Sackgasse Autogesellschaft

Leere Autobahn bei Braunschweig. Foto: Roadrunner38124, CC BY-NC-ND 2.0

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Höchste Eisenbahn für eine Alternative

Sackgasse Autogesellschaft

Von Paul Michel | 10.10.2017

„Dieselgate“ ist ein Beispiel dafür, mit welcher Skrupellosigkeit die Automobilekonzerne zu Werke gehen. Sie wussten genau, dass in Deutschland aufgrund überhöhter Stickstoffoxide es jährlich ca. 10 000 vorzeitige Todesfälle gibt.

Um Kosten zu sparen verzichteten VW, Daimler usw. auf den Einbau von hinreichend großen AdBlue-Behältern (AdBlue ist das Harnstoffgemisch, das Stickoxide in die harmlosen Bestandteile Wasser und Stickstoff aufspaltet) und entwickelten stattdessen die Betrugssoftware, die dafür sorgt, dass auf dem Prüfstand, aber eben nur dort und nicht im normalen Straßenverkehr, die Grenzwerte für den Stickstoffausstoß eingehalten werden. Sie haben die Verbraucher*innen belogen und betrogen. Maximale Rendite zählt für die Autobosse mehr als die Gesundheit der Bürger*innen. Angesichts der von den Konzernbossen an den Tag gelegten kriminellen Energie wäre in Abwandlung eines alten Bert Brecht-Zitats („Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“) zu fragen: Was ist das Anzünden eines Autos gegen das Betreiben einer Autofabrik? Wenn es der Justiz in diesem Lande wirklich darum ginge, „Recht zu sprechen“, hätten Ermittlungsverfahren gegen die Autobosse und ihre Kumpane unter dem politischen Führungspersonal eröffnet werden müssen – zumindest wegen Totschlags oder fahrlässiger Tötung. Aber wie sagten schon „Ton, Steine, Scherben“? Wer das Geld hat, hat die Macht und wer die Macht hat, hat das Recht.

Die bürgerliche Öffentlichkeit hat es im Gefolge von „Dieselgate“ geschafft, dass bestimmte wichtige Fragen nicht gestellt und stattdessen Themen in den Mittelpunkt gestellt werden, die kapitalkompatibel sind. Kein Thema ist der CO2-Ausstoß der LKW und PKW. Und das obwohl praktisch gleichzeitig die Tornados Harvey und Irma in der Karibik wüten und in Asien (Indien, Bangladesch, Nepal) ein  Monsun über 2000 Menschen das Leben kostet, von den Taifunen des Sommers (Mai -August) ganz abgesehen, die vor allem auf den Philippinen viele Menschenleben kosteten.

Printmedien und Fernsehen berichten ausführlich über die von den Unwettern angerichteten Zerstörungen und verlieren kein Wort über den Anteil der PS-schweren Dreckschleudern an der Beschleunigung des Klimawandels. Bezeichnenderweise ist in der BRD der Verkehrssektor der einzige Bereich, in dem die Treibhausgasemissionen nicht nur nicht sinken, sondern sogar noch weiter ansteigen. Je offenkundiger wird, dass der Klimawandel, vor dem Klimaforscher seit langem warnen, tatsächlich stattfindet, umso mehr wird von den herrschenden Kreisen die Diskussion darüber tabuisiert.

Stattdessen wird eine Alibidiskussion über Elektroautos in die Welt gesetzt. Für die Autoindustrie hat das Elektroauto den Charme, dass man davon ebenso hohe Stückzahlen zu produzieren hofft wie jetzt mit Dieseln und Benzinern. Gerade diese Massenproduktion bringt bei der Gewinnung der Leichtmetalle wie des Aluminiums aus Bauxit erhebliche ökologische Probleme. Die Klimabilanz der Batterieherstellung und Entsorgung ist eine weitere Hypothek. Wenn einfach die Benziner und Diesel durch E-Autos ersetzt werden, ändert sich am horrenden Flächenverbrauch ebenso wenig wie an den verstopften Straßen und Autobahnen.

Eine wirkliche Verkehrswende angehen!

