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Antifa/Antira

Wer ermordete Kamal?

Von Korrespondent Leipzig | 01.12.2010

Eine kleine Chronik zum Mord an Kamal K.

Eine kleine Chronik zum Mord an Kamal K.

Im September 2009 sorgt ein bis dahin wenig bekannter Bundesbanker in einer nahezu unbekannten Zeitung mit rassistischen Äußerungen über Migrant­Innen („kleine Kopftuchmädchen“), die den Sozialstaat ausnutzen würden, für Aufsehen. Im Juni 2010 lässt derselbe verlauten, dass die Migrant­Innen den nationalen Intelligenz-Durchschnitt senken würden. Am 30. August erscheint vom selben Herrn ein dümmliches Buch mit dem Titel „Deutschland schafft sich ab“. Lüstern nach Schlagzeilen greifen die Medien dies auf, die Bild druckt den Inhalt hilfsbereit ab. Der Damm ist gebrochen und eine Flut aus Ressentiments bricht sich Bahn, quer durch die politischen Lager. Neo­nazis, die die veränderte Atmosphäre wittern, rufen zu einem Sternmarsch in Leipzig am 16. Oktober auf. Am selben Tag kursieren noch die Äußerungen des bayerischen Ministerpräsidenten, Deutschland könne nicht zum Welt-Sozialamt werden, und – prophetisch –: „Multikulti ist tot.“ Und in der Nacht zum 24. Oktober liegt in Leipzig einer am Boden, von mehreren Messerstichen in den Bauch tödlich verwundet, verblutet im Beisein seiner Freundin.

Der im Irak geborene Kurde Kamal K. wurde auf dem Heimweg nachts im Stadtzentrum ermordet, einen Steinwurf vom Ort der Nazi-Kundgebung vom 16. Oktober entfernt. Er war zu diesem Zeitpunkt 19 Jahre alt. Die beiden Tatverdächtigen kommen aus der militanten Nazi-Szene, waren bereits wegen Gewaltverbrechen verurteilt. Die Staatsanwaltschaft sieht freilich „keine Anhaltspunkte“ für einen rassistischen Hintergrund, die Lokalzeitung findet noch eine Teilschuld im Opfer, schließlich habe es Streit gegeben. Eine Woche danach (1. November) formiert sich ein Trauermarsch der Angehörigen und einiger Hundert Anteil Nehmenden. Die Polizei filmt die Trauernden, selbst als die­se von Außenstehenden als „Kanaken“ beschimpft werden.

Am nächsten Tag demonstrieren in Berlin 1 500 Antifaschist­Innen anlässlich eines Brandanschlags auf linke Einrichtungen und Polizeirazzien. Die Demonstration wird mit Pfefferspray und Schlagstöcken von der Polizei aufgelöst. Ein Redebeitrag über Kamal K. muss entfallen.

Sie alle haben Kamal ermordet: Sarrazin, Seehofer, die Polizei, die Bild, die Staatsanwaltschaft. Sie morden täglich, ebenso das Ausländeramt, die Abschiebebehörden und die bürgerliche Gesellschaft, die sie repräsentieren; in der ein Mensch schon wenig zählt, viel weniger aber noch ein „Ausländer“. Die Mächtigen in diesem Land haben noch nicht verlernt, wie man mit Krisen umgeht und wie man ein Feuerchen entfacht.

Am 4. November gehen 1 000 Menschen in Leipzig auf die Straße, um wiederum zu demonstrieren. Der Zug wird angeführt von der Familie des Verstorbenen und dessen Freundin. Über Lautsprecher wird durchgesagt, dass mensch die Angehörigen gern auch ansprechen darf.

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