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Geschichte und Philosophie

Wilhelm Reich – vom Freudo­marxismus zur Orgonomie

Von Helmut Dahmer, Wien | 01.01.2008

Wilhelm Reich (1897-1957) gehörte zu der, durch den ersten Weltkrieg und den ihm folgenden Bürgerkrieg, zwischen Weiß und Rot geprägten Generation von Intellektuellen, Bohemiens und RevolutionärInnen, die sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegen die aufkommenden massenfeindlichen Massenbewegungen wandten und hofften, einen zweiten Weltkrieg verhindern zu können.

Wilhelm Reich (1897-1957) gehörte zu der, durch den ersten Weltkrieg und den ihm folgenden Bürgerkrieg, zwischen Weiß und Rot geprägten Generation von Intellektuellen, Bohemiens und RevolutionärInnen, die sich in den zwanziger und dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts gegen die aufkommenden massenfeindlichen Massenbewegungen wandten und hofften, einen zweiten Weltkrieg verhindern zu können.

Das waren in Deutschland anti-stalinistische HegelianerInnen-MarxistInnen wie Max Horkheimer oder Karl Korsch, in Frankreich die Gruppe der SurrealistInnen um André Breton und in Russland die um Leo Trotzki gescharten InternationalistInnen der „Linken Opposition“. Der 21jährige Medizinstudent Reich stieß zu dem Wiener Kreis um Freud, wo er bald Anerkennung fand. Zu seinen bevorzugten Themen gehörten die Sexualtheorie und die psychoanalytische Behandlungstechnik. Die Jahre 1925-1935 waren die große Zeit des so genannten „Freudomarxismus“, also der Versuche, die Freudsche Psychoanalyse und die Marxsche Gesellschaftstheorie zusammenzubringen. Schon an den ersten Veröffentlichungen Reichs fällt die Tendenz auf, die „reife“, genital zentrierte Sexualität gegenüber ihren „polymorph-perversen“ Vorläufern, den so genannten „Partialtrieben“, zu verselbständigen und die Freudsche psychosoziale Triebtheorie zu renaturalisieren. Was Reich darüber hinaus von Freud und der großen Mehrheit der FreudianerInnen trennte, war aber seine Einsicht, dass die Kritik der psychischen und kulturellen „Institutionen“ der Psychoanalyse die Todfeindschaft der totalitären Bewegungen und Regime eintrug. Reich brachte die anarchistische Komponente der Freudschen Psychoanalyse zur Geltung1, was alsbald seinen Ausschluss aus der kommunistischen Partei und den (von den FreudianerInnen zuerst verheimlichten und dann jahrzehntelang verleugneten) Ausschluss aus der Psychoanalytischen Internationale nach sich zog.

Sein Aufsehen erregender Versuch, junge SozialistInnen für ein sexualpolitisches Reformprogramm zu begeistern, beunruhigte die Parteifunktionäre; seine Feststellung, dass Hitler der deutschen ArbeiterInnenbewegung 1933 eine vernichtende Niederlage zugefügt hatte, provozierte sie, da sie auch ein halbes Jahr später noch wähnten, der „Anstreicher“ werde bald abgewirtschaftet haben. Die StalinistInnen nannten Reich fortan einen „Trotzkisten“ (und das war in ihren Augen das Schlimmste, was man einem politischen Menschen nachsagen konnte). Freud und seine AnhängerInnen hielten Reich für einen „Bolschewisten“, und das sollte nicht nur heißen, dass er die Dogmen der Moskauer „Kirche“ respektierte (was er keineswegs tat), sondern vor allem, dass seine Theorien und seine politische Praxis den Fortbestand der psychoanalytischen Organisationen gefährdeten. Darum beeilten sie sich, den unliebsamen Unruhestifter loszuwerden, und setzten noch eins drauf, indem sie ihm – vor der Zeit – eine „Psychose“ attestierten. Freud, der in den zwanziger und dreißiger Jahren seine Kulturkritik – die Grundlage der psychoanalytischen Therapie – explizierte, übersah in seinem Furor, dass Psychoanalytiker wie Reich oder Otto Fenichel, denen es um eine Öffnung der Psychoanalyse zur Soziologie und Ethnologie ging2, im Grunde seine Verbündeten waren. Er paktierte lieber mit deutschnationalen Nur-Psychologen wie Felix Boehm und Carl Müller-Braunschweig, in der Hoffnung, auf diese Weise den Bestand der psychoanalytischen Organisation in Deutschland auch unter der NS-Diktatur zu „sichern“. Freud revidierte sein Urteil über Reich auch dann nicht, als der Versuch einer „Rettung“ der Psychoanalyse durch Neutralisierung gescheitert war, vor dem Reich als einziger (schon in den Jahren 1933 und 1934) gewarnt hatte.