Jetzt da sich die „Wetterextreme“ häufen und sich die Zeichen dafür mehren, dass der Klimawandel kein Phantasieprojekt von ein paar Wissenschaftlern, sondern bittere Wirklichkeit ist, ist es höchste Eisenbahn für eine Verlagerung des Personen-  und des Güterverkehrs von der Straße auf die Schiene. Winfried Wolf vom Bündnis „Bahn für Alle“ nennt einige Grundzüge einer Verkehrswende:

„Bahn für Alle“ fordert eine Strukturpolitik der kurzen Wege, eine systematische Förderung des nichtmotorisierten Verkehrs, den umfassenden Ausbau des öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) sowie eine Flächen- und Bürgerbahn. Schluss mit auf Kante genähten Kapazitäten im öffentlichen Verkehr! Busse und Bahnen brauchen mehr Reservepotential, um zuverlässig wachsende Transportaufgaben meistern zu können. Lückenschlüsse und Flexibilität durch gut vertakteten Nah-, Regional- und Fernverkehr können Hemmnisse beim Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel beseitigen. Verlässlich günstige und einfache Preissysteme sowie die Erprobung von Null-Tarif-Modellen in Testregionen sind grundlegend für ein überzeugendes öffentliches Verkehrsangebot. Schluss mit Prestige- und Kostenfresserprojekten wie Stuttgart 21. Güterverkehr gehört, wo er nicht vermieden werden kann, auf die Schiene. Der Fahrgast mit seinen Mobilitätsbedürfnissen muss in den Mittelpunkt des öffentlichen Verkehrs gerückt werden, nicht die Gewinnmaximierung. Mobilität – dort wo sie benötigt wird – muss im Rahmen öffentlicher Daseinsvorsorge umweltverträglich und bürgernah gestaltet werden.

Und was ist mit den Arbeitsplätzen?

Es ist klar, dass bei einer Verkehrswende hin zu öffentlichem, schienengebundenem Verkehr weniger PKW und LKW benötigt werden. PKW werden wohl noch in Gestalt von E-Taxis (in öffentlicher Hand und zum Tarif des öffentlichen Personenverkehrs) gebraucht, um für die Menschen auf dem flachen Land Mobilität zu ermöglichen, als Dienstfahrzeuge für Servicetechniker*innen (Reparaturen, Instandhaltung) oder Mobile Dienste usw.. LKW braucht man wohl weiterhin noch für die Überbrückung der „letzten Meile“, nachdem der Mittel- oder Langstreckentransport auf der Schiene oder auf dem Wasser erfolgt ist. Die Autoindustrie nutzt diesen Umstand, um Horrorszenarien für die in der Autoindustrie beschäftigten Menschen zu malen, die Beschäftigten in Angst zu versetzen und sie damit zu für ihre Zwecke einzuspannen.

Was passiert also mit den Arbeitsplätzen in der Autoindustrie? Zunächst einmal werden nach wie vor Autos produziert‒ aber eben deutlich weniger. Ein Teil der Arbeitsplätze wird dadurch bewahrt, dass die Arbeitszeit deutlich reduziert und die vorhandene Arbeit auf mehr Schultern verteilt wird. Die Zahl der Arbeitsplätze erhöht sich zudem dadurch, dass in der künftigen (ökosozialistischen) Gesellschaft, die Tätigkeit der Arbeiter*innen und Angestellten sich nicht darin erschöpfen wird, in möglichst großer Geschwindigkeit, Teile zusammenzufügen. Sie werden mitbestimmen und mitgestalten bei der Produktgestaltung, der Planung der Arbeitsabläufe und der Ausgestaltung der Arbeitsbedingungen und der Verwaltung der Fabriken. Dadurch dass sich das Tätigkeitsspektrum der Arbeiter*innen und Angestellten erweitert, wird auch die Zahl der Arbeitsplätze wachsen.

