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Geschichte und Philosophie

Zum 50. Todestag: Vere Gordon Childe – Archäologe und Marxist

Von Bernhard Brosius | 01.10.2007

Vere Gordon Childe gilt als einer der bedeutendsten Archäologen des 20. Jahrhunderts. Dass Childe Marxist und Revolutionär war, wird dabei häufig ignoriert. In der Linken ist er weitgehend unbekannt. So soll sein fünfzigster Todestag zum Anlass genommen werden, an ihn zu erinnern.

Vere Gordon Childe gilt als einer der bedeutendsten Archäologen des 20. Jahrhunderts. Dass Childe Marxist und Revolutionär war, wird dabei häufig ignoriert. In der Linken ist er weitgehend unbekannt. So soll sein fünfzigster Todestag zum Anlass genommen werden, an ihn zu erinnern.

Vere Gordon Childe wird im Jahre 1892 im australischen Sydney geboren. Während seines Philosophiestudiums von 1911 bis 1914 liest er begeistert die Werke von Hegel, Marx und Engels. Er schließt sich der ArbeiterInnenbewegung an und wird Mitglied der Industrial Workers of the World (IWW).

Ab 1914 setzt er sich leidenschaftlich ein gegen Krieg und Militarismus. Er tritt einer Bewegung bei, der es bis zum Kriegsende gelingt, die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht für Einsätze außerhalb Australiens zu verhindern. Seine eigenen politischen Erfahrungen mit der jungen australischen Labour-Party bilanziert er 1923 in seinem ersten Buch: „How Labour Governs“. Es gilt bis heute als bedeutendstes Werk über die Geschichte der australischen ArbeiterInnenbewegung bis 1921. Das Parlament, so Childe, ist eine Institution der Bourgeoisie zur Sicherung ihrer Macht und Privilegien. Für das Proletariat ist es unmöglich, über die Parlamente zum Sozialismus zu gelangen. Childe beschreibt, wie die ArbeiterInnenpartei zu einer Maschinerie zum Zwecke der Wiederwahl ihrer Führungspersönlichkeiten degeneriert, während die Parteiführung ihre sozialistischen Ziele aufgibt. Statt Kampf um Parlamentssitze fordert er die Ausdehnung der Souveränität der ArbeiterInnenklasse und vor allem die ArbeiterInnenselbstbestimmung in den Betrieben.
Der materialistische Archäologe
1921 fährt er nach England, 1922 wendet er sich der prähistorischen Archäologie zu, um mit Hilfe des Historischen Materialismus die Vor- und Frühgeschichte Europas und des Nahen Ostens zu verstehen. Frucht dieser Entscheidung werden bis 1957 etwa 240 Fachartikel und 20 Bücher sein. Häufig wendet er sich damit direkt an den „Menschen auf der Straße“. Immer bleibt er dabei den Idealen der Aufklärung und dem Marxismus verpflichtet, und er tritt kompromisslos ein für Meinungsfreiheit sowie gegen Militarismus und Nationalismus.

Als Erstem gelingt ihm eine ganzheitliche Beschreibung der europäischen Vorgeschichte. Childe erkennt in den jungsteinzeitlichen Donaukulturen eine egalitäre Gesellschaft von „entschiedener Friedfertigkeit“ und eine soziale Ökonomie vor der Entstehung von Grenzen, Staaten und Märkten. Dabei legt er zunehmend Wert auf die Analyse und Anerkennung der Stellung der Frau in der Gesellschaft und wechselt in seinen Werken zwischen der männlichen Form und der weiblichen. Er prägt den Begriff „Neolithische Revolution“ für die Entwicklung von Ackerbau und Viehzucht und analysiert die Entstehung der Klassengesellschaft.

1927 wird er auf den Lehrstuhl für prähistorische Archäologie in Edinburgh berufen. Mit Vorlesungsreihen, Aufsätzen und Büchern wendet er sich ab 1933 gegen den Faschismus. Er führt seine Angriffe gegen alle zentralen Konzepte der Nazis und zeigt, dass kultureller Fortschritt nicht auf Reinheit von Rassen basiert, sondern auf Kontinuität und Offenheit, dass Fortschritt resultiert aus dem Niederbrechen der Isolation zwischen menschlichen Gruppen und dem Zusammenfassen von vielen Ideen aus vielen Kulturen.
1935 besucht Childe die Sowjetunion. Nach Äußerungen der Sympathie bezeichnet er sie 1936 offen als „totalitären Staat“ und die Art der Forschung dort als „Perversion des Marxismus“. Dennoch gibt ihm die sowjetische Archäologie wichtige neue Impulse. Nach dem Krieg erklärt die amerikanische Regierung Childe zur unerwünschten Person und verhängt ein Einreiseverbot.
1957 kehrt er nach Australien zurück. Oft wandert er nun in den Blue Mountains, die er in seiner Jugend gerne aufgesucht hat. So auch am 19. Oktober 1957. Er besteigt eine hohe Klippe und springt hinab. In einem Abschiedsbrief schreibt er, dass die Fähigkeit des Menschen, seinem Leben aus freien Stücken ein Ende zu setzen, ihn mehr vom Tier unterscheidet als die Zeremonien beim Begräbnis.

Childes Lebenswerk ist letztendlich die Ausarbeitung und Weiterschreibung des Historischen Materialismus. Seine Analyse kultureller Evolution ist eine eigenständige Erweiterung der marxistischen Theorie. Für die prähistorische Archäologie ist er ein Gigant, der bis heute Maßstäbe setzt und Impulse gibt.

Childe vertrat in den Zeiten des Stalinismus einen freiheitlichen und undogmatischen Marxismus. Er galt immer als unerschrockener und stets verlässlicher Genosse. Sein Leben lang kämpfte er auf seine Weise gegen die Klassengesellschaft und ihre destruktiven Konsequenzen. Er hat es nicht verdient, von uns vergessen zu werden.

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