Die aktuelle Regierungskoalition aus CDU, CSU und SPD hat am 5. Juni 2025 nach einer halbstündigen Debatte einen Antrag der Linksfraktion auf Erhöhung des gesetzlichen Mindestlohns auf 15 Euro zur weiteren Beratung an den Ausschuss für Arbeit und Soziales überwiesen. Es ist absehbar, dass dieser Antrag dort versackt – wenn es nicht gelingt, aus der Arbeiter:innenbewegung Druck aufzubauen. Das wiederum ist angesichts der Haltung der DGB-Gewerkschaften ein Ziel, dem sich führende Gremien nicht ohne Not annehmen werden.
Auch wenn mehr als 15 % aller Lohnabhängigen auf ihn angewiesen sind – niemand will so recht ihre Organisierung als Tarifpartei in Angriff nehmen, zumal sich diese Gruppe quer durch alle Branchen und Industrien zieht. Mehr als sechs Millionen Menschen sind betroffen. Diese Zahl übersteigt die Größe vieler branchenspezifischer Tarifverträge deutlich und macht sie zur größten, von einer kollektiven Regelung des Lohns betroffenen Gruppe innerhalb der Arbeiter:innenklasse.
Dabei kommt dieser Gruppe angesichts der demografischen Entwicklung und des anhaltenden Mitgliederschwunds in den Gewerkschaften eine strategische Schlüsselrolle zu. Sie ist jung, oft migrantisch geprägt, häufig weiblich – und wächst absehbar strukturell an. Während klassische, gewerkschaftlich organisierte Sektoren wie Industrie und Verwaltung schrumpfen oder digitalisiert werden, verlagert sich die gesellschaftliche Reproduktion und Produktion zunehmend in genau jene prekären, fragmentierten Arbeitsfelder, für die der Mindestlohn eine existentielle Schutzfunktion bedeutet. Wer heute nicht lernt, mit dieser vielgestaltigen und oft schlecht organisierten Fraktion der Arbeiter:innenklasse zu sprechen, wird morgen keine kampffähige Gewerkschaftsbewegung mehr haben.
Die Regierung argumentiert formal mit der vermeintlichen Zuständigkeit der Mindestlohnkommission. Diese Haltung verschleiert nicht nur politische Verantwortung, sondern ignoriert auch den Skandal, der diesem Gremium innewohnt: eine angebliche Kommission der Tarifpartner – ganz ohne Tarifverhandlung und den Kampf, der mit ihr einhergehen kann. Dieses vorgeschobene Argument der „Tarifautonomie“ ist so billig, wie die Notwendigkeit politischer und gesellschaftlicher Mobilisierung für einen armutsfesten Mindestlohn dringlich ist.
Was ist denn diese „Mindestlohnkommission“?
Die Mindestlohnkommission besteht aus neun Mitgliedern: einem oder einer Vorsitzenden, jeweils drei Vertreter:innen der Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite sowie zwei beratenden Wissenschaftler:innen ohne Stimmrecht. Der oder die Vorsitzende wird auf gemeinsamen Vorschlag der Spitzenorganisationen der Arbeitgeber und Arbeitnehmer berufen. In der Praxis hat sich jedoch gezeigt, dass der oder die Vorsitzende nicht neutral agiert. In Pattsituationen entscheidet die Vorsitzendenstimme zugunsten der Arbeitgeberseite.
Diese Kommission hat nichts mit „Tarifautonomie“, aber sehr viel mit der Entrechtung der Arbeiter:innen zu tun.
So geschehen am 26. Juni 2023: Die Kommission beschloss, den Mindestlohn in zwei Stufen nur leicht zu erhöhen – auf 12,41 Euro ab Januar 2024 und auf 12,82 Euro ab Januar 2025. Dieser Beschluss wurde gegen die Stimmen der Gewerkschaftsvertreter:innen gefasst, die eine stärkere Erhöhung forderten, um die inflationsbedingten Verluste auszugleichen. Ein Skandal, der keiner wurde – niemand mobilisierte die Betroffenen.