Uns als Sozialist*innen ist wichtig, dass Arbeiter*innen nicht die Leidtragenden einer deutlichen Reduzierung der Autoproduktion sind. Wir wollen eine „Just Transition“, eine Transformation, die dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet ist. Das heißt: Wenn im Rahmen einer Umstellung hin zu einer ökologisch verträglichen Wirtschaft bestimmte Branchen entfallen und Fabriken geschlossen werden, so gilt es sicherzustellen, dass die dort beschäftigten Menschen nicht die Leidtragenden sind. Werden Betriebe geschlossen, so bekommen die dort beschäftigten Menschen eine qualifizierende Umschulung (keine „Schnellbleiche“) für andere weiterhin benötigte Tätigkeiten – unter Beibehaltung des bisherigen Gehalts.

Konversion ist machbar, Frau Nachbar!

Im Übrigen ist es beileibe nicht so, dass es auf absehbare Zeit in Zukunft nach dem Zurückfahren der Autoproduktion nichts mehr zu tun gibt: Beispielsweise werden wir deutlich mehr Züge und mehr Busse benötigen. In den USA ist das ehemals sehr gute öffentliche Transportsystem  vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg so sehr heruntergewirtschaftet worden[1], dass wohl alle jetzt in Autofabriken tätigen Menschen in den gleichen Fabriken damit beschäftigt sein werden, Züge und Busse herzustellen. Dass eine Umstellung der Produktion von Auto auf Busse und Züge innerhalb kurzer Zeit möglich ist, haben die USA im zweiten Weltkrieg bewiesen. Nach Eintreten der USA in den Zweiten Weltkrieg hat die Roosevelt Regierung verfügt, dass ab sofort keine PKWs mehr für den privaten Bedarf produziert werden. Die bisherigen Autofabriken wurden innerhalb weniger Monate auf die Produktion von Panzern und Flugzeugen umgestellt. Das funktionierte deshalb, weil die Fabriken zwar formal in Privateigentum blieben, die Planung und Organisation der Produktion faktisch unter staatlicher Planung von statten ging.

Vermutlich ist der Anteil der Menschen, der in den Autofabriken statt Autos und LKW künftig Züge und Busse herstellt, in den verschiedenen Ländern ganz unterschiedlich. In Teilen Europas, wo die Eisenbahn und der öffentliche Transportbereich nicht so sehr heruntergewirtschaftet wurden wie in den USA, ist der Zusatzbedarf an Bussen und Bahnen geringer als in den USA. Da ist es denkbar, dass nicht alle vorhandenen Produktionskapazitäten in den Autofabriken eins zu eins ersetzt werden können. Aber in der BRD gibt es einen enormen Bedarf bei Bau und Betrieb der künftigen Verkehrsinfrastruktur. Zahllose Bahntrassen, die das Management der DB aus „Kostengründen“ auf Verschleiß gefahren und damit hat verlottern lassen, müssen repariert und modernisiert werden. Die Tausende von Kilometern Bahnstrecke, die seit 1990 stillgelegt wurden, müssen neu gebaut werden. Im Übrigen besteht bei Service und Betrieb des Bahnnetzes ein riesiger Nachholbedarf.

Der Markt regelt NIX

Es ist so sicher wie das Amen in der Kirche, dass diese dringend gebotenen Umstrukturierungen in Wirtschaft und Gesellschaft durch den Markt nicht geregelt werden. Zu allererst haben die Hauptakteure, die kapitalistischen Autokonzerne, daran kein Interesse, weil das umfangreiche Neuinvestitionen erfordern würde. Diese Investitionen würden bereits bei der nächsten vierteljährigen Konzernbilanz als Belastung der Rendite empfunden werden und den Aktionären gar nicht gefallen. Die Aktionäre, Manager und die politischen Dienstleister der Autokonzerne tun ja schon jetzt alles, um die mickrige Investition der Autokonzerne in AdBlue zu verhindern, weil das zu teuer sei. Es bedarf keiner großen Phantasie sich vorzustellen, mit welcher Vehemenz sie eine solche grundlegende Umstrukturierung des Verkehrssektors und der Produktion zu verhindern suchen. Angela Merkel hat ja bereits zahllose Male im Verbund mit dem jeweiligen ignoranten und inkompetenten Verkehrsminister (Ramsauer und Dobrindt) bewiesen, dass sie wie ihr Vorgänger Gerhard Schröder zu allererst die Schutzpatronin der Autoindustrie ist.

