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Betrieb & Gewerkschaft

35-Stunden-Woche

Von D. Berger | 01.06.2003

Hätten die Skeptiker Recht behalten, dann wäre es gar nicht erst zu Warnstreiks in der ostdeutschen Metallindustrie gekommen. Immerhin haben unter den extrem ungünstigen Bedingungen im Osten allein in der Woche vom 5.-9. Mai mehr als 16 000 Beschäftigte an Warnstreiks teilgenommen, in der zweiten Maiwoche weitere 10 000.

Hätten die Skeptiker Recht behalten, dann wäre es gar nicht erst zu Warnstreiks in der ostdeutschen Metallindustrie gekommen. Immerhin haben unter den extrem ungünstigen Bedingungen im Osten allein in der Woche vom 5.-9. Mai mehr als 16 000 Beschäftigte an Warnstreiks teilgenommen, in der zweiten Maiwoche weitere 10 000.

Sicher: Die Durchsetzung der 35-Stunden-Woche in der ostdeutschen Metallindustrie hat unmittelbar nur eine begrenzte Auswirkung auf den Arbeitsmarkt (rechnerisch 15 000). Aber es geht hier vor allem um die Entwicklung einer gesellschaftlichen Perspektive: Wenn es gelingt, diesen Kampf erfolgreich durchzufechten, werden KollegInnen weit über die Metallindustrie hinaus die Arbeitszeitverkürzung auch als eine gesamtgesellschaftliche Perspektive begreifen können. Am 21. Mai folgte der Vorstand der IGM dem Wunsch der Tarifkommissionen von Berlin-Brandenburg, Sachsen und Sachsen-Anhalt, die Verhandlungen als gescheitert zu erklären und die Urabstimmung (für den 22.-28. Mai) einzuleiten.
Harte Nuss
Aus mehreren Gründen ist dieser Kampf nicht einfach. Von den 310 000 Beschäftigten in der ostdeutschen Metallindustrie (und 9000 in der Stahlindustrie) arbeiten weniger als die Hälfte in "verbandsgebundenen" Betrieben (für die also die Tarifverträge gelten). Die großen Umbrüche der ostdeutschen Wirtschaft in den 90er Jahren, als die große Mehrheit der Industriebetriebe platt gemacht wurde und eine Dauermassenarbeitslosigkeit von offiziell annähernd 20% entstand, lässt kein großes Selbstvertrauen in die eigene Kampfkraft aufkommen. Der Organisationsgrad ist in diesen Jahren von 45% auf kaum über 20% gesunken. Große Industrieanballungen mit Zehntausenden von Metallern in einer Stadt oder Region gibt es nicht mehr. Von einem möglichen Kampfbetrieb zum nächsten ist es meist recht weit.

Dem steht gegenüber: Das ewige Vertröstetwerden hat inzwischen bei nicht wenigen KollegInnen Verbitterung und zum Teil auch Wut entstehen lassen. Immer noch verdienen ostdeutsche KollegInnen im Schnitt real weniger als 90% der Löhne im Westen (niedrigere Tarife und geringere betriebliche Zulagen) und arbeiten dafür 3 Stunden länger. Längst nicht mehr geht es im Osten nur um Betriebe, die sich "in Abwicklung" befinden. Die modernsten Fabrikanlagen – gerade im Fahrzeugbau und in der Mikroelektronik – sind im Osten gebaut worden. Die Lohnstückkosten liegen aufgrund der neuen Technologie bei nur 94,5% des Westniveaus. Seit ein paar Jahren erleben zumindest diese Belegschaften (aber auch in anderen Betrieben, die im Konkurrenzkampf nicht platt gemacht wurden), dass auch bei "schwarzen Zahlen" keine Angleichung an die Westlöhne erfolgt. Hier greift das unmittelbare Gerechtigkeitsempfinden, was sich zur materiellen Gewalt entwickeln kann.
IGM-Apparat halbherzig …
Entgegen manchen Propagandisten und einigen Zweckpessimisten kam der Entschluss, die 35-Stunden-Woche auf die Fahnen zu schreiben, nicht vom hauptamtlichen Apparat und schon gar nicht vom Vorstand aus Frankfurt. Nach unseren Informationen waren es vor allem die ehrenamtlichen FunktionärInnen der Tarifgebiete Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen (weniger in Thüringen), die auf ihren Funktionärskonferenzen der letzten zwei Jahre und dann in den Tarifkommissionen Ende letzten Jahres/Anfang diesen Jahres die Einführung der 35 Stunden-Woche gefordert haben. Wenn der gewerkschaftliche Apparat nicht jegliche Glaubwürdigkeit verlieren wollte, musste er dies aufgreifen und den Kampf auch zu seiner Sache machen. Aber das tat er in den vergangenen Monaten nur sehr halbherzig.

Selbst innerhalb der IG Metall wurde keine Anstrengung unternommen, die KollegInnen im Westen in die Mobilisierung einzubeziehen, nicht einmal auf Berliner Ebene, wo sich dies wirklich angeboten hätte. Jetzt kommt es auf die Konzentration der Kräfte an. Die Vernetzung im Osten muss gefördert werden, Solidarität von den WestkollegeInnen eingefordert werden, aber auch in den Westbetrieben von der Gewerkschaftslinken organisiert werden.
… bis verräterisch
Leider ist gerade in Ostdeutschland die Vernetzung linksgewerkschaftlicher Kreise oder kämpferischer Kollektive sehr schwach bzw. so gut wie gar nicht vorhanden. Das erlaubt es den IGM-Bürokraten – in diesem Fall allen voran dem Bezirksleiter Hasso Düvel – noch vor Beginn der Urabstimmung in der Öffentlichkeit gerade zu um eine Kompromiss zu betteln. Das untergräbt natürlich die Kampfbereitschaft, denn wer ist schon bereit, wirklich zu kämpfen, wenn er/sie damit rechnen muss, dass es hinter seinem/ihrem Rücken zu sogenannten "Kompromissen" kommt, die über Kompensationsgeschäfte erzielt wurden und die nicht das Ergebnis eines Kampfes und eines Willensbildungsprozesses der Mitglieder sind.

In dieser Situation kann die Mobilisierung der Bevölkerung auf die Kräfteverhältnisse wirken und es dem Gewerkschaftsapparat schwer machen, nur einen Mini-Einstieg in die 35-Stunden-Woche zu akzeptieren, womöglich noch über Tauschgeschäfte. Solidaritätskomitees aufbauen, die Vernetzung organisieren bzw. praktisch unterstützen, Solifeste anregen und vor allem immer wieder das Engagement und die praktische Unterstützungsarbeit des gewerkschaftlichen Apparats einfordern, das sind die Aufgaben der Stunde, in Ostdeutschland, aber auch im Westen und vor allem in Großberlin.

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