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Über Antisemitismus, Boykottmaßnahmen und den Fall Hermann Dierkes

01.04.2009

Ein Offener Brief von jüdischen FriedensaktivistInnen

Wir sind FriedensaktivistInnen mit jüdischem Hintergrund. Einige von uns definieren sich typischerweise so, andere von uns nicht. Alle zusammen widersprechen wir allerdings jenen, die vorgeben, für alle Juden zu sprechen oder die den Vorwurf des Antisemitismus dazu benutzen, um legitimen Widerspruch zu verunglimpfen.

Wir haben mit Bestürzung von den Anschuldigungen gegen den Gewerkschafter und Vertreter der Partei DIE LINKE, Hermann Dierkes aus der deutschen Stadt Duisburg erfahren. Dierkes hatte im Zusammenhang mit dem jüngsten Angriff auf Gaza die Meinung vertreten, dass eine Maßnahme, den Palästinensern zu Gerechtigkeit zu verhelfen darin bestehen könne, dem Aufruf des Weltsozialforums zu folgen und den Boykott israelischer Produkte zu unterstützen. Auf diese Weise solle Druck auf die israelische Regierung ausgeübt werden.

Dierkes war infolgedessen von vielen Seiten auf ätzende Weise des Antisemitismus bezichtigt und beschuldigt worden, einer Wiederholung der Nazipolitik der dreißiger Jahre zum Boykott jüdischer Waren das Wort zu reden. Dierkes entgegnete darauf "Die Forderungen des Weltsozialforums haben nichts gemein mit rassistischen Nazikampagnen gegen Juden, sondern zielen allein darauf ab, dass die israelische Regierungspolitik zur Unterdrückung der Palästinenser aufhört."

Niemand hatte Dierkes je des Antisemitismus bezichtigt. Erst mit seiner Unterstützung des Boykotts warf man ihm "reinen Antisemitismus" vor (Dieter Graumann, Vizepräsident des Zentralrats der Juden); seine Äußerungen wurden mit "Massenerschießungen an einem ukrainischen Waldrand" in Zusammenhang gebracht (so der Kommentator der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, Achim Beer), er betreibe "Nazipropaganda" (Hendrik Wüst, Generalsekretär der CDU NRW).

Wir UnterzeichnerInnen haben unterschiedliche Ansichten darüber, ob ein Aufruf zum Boykott israelischer Produkte angeraten und wirksam ist. Einige von uns sind davon überzeugt, dass eine solche Maßnahme ein wesentlicher Bestandteil einer Kampagne zum Boykott, zum Desinvestment und zu Sanktionen ist, die vier Jahrzehnte lange israelische Besatzung beenden kann; andere halten es für einen besseren Weg, die israelische Regierung durch einen gezielten Boykott unter Druck zu setzen, der sich gegen Institutionen und Konzerne richtet, die die Besatzung unterstützen. Alle von uns stimmen jedoch darin überein, dass es wesentlich ist, Druck auf die israelische Regierung auszuüben, um einen gerechten Frieden in Nahost herbeizuführen und wir stimmen auch darin überein, dass der Aufruf zum Boykott Israels nichts gemein hat mit dem Aufruf der Nazis "Kauft nicht bei Juden". Israel zu boykottieren, um ein Ende der Besatzung zu erreichen, ist genau so wenig antisemitisch, wie es "anti-weiß" war, Südafrika zu boykottieren, um ein Ende der Apartheid zu erreichen. Bewegungen für soziale Gerechtigkeit haben schon oft zu Boykott und zur Einstellung von Investitionen aufgerufen, sei es gegen das Militärregime in Burma oder die Regierung im Sudan. Sinnvoll oder nicht – solche Aufrufe sind in keiner Weise diskriminierend.

Die Gewalt im Nahen Osten hat in der Tat bereits zu antisemitischen Aktivitäten in Europa geführt. So gab es z.B. in Rom einen Aufruf, jüdische Geschäfte zu boykottieren, der zu Recht allgemein verurteilt wurde. Auch wir lehnen einen derartigen blinden Fanatismus ab. Die Verbrechen Israels können nicht den Juden insgesamt angelastet werden. Andersherum darf ein Boykott Israels nicht mit einem Boykott gegen die Juden insgesamt gleichgesetzt werden.

Die wachsende Islamophobie und Fremdenfeindlichkeit ist indessen eine weitere und besorgniserregende Form des Rassismus in Europa. Sie richtet sich gegen die MigrantInnen aus muslimischen Ländern. Dierkes steht seit Langem in vorderster Front, um die Rechte der MigrantInnen zu verteidigen, während einige von denen, die sämtliche Kritiker Israels des Antisemitismus beschuldigen, genau wie der israelische Staat und seine Regierung selber bei dieser Art von Rassismus mitwirken.

Der Holocaust war eines der schrecklichsten Ereignisse der modernen Geschichte. Allerdings darf diese humanitäre Katastrophe nicht als Knüppel benutzt werden, um Kritik an der menschenrechtswidrigen Unterdrückung der Palästinenser mundtot zu machen. Wir empfinden das als eine Entehrung der Opfer des Holocausts.

Für die lange Liste der Unterzeichner und Unterzeichnerinnen aus Belgien, Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Israel, Italien, Kanada, Schweiz, USA und anderen Ländern siehe:

Alternative Information Center (AIC)

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