Es gibt in unserer Gesellschaft weitere Bereiche, wo erheblicher Nachholbedarf besteht und wo zahlreiche zusätzliche Arbeitsplätze entstehen können. Zu nennen wäre etwa der Bau bzw.  die Restaurierung von Schulen und Krankenhäusern. Das Kanalisationsnetz und das Wassernetz werden seit Jahrzehnten auf Verschleiß gefahren. In Bildung und Erziehung, in der Pflege von Alten und Kranken besteht riesiger Bedarf. Hier gibt es viel zu wenig Personal. Aber solche Ausgaben sind aus Kapitalsicht nicht profitabel, sondern sind Kosten, die möglichst niedrig zu halten sind. Das Problem im real existierenden Kapitalismus ist bekanntlich ja nicht, ob ein Bedarf, sondern ob zahlungskräftige Nachfrage an Gütern und Dienstleistungen besteht. Es ist also beileibe nicht so, dass es in diesem Lande nichts zu tun gäbe. Uns geht hier die Arbeit nicht aus.

Das Beispiel Lucas Aerospace

Konversion kommt nicht einfach von so. Sie muss erkämpft werden. Der bekannteste Versuch einer Konversion der Produktion fand Mitte der 70er Jahre im englischen Rüstungsunternehmen Lucas Aerospace statt. Es ist an der Zeit, dass linke Aktivist*innen und Gewerkschafter*innen sich wieder mit dem Beispiel von Lucas Aerospace befassen, um daraus zu lernen – im Guten wie im Schlechten.

Georg Kümmel von der SAV hat die Ereignisse bei Lucas Aerospace 2007 beschrieben:

„Im Januar 1976 stellten Beschäftigte des britischen Luftfahrt- und Rüstungskonzerns Lucas Aerospace einen Plan für eine alternative Produktion vor. Statt Blindflug-Systeme für Militärflugzeuge wollten sie lieber Sichthilfen für Blinde bauen. Das war nur ein Vorschlag von 150 Ideen, die aus den Reihen der Belegschaft innerhalb nur eines Jahres entwickelt worden waren.

Auslöser für die Entwicklung eigener Produktionspläne waren mehrere Entlassungswellen im Konzern. Die Beschäftigten wollten beweisen, dass ihre Arbeitskraft nicht überflüssig ist. Bei Lucas Aerospace arbeiteten damals noch etwa 15 000 Menschen in verschiedenen Werken. Über die Hälfte der Produktion waren Rüstungsprojekte. Ein Gremium von Vertrauensleuten erarbeitete einen Fragebogen an die Beschäftigten in allen Werken: Wie viele Leute mit welcher Qualifikation gibt es? Welche Maschinen stehen zur Verfügung? An welchen Produkten mangelt es im Leben jedes Einzelnen und in der Gesellschaft? Könnte die Belegschaft das Werk auch selbst betreiben?

Die Resonanz war riesig. Belegschaftsversammlungen wurden durchgeführt. Ingenieure, Techniker, Facharbeiter setzten sich zusammen und entwickelten Ideen. Pläne und selbst Prototypen wurden heimlich während der Arbeitszeit und nach Feierabend gezeichnet und gebaut.

Mit ihren Vorschlägen war die Belegschaft in jeder Hinsicht ihrer Zeit weit voraus. Dazu zählten tragbare Dialysegeräte (damals musste man noch zum Anschluss an die künstliche Niere ins Krankenhaus), der Einsatz von Solarzellentechnik oder Wärmepumpen zur energiesparenden Beheizung von Häusern. Dabei nutzten die Beschäftigten konsequent ihr Wissen und ihre Erfahrung mit modernen Werkstoffen und Maschinen, was sie aber bisher notgedrungen vornehmlich für militärische Produkte eingesetzt hatten. Die Erfahrungen aus dem Bereich Aerodynamik wurden eingesetzt, um Windkraftwerke zu entwerfen.

