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Antifa/Antira

Alle reden über „Faschismus“…

Von Helmut Dahmer | 01.05.2010

Nach dem ersten Weltkrieg bildeten sich in Italien, Deutschland und anderen europäischen Staaten neuartige anti­sozialistische Bewegungen heraus.

Nach dem ersten Weltkrieg bildeten sich in Italien, Deutschland und anderen europäischen Staaten neuartige anti­sozialistische Bewegungen heraus.

Sie rekrutierten sich vor allem aus den mittleren sozialen Schichten, deren Angehörige sich vor der Proletarisierung – dem Verlust von Eigentum und Privilegien – fürchteten und darum gegen das große Kapital und die Arbeiterbewegung gleichermaßen Front machten. Ihren Kern bildeten enttäuschte Offiziere und Soldaten, die sich in der Nachkriegsgesellschaft nicht zurechtfanden.
Die von Mussolini, einem ehemaligen Linken, organisierten Kampfbünde (Fasci di Combattimento) gaben diesen „massenfeindlichen Massenbewegungen“ den Namen. In Deutschland nannten sich die Faschisten „Nationalsozialisten“. Sie machten aus der Furcht vor Enteignung (durch das Großkapital oder die Arbeiterbewegung) ihr Programm, wobei sie auf den traditionellen Antisemitismus zurückgriffen. In dem Maße, in dem sich im Mittelalter und in der frühen Neuzeit Fernhandel und Geldverkehr entwickelten, wurde die darauf spezialisierte jüdische Minderheit gebraucht und gefürchtet. Die Verlierer der frühkapitalistischen Modernisierung suchten nach Schuldigen. So entstand das Phantasma vom Juden als dem gefährlichen Fremden, das später, im ausgehenden 19. Jahrhundert, „modernisiert“ wurde: Nun galten die Juden nicht nur als „Christusmörder“, sondern als eine gefährliche „Rasse“, die es zu verfolgen und auszurotten galt.

In mittelständischer Perspektive erschienen „Wallstreet“ und „Kreml“ als die beiden Hauptquartiere ein und derselben „jüdischen Weltverschwörung“. Hitler ließ dann 1933 die deutschen Arbeiterorganisationen von seinen eigenen Kampfbünden zerschlagen, wobei er auf die Unterstützung von Polizei, Justiz und Armee zählen konnte. Die Vertreibung und Vernichtung erst der deutschen, dann der europäischen Juden war für ihn ein ebenso wichtiges Kriegsziel wie die Etablierung der deutschen Vorherrschaft in Europa und die Eroberung des stalinistischen Russland.
Voraussetzungen einer faschistischen Bewegung
„Faschismus“ (oder „Nationalsozialismus“) bedeutet also die Bildung einer von „Proletarisierung“ bedrohten „mittelständischen Sammlungsbewegung“, die sich, von nationalistischen Demagogen aufgehetzt, gegen „feindliche“ Ethnien beziehungsweise Nationen und vermeintliche „Fünfte Kolonnen“ von „Fremden“ im Landesinneren in Marsch setzen lässt und nach Krieg, Raub und Pogromen giert. Die seelische Verfassung und das „Weltbild“ von Menschen, die für faschistische Agitation anfällig sind, wurden in den vierziger Jahren von den aus Hitlerdeutschland geflohenen Sozialwissenschaftlern der „Frankfurter Schule“ (Horkheimer, Adorno, Marcuse) empirisch untersucht. Seitdem kann man mit Grund von einer faschistoiden Mentalität oder vom „autoritären Charakter“ sprechen.
Die faschistoide Mentalität „depossedierter“ [enteigneter, verarmter] und perspektivloser Sozialschichten ist eine der Voraussetzungen zur Bildung einer faschistischen Bewegung. Erobert eine solche Bewegung den Staat, werden Antisozialismus, Antisemitismus und Fremdenhass zur herrschenden Doktrin, die Millionen von Menschen zu Krieg und Pogromen motiviert. Wer den Faschismus bekämpfen will, muss wissen, womit er es jeweils zu tun hat: mit faschistischen Attitüden, mit faschistischen Banden oder mit einem faschistischen Regime (zu dessen Herrschaftspraktiken Folter und Massenmord ebenso gehören wie die Sklavenarbeit).

Militärdiktaturen oder auch Polizeieinsätze gegen Demonstranten in parlamentarischen Demokratien kann man mit dem (historischen) Faschismus zwar vergleichen, sollte sie aber nicht damit verwechseln.

Wer überall „Faschismus“ sieht, verharmlost den wirklichen Faschismus und beraubt sich möglicher Bundesgenossen. Dafür gibt es ein lehrreiches Beispiel: Die Mehrheit der deutschen Kommunisten hielt vor 1933 die Sozialdemokraten für („Sozial“-)Faschisten. 1933 fanden sich dann die Funktionäre und Mitglieder beider Parteien in den Konzentrationslagern der richtigen Faschisten wieder. Und da war es für die Bildung einer Einheitsfront beider Organisationen, die die „Machtergreifung“ der Hitlerpartei hätte verhindern können, zu spät…

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