Kein Tarifpartner, keine Verhandlung, kein Streikrecht
Kein Streikrecht, keine Arbeiter:innenversammlungen, keine Urabstimmungen, keine offene Diskussion und Auseinandersetzung, keine organisierte Gegenmacht der Beschäftigten – nur: ein beratendes Expertengremium mit politisch eingesetzten Mitgliedern. Dieses Gremium ist eine gefährliche, hinterhältige Illusion.
So nicht weiter, bitte!
Eine strategische Wende ist notwendig und drängt sich auf: Wenn die Kommission keinen Tarifkonflikt ermöglicht, muss die Arbeiter:innenbewegung dafür kämpfen, dass Mindestlohnbeschäftigte das Recht auf Organisierung wahrnehmen und sich das Recht zur Durchsetzung ihrer Interessen als „Tarifpartei“ nehmen. Nur durch politische Skandalisierung und kollektive Organisierung, durch den Aufbau von Macht „von unten“ sowie durch politische wie betriebliche Mobilisierung kann die Mär vom „Aushandeln auf Augenhöhe“ durchbrochen werden.
Die Partei Die Linke kann und sollte sich dieses Skandals und der Zielsetzung annehmen. Dieses Thema spricht genau ihr Zielpublikum an und offenbart gleichzeitig die Dringlichkeit, den heutigen Kurs der DGB-Gewerkschaften anzupassen. Die vermeintliche Einheitsgewerkschaft kann heute eben nicht die Gesamtheit der Arbeiter:innen vertreten – und nichts drängt sie strukturell dazu. Im Gegenteil: Sich dieser Aufgabe anzunehmen würde bedeuten, gemeinsam statt in Konkurrenz zueinander zu agieren und keine Mühen zu scheuen – auch wenn keine fetten Beitragszahlungen winken.
Mindestlohn von 15 Euro – sachlich und sozial notwendig
Ein Mindestlohn von 15 Euro ist keine radikale Forderung, sondern ökonomisch begründet. Laut Studien der Hans-Böckler-Stiftung, des IMK und selbst der OECD liegt die Grenze für einen armutsfesten Mindestlohn in Deutschland bei 14,50 bis 15,50 Euro. Die EU-Mindestlohnrichtlinie empfiehlt ein Niveau von 60 % des Medianlohns – was in Deutschland aktuell rund 15 Euro bedeutet.
Gleichzeitig steigen Mieten, Energie- und Lebensmittelpreise. Der derzeitige Mindestlohn von 12,41 Euro (ab 2024) reicht bei Weitem nicht mehr für ein würdiges Leben – besonders in Großstädten. Millionen Menschen arbeiten Vollzeit und bleiben dennoch arm – darunter viele Frauen, Alleinerziehende, migrantische Arbeiter:innen sowie Beschäftigte in Pflege, Gastronomie, Reinigung und Logistik.
Diese Anpassung entspricht im Übrigen auch der EU-Vorgabe, die einen Mindestlohn von 60 Prozent des durchschnittlichen Bruttogehalts eines Landes vorsieht. Aber natürlich kann man sich vortrefflich über diese oder jene Berechnung des „Durchschnitts“ streiten – und überhaupt: Was schert die Regierung die EU, gerade in diesen Tagen?
Perspektive: Kampf für gesetzliche Erhöhung UND kollektive Organisierung
Mindestlohn ist keine technische Frage – er ist ein politisches Kampffeld. Die zersplitterte Masse der Mindestlohnabhängigen kann durch betriebliche und außerbetriebliche Organisierung neue Kampfformen entwickeln. Sie hat das Potenzial, die Arbeiter:innenbewegung wieder in eine echte Bewegung zu transformieren. Historisch musste sich die Arbeiter:innenbewegung immer wieder an die Veränderungen der Klassenrealität anpassen. Die Aufgabenstellung ist also nicht neu – und bequem waren solche Kämpfe nie.
Die Mobilisierung rund um den Mindestlohn ist mehr als eine Taktik – sie ist eine strategische Aufgabe im Klassenkampf unserer Zeit.