Die Vorschläge wurden damals weit über die Grenzen des Werkes und selbst über die Grenzen Großbritanniens bekannt. Dazu zählte auch – um ein damals berühmtes Beispiel für den Erfindungsgeist der Belegschaft zu nennen – ein Schiene-Straßen-Fahrzeug. Das war eine Art Zwitter aus Bus und Bahn. Weil die Gummireifen besser auf der Schiene haften als Stahlräder, konnte der Schienenbus größere Steigungen überwinden als die klassische Eisenbahn. Das sollte unterentwickelten Ländern einen schnellen und preiswerten Ausbau der Bahn erlauben, weil in Bergregionen in der Regel auf teure Brücken und Tunnel hätte verzichtet werden können.

Die Geschäftsleitung des Konzerns zeigte sich wenig begeistert von den Plänen. Die Tatsache, dass hier aus den Reihen der Beschäftigten vollkommen selbstständig ein konkreter, realistischer Vorschlag für eine alternative Produktion auf den Tisch gelegt worden war, stellte unweigerlich die bestehenden Verhältnisse in Frage und zwar in jeder Hinsicht: Wozu brauchen wir noch eine innerbetriebliche Hierarchie? Wozu hohe Gehälter für die Chefetage, wenn die Ideen von den Beschäftigten in den Konstruktionsbüros und Werkshallen stammen? Was soll der Zweck der Produktion sein – die Bedürfnisse der Menschen oder Profitinteressen? Warum sollen die Beschäftigten nicht auch über die Gestaltung der Arbeitsabläufe bestimmen?

Die Forderung nach Verstaatlichung war damals sehr populär. Auch die Labour Party trat deshalb in ihrem Wahlprogramm von 1974 für die Verstaatlichung der Luftfahrtindustrie ein. Nach der Wahl „vergaß“ sie das aber schnell wieder. Auch den Spitzen der Gewerkschaften gingen die Pläne zu weit.

Um die Pläne der Lucas-Aerospace-Arbeiter umzusetzen, wäre eine grundlegende Veränderung der Macht- und Eigentumsverhältnisse erforderlich gewesen – nicht nur im Konzern, sondern in der Gesellschaft. Es lohnt sich dennoch, dieses Beispiel zu studieren, weil es eine Ahnung davon gibt, was möglich wäre, wenn eben diese kapitalistischen Verhältnisse durch sozialistische ersetzt würden und zwar nicht nur in einem Betrieb, nicht nur in einem Land, sondern weltweit.“[2]

Die längst überfällige Diskussion jetzt beginnen!

Ein Unterschied besteht allerdings. Die Konversion der Autoindustrie wird ‒ zumindest nicht in der BRD ‒ auf der Ebene des Einzelbetriebs zu machen sein. Schließlich muss nicht nur ein Unternehmen, sondern eine ganze Branche umstrukturiert werden. Die gesamte Branche der Autoindustrie muss in öffentliches Eigentum überführt werden, um die vielfältigen erforderlichen Maßnahmen miteinander zu koordinieren und zu vermeiden, dass nicht alle sich dazu entscheiden, jetzt z. B. Windräder herzustellen.

Die Überführung der Autoindustrie in gesellschaftliches Eigentum gehört allerdings nicht gerade zu den Top-Themen in der bundesdeutschen Linken. Wenn wir ehrlich sind, müssen wir einräumen, dass die unterschiedlichen Strömungen der radikalen Linken zu diesem Thema nicht viel mehr als Allgemeinplätze vorzuweisen haben. In anderen Ländern ist die Diskussion zu diesem Thema auch nicht weit fortgeschritten, aber zumindest weiter als in der BRD. In den Reihen US-amerikanischer und kanadische Gewerkschaftslinker gab es im Gefolge der Großen Krise von 2008/2009, als GM und Chrysler an der Schwelle des Bankrotts standen und GM nur durch massive Finanzspritzen von Seiten des Staates gerettet wurde, die Forderung, dass die US-Regierung die US-Autokonzerne ganz übernehmen solle. Dan La Botz schrieb in „Monthly Review Online“: „Der Kongress sollte die nationalisierte Autoindustrie in ein integriertes Unternehmen „US Auto, Mass Transport and Energy Industry“ umwandeln mit dem Ziel, unsere Infrastruktur wiederaufzubauen und endlich zu versuchen, unsere Umweltkrise anzugehen. So wie die US Regierung im Zweiten Weltkrieg die Transformation der Autofabriken in Flugzeugfabriken steuerte, könnte die US-Regierung die im Privatbesitz befindliche Autoindustrie in eine unter gesellschaftlicher Kontrolle stehende „US Auto, Mass Transport and Energy Industry“ umwandeln, die Busse, Straßenbahnen, Hochgeschwindigkeitszüge und Windturbinen produziert.“[3] In anderen Ländern mag es ähnliche Diskussionsansätze geben bzw. gegeben haben. Diese Diskussionsansätze gilt es, wieder auszugraben, wiederzubeleben – am besten auch auf internationaler Ebene. In diesem Prozess könnte gerade auch die IV. Internationale eine wichtige Rolle spielen.