Reich glaubte, als sich die PsychoanalytikerInnen 1934 von ihm trennten, er sei einer der wenigen echten Freudianer, die – im Unterschied zu den Abweichungen und faulen Kompromissen der Mainstream-PsychoanalytikerInnen – an Freuds frühen Theorien (über die Neurosen als das Ergebnis einer Libido-Stauung) festhielten und sie ausbauten. Auf der Flucht vor den Nazis, die ihn von Berlin nach Wien und – über Zwischenstationen in Dänemark, Schweden und Norwegen (1934) – kurz vor Ausbruch des zweiten Weltkriegs nach New York führte, verlor Reich nicht nur seine Ersatzheimaten – die kommunistische und die psychoanalytische Organisation – sondern auch das Wohlwollen seines Mentors Freud.
Zur Orgonomie
In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre vollzog er eine „Kehre“ – vom Freudomarxismus zur Orgonomie. Aus Freuds Deklaration, auch die von ihm entwickelte Kritik der Institutionen (also der „zweiten“ Natur) sei eine Art von Naturwissenschaft, machte Reich ein Forschungsprogramm. Seit 1936 suchte er nach einer biologischen Fundierung der Freudschen Psychologie. In der Spannungs-Entspannungs-Formel, mit der er die orgastische Befriedigung umschrieben hatte, sah er nun die „Lebensformel“ schlechtweg, und seine Experimente zur Biogenese führten ihn dazu, eine spezifische Lebensenergie zu postulieren, deren Strahlung er zu messen versuchte und die er technisch zu nutzen gedachte. Er orientierte sich dabei an der zeitgenössischen Naturwissenschaft, deren methodologischen Rahmen Freud einst – auf der Suche nach einer Lösung für das Rätsel der Neurosen und der Träume – gesprengt hatte.

Reich ließ die Freudsche Psychologie ebenso hinter sich wie jedwede „Politik“ (auch die „Sexualpolitik“). Auf der Suche nach der wahren Natur von Mensch und Kosmos entwickelte er eine phantastische Biophysik: Nicht die Schreckenswelt von Stalin und Hitler, sondern der ewig pulsierende, blaue Orgon-Ozean war die eigentliche Wirklichkeit. Nach ihrem jahrtausendelangen Irrweg würden die Menschen zu dieser Natur zurückfinden, ihr sich wieder überlassen. Reich begab sich mit seiner Orgonomie auf einen längst bewährten Fluchtweg, der aus der desperaten „zweiten Natur“ der Moderne zurück in eine imaginäre „erste“ Natur zu führen schien. Rousseau hatte noch in der (französischen) Aufklärung das Losungswort „Zurück zur Natur!“ ausgegeben. Jahrzehnte später warfen sich dann auch die (deutschen) RomantikerInnen, abgestoßen  von der französischen Revolution und den napoleonischen Kriegen, Mutter Natur in die Arme.3 Im Vormärz kritisierte Ludwig Feuerbach Hegels Philosophie, indem er aller menschlichen Theorie und Praxis gegenüber das Leib-apriori geltend machte. Hundert Jahre später flüchtete sich dann auch Reich, der sich auf Nietzsches und Bergsons Lebensphilosophie berief, in die Erforschung und in den Kultus dessen, was er für die „erste Natur“ hielt.

