen. Im gleichen Augenblick haben sie mit einem Wasserwerfer (TOMA) von der anderen Seite (Richtung Tandoğan) versucht, die Helfer auseinander zu treiben. Aber die Menschen waren standhaft. Noch mehr haben sich zur Explosionsstelle bewegt und die Polizisten und das TOMA zurückgedrängt. 15 Minuten nach diesen
Geschehnissen hat der erste Krankenwagen die Explosionsstelle erreicht. (Da ich von der zweiten Explosionsstelle ziemlich entfernt war und mit den Ereignissen vor der Bahnhofshalle und um den Baum sehr beschäftigt war, weiß ich nicht genau, was an der zweiten Stelle passiert war.)

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All das zeigte deutlich, dass die Polizei ihre Einheiten mit Absicht aus dem Bahnhofsplatz und der Umgebung zurückgezogen hatte. Ohne einen deutlichen und klaren Befehl wären sonst mindestens einzelne Polizisten oder zivil Beamten auf dem Platz zu sehen gewesen. Wenn man bedenkt, dass die verschiedenen  Einheiten und Abteilungen der Sicherheitskräfte unter verschiedenen Befehlsketten liegen, muss der Zurückhaltungsbefehl von einer zentralen und höheren Stelle gekommen sein. Letztendlich ohne irgendwelche Informationen, was auf dem Platz geschehen wird, hätte diese „Abwesenheit“ keinen Sinn ergeben.

Dieses Massaker in Ankara zeigt deutliche Gemeinsamkeiten mit den Bombenattentaten in Diyarbakır (5 Tote) und in Suruç (33 Tote). Das Verhalten der Sicherheitskräfte, die Vorgehensweise der Attentäter, die Bauart der Bomben und die gewählte Zielgruppe sind gleich. Der einzige Unterschied ist die steigende Zahl der Opfer (nach offiziellen Angaben 102 in Ankara).  Daher ist es deutlich, dass hinter diesen Angriffen die gleiche Organisation und die gleiche Strategie liegen.

Trotz dieser Tatsachen und den sehr wahrscheinlich gewollten und offenen „Fehlern“ vonseiten der Sicherheitsorganisationen und der Regierung erklärte Erdoğan vier Tage nach dem Massaker, dass „diejenigen, die die Regierung kritisieren, auf der Seite der Terroristen stehen“.

Ankara, 17.10.15

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