Was das Thema der Konversion der Autoindustrie betrifft, gab es meines Wissens in der BRD keine auch nur ansatzweise entwickelte Diskussion.[4] Dennoch war eine Zeit lang „Konversion“ auch in der gewerkschaftlichen Linken in der BRD ein wichtiges Thema: Ich meine die Konversion der Rüstungsproduktion. Dies war in den 80 er Jahren ein wichtiges Thema im Rahmen der Friedensbewegung. Auch diese Ansätze und Erfahrungen gilt es, wiederzuentdecken und neu zu beleben.

Aus alledem wird klar: Wir haben keinen fertigen zweiseitigen Kochzettel, auf dem im Detail festgehalten ist, wie die Konversion der Autoindustrie vonstattengehen soll. Wir stehen ganz am Anfang einer Diskussion, die uns die gesellschaftliche Entwicklung aufzwingt. In Zeiten des infolge von kapitalistischem Profitstreben unerbittlich voranschreitenden Klimawandels wird von Jahr zu Jahr deutlicher, dass eine alte Aussage von Rosa Luxemburg ‒ in leicht abgewandelter Form ‒ keine hohle Phrase ist:

Ökosozialismus oder Barbarei

Es bleibt uns gar nichts anderes übrig, als zu versuchen, uns an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen.

 

[1] Die Favorisierung des motorisierten Individualverkehrs (weil damit mehr Profite zu machen sind) setzte allerdings schon vor dem II. Weltkrieg ein, wie Winfried Wolf in seinem Standardwerk nachwies: „Eisenbahn und Autowahn. Personen- und Gütertransport auf Schiene und Straße. Geschichte, Bilanz, Perspektiven“, Hamburg (Rasch und Röhring) 1987, S. 103 und die Grafik auf Seite 103

[2] Siehe https://www.sozialismus.info/2007/12/12439/.

Zur Grundsatzfrage siehe auch: Ken Coates, „Können die Arbeiter die Industrie verwalten?“ in Ernest Mandel (Hg.): „Arbeiterkontrolle, Arbeiterräte, Arbeiterselbstverwaltung.“ Frankfurt (EVA) 1971

[3] Siehe https://mronline.org/2008/11/18/whats-to-be-done-about-the-auto-industry/.

[4] So ganz ohne Widerhall war aber auch die Debatte in der BRD nicht: In der SoZ vom Dez. 2010 führte Franz Mayer ein Interview mit Lars Henriksson, (Mitglied der SP, schwed. Sektion der IV. Internationale), in dem Grundsatzfragen der Konversion erörtert werden: http://www.sozonline.de/2010/12/konversion-der-autoindustrie/. Lars Henriksson Lars Henriksson arbeitete seit 1978 bei Volvo in Göteborg. Er ist Autor des Buchs Slutkört (2011), in dem er für eine Gewerkschaftsstrategie zur Konversion der Autoindustrie eintritt, um Klima und Arbeitsplätze zu retten. Zur Frage der Humanisierung der Arbeit siehe seinen Beitrag in Lunpark21, Heft 19 (Herbst 2012) online unter: http://www.lunapark21.net/wettbewerb-statt-humanisierung-gruppenarbeit-in-der-schwedischen-automobilindustrie/#more-1969

Zum 30. Jahrestag von Lucas Aerospace siehe auch: http://www.die-welt-ist-keine-ware.de/vsp/soz-0704/070409.htm

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