„Als der Mensch versuchte, sich selbst und das Str&ou
ml;men seiner eigenen Energie zu verstehen, griff er in das Strömen seiner Energie ein und begann so, sich zu panzern und […] von der Natur zu entfernen. […] Wenn […] die Mehrheit die Ausnahme vom natürlichen Lauf der Dinge ist und die wenigen schöpferischen Menschen sich mit der Natur in Einklang befinden, dann [sieht] die Lage hoffnungsvoller aus. Mit der gewaltigsten Anstrengung, die je in der Geschichte der Menschheit gemacht wurde, wäre es dann möglich, die Mehrheit dem Strom der Naturereignisse anzupassen. Wenn unsere Darstellung der Panzerung richtig ist, könnte dann der Mensch zur Natur heimkehren.“ 4

Reichs neue Wissenschaft der „Orgonomie“ befriedigte nicht nur das „ontologische Bedürfnis“ (Theodor W. Adorno), sondern versprach auch die Heilung der „Biopathie“, der die Menschengattung seit ihrem Abfall von der Natur unterlag und als deren aktuelle Hauptsymptome Reich den („braunen und roten“) Faschismus und die Krebserkrankung ausmachte. Wie alle Naturapostel vor ihm und nach ihm verkannte Reich, dass es sich bei der Nichtübereinstimmung des Menschentieres mit sich selbst, mit seinesgleichen und mit der äußeren Natur – bei dem Nicht-Aufgehen in seiner Umwelt, seinem unstillbaren Ungenügen und seiner inneren Disharmonie – nicht um eine Fehlentwicklung handelt, sondern um jene Eigenart unserer Gattung, die sie dazu nötigt, eine Kultur zu entwickeln, die sie dazu befähigt, eine Geschichte zu haben, also sich selbst und die Welt zu verändern.5

Über dies vertrackte Selbst- und Weltverhältnis können wir nicht hinwegspringen, kein Weg führt aus der menschlichen Geschichte in die „Natur“ zurück – wie immer diese imaginiert wird.

Reichs anstößige Forschungen, vor allem aber die therapeutischen Anwendungen der Orgon-Energie führten Mitte der fünfziger Jahre zum Konflikt mit der amerikanischen „Food and Drug Administration“. Wiederholt wurde Reichs Laboratorium „Orgonon“ im US-Bundesstaat Maine durchsucht, ein kleines Forschungsparadies, das – wie er glaubte – nur gelegentlich von schwarzen Wolken destruktiver Orgon-Energie (DOR) überschattet wurde. 1954 kam es dann zu einem Strafverfahren wegen des Vertriebs von „Orgon-Akkumulatoren“ und 1956 wurde Reich (wegen Missachtung des Gerichts) zu zwei Jahren Haft verurteilt. Hatten die Nazis 1933 seine Schriften (gemeinsam mit denen von Marx und Freud) auf ihren Scheiterhaufen verbrannt, so ordnete nun ein US-Gericht die Vernichtung der Orgon-Apparaturen und der Reichschen Schriften an. Wie er es befürchtet hatte, fiel der revolutionäre Arzt und wunderliche Begründer einer neuen, phantastischen Naturwissenschaft am Ende den „Modjus“ 6, den Feinden alles Neuen, Lebendigen und Aufrührerischen, zum Opfer.


1     Vgl. dazu seine 1945 geschriebene „Rede an den kleinen Mann“ (Frankfurt 1995) und seine 1953 veröffentlichte politische Autobiographie „Menschen im Staat“ (Frankfurt 1995).
2     Vgl. dazu vor allem die folgenden Arbeiten von Reich: Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse (1929, 1934), Der Einbruch der Sexualmoral (1932) und Massenpsychologie des Faschismus (1933).
3     „O du, so dacht ich, mit deinen Göttern, Natur! ich hab ihn ausgeträumt, von Menschendingen den Traum und sage, nur du lebst, und was die Friedenslosen erzwungen, erdacht, es schmilzt, wie Perlen von Wachs, hinweg von deinen Flammen!“ Hölderlin, Hyperion oder der Eremit in Griechenland, 2. Bd. (1799).
4     Reich (1949, 1951): Ausgewählte Schriften. Eine Einführung in die Orgonomie. Köln 1976, Kap. IX, S. 550 und 552.
5     Zur „unnatürlichen Natur“ des Homo sapiens gehören „Anomalien“ wie der aufrechte Gang, das extra-uterine Frühjahr, der zweizeitige Ansatz der Sexualentwicklung, die weitgehende Ersetzung des instinktiven durch erlerntes Verhalten und das sprachvermittelte, denkende Probehandeln.
6     Reich bildete das Kunstwort „Modju“ aus den Anfangsbuchstaben der Namen Mocenigo (des Denunzianten Giordano Brunos) und Dschugaschwili (Stalin). 

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