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Geschichte und Philosophie

Rosa Luxemburg und die Wahlen zur Nationalversammlung

Von Peter Berens | 01.01.2011

Im geschichtlichen Rückblick wird der Gründungsparteitag der KPD vom 30.12.1918 – 1.1.1919 in Berlin als Beleg dafür genommen, dass die Kommunistische Partei zwar eine marxistische Führung um Rosa Luxemburg besaß, diese aber einem mehrheitlich „ultralinken Flügel“ gegen­überstand.

Im geschichtlichen Rückblick wird der Gründungsparteitag der KPD vom 30.12.1918 – 1.1.1919 in Berlin als Beleg dafür genommen, dass die Kommunistische Partei zwar eine marxistische Führung um Rosa Luxemburg besaß, diese aber einem mehrheitlich „ultralinken Flügel“ gegen­überstand1.

Diese Einschätzung wird an der Diskussion des Gründungsparteitags der KPD (vorher Spartakusbund) über die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung festgemacht, die von einer Mehrheit der Delegierten – gegen die Leitung um Rosa Luxemburg – mit 62 : 23 Stimmen abgelehnt wurde. Die Mehrheit der Teilnehmer­Innen soll auch den Austritt aus den reformistischen Gewerkschaften befürwortet haben2. Resolutionen wurden hierzu allerdings nicht abgestimmt, sodass kein Meinungsbild mit Mehrheit und Minderheit eingehol wurde. Selbst Rosa Luxemburg vertrat dort die Ansicht, dass die Gewerkschaften durch Betriebsräte und Arbeiterräte zu ersetzen seien, wenngleich sie sich gegen den Austritt aus den Gewerkschaften aussprach3.
Die Gegner­Innen der Teilnahme an der Reichstagswahl werden bis heute pauschal als „ultralinks“ bezeichnet. 1919 wurde der durch weitere Konflikte erstarkte „ultralinke“ Flügel von der KPD-Leitungsmehrheit um Paul Levi auf dem 2. Parteitag in Heidelberg bürokratisch ausgeschlossen4.
Eine taktische Frage
Wie die Debatte auf dem Gründungsparteitag zeigte, ist dort zwar von einigen Delegierten, die sich gegen die Wahlbeteiligung aussprachen, „[…] schief und weit über das Ziel hinausgehend, argumentiert worden“5, so Rosi Wolfstein in der Diskussion. Andere Gegner wie Eugen Leviné sahen eine Beteiligung als „keine prinzipielle Frage“, wohl aber als wichtig an6. Auch Rosa Luxemburg hatte bis zum 1. Kongress der Arbeiter- und Soldatenräte am 16.-21. Dezember ein Rätesystem befürwortet und Wahlen zu einem bürgerlichen Parlament abgelehnt. „Wer heute zur Nationalversammlung greift […] ist ein verkappter Agent der Bourgeoisie oder ein unbewußter Ideologe des Kleinbürgertums“ […]. Der parlamentarische Kretinismus […] wird morgen ein Verrat am Sozialismus sein“7.

Das waren starke Worte. Doch nachdem der Rätekongress einen Monat später beschlossen hatte, am 19.1.1919 die Parlamentswahlen durchzuführen, schwenkte sie um und schrieb am 23. Dezember einen – ungezeichneten – Artikel in der KPD-Zeitung Rote Fahne, worin sie die Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung befürwortete8. Ihrem Schwenk um 180 Grad folgte die Leitung des Spartakusbundes ohne Widerspruch, was nicht gerade ein Zeichen politischer Selbstständigkeit war. Rosa Luxemburg hatte also selbst ein taktisches Verhältnis zur Beteiligung an den Wahlen und war nicht etwa vor der Gründung der KPD eine verbohrte Ultralinke, um dann dem Gründungsparteitag eine marxistische Position zu präsentieren.
Demokratisches Leitungsverständnis?
Da die Gründungskonferenz der KPD vom 30.12.1918 bis zum 1.1.1919 stattfand, mussten die anreisenden Delegierten des Spartakusbundes von dem Kursschwenk ihrer Leitung völlig überrascht worden sein. Denn Rosa Luxemburgs anonymer Artikel vom 23. Dezember hatte zwar „kolossal in der Arbeiterschaft verstimmt“9, aber eine demokratische Diskussion in den örtlichen Gruppen über den Linienschwenk konnte angesichts einer Woche Diskussionszeit kaum stattgefunden haben.

Wenn Rosa Luxemburg dem Gründungskongress das Argument vortrug, eine Wahlbeteiligung könne nicht reiflich und gründlich genug überlegt werden, so wichtige Entscheidungen dürften nicht schnell übers Knie gebrochen werden, zeigt das, dass ihr in der Debatte fast jedes Argument recht war, um ihre Position durchzusetzen. Nicht viel anders kann die Behauptung des einleitenden Referenten für die Wahlbeteiligung, Paul Levi, gewertet werden, in Russland hätten sich bekanntlich die Bolschewiki stets an den Wahlen zur Duma beteiligt. Das war eine glatte Unwahrheit. Sie hätte leicht widerlegt werden können – durch Rosa Luxemburg. Schließlich hatte sich ihre Sozialdemokratische Partei Polens und Litauens 1906 genauso wie Lenins Bolschewiki und Trotzki für den Boykott der Wahlen zur russischen Duma ausgesprochen, während die Menschewiki für eine Beteiligung eintraten.
Zu erwarten, dass die Mitgliedschaft der KPD ohne demokratische Diskussion innerhalb einer Woche einen solchen taktischen Schwenk um 180 Grad mitmachte, offenbart ein recht eigentümliches Verständnis vom demokratischen Funktionieren einer revolutionären Partei und des Zusammenspiels von Leitung und Basis.
Räte oder Parlament?
Entscheidend war aber, dass die Kontroverse – hier bürgerliches Parlament / Nationalversammlung, dort Rätesystem – geschichtlich noch nicht ausgestanden war, wie wenige Monate später die Ausrufung der Münchener Räterepublik am 6.-7. April 1919 zeigen sollte. Das dürfte auch Rosa Luxemburg geahnt haben, die auf dem Gründungskongress im Widerspruch zu ihrem Engagement für die Wahlbeteiligung dafür eintrat, sich „auf das System der Arbeiterräte [zu] konzentrieren“10. Ein aktiver, taktischer Wahlboykott, wie ihn ein erheblicher Teil der Delegierten um Eugen Levine und Rosi Wolfstein forderte, musste unter den konkreten his­to­rischen Umständen die Argumentation für ein Rätesystem ebenso bekräftigen, wie eine Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung die Räteidee unterminieren musste.

Damit standen sich auf dem Gründungsparteitag der KPD nicht eine marxistische Führung um Rosa Luxemburg und ein „ultralinker Flügel“, sondern drei Positionen gegenüber: eine gemäßigt-marxistische um die Leitung des Spartakusbundes (taktisch für Wahlbeteiligung); eine radikal-marxistische um Eugen Levine und Rosi Wolfstein (taktisch gegen Wahlbeteiligung) und eine „ultralinke“ (prinzipiell gegen Wahlbeteiligung).

 1    Weber, Hermann, Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt/M. 1969, S. 38.
 2    Ebenda S. 87 f. und S. 137 f.
 3    Ebd., S. 163.
 4    Maslow, Arkadij, Manuskripte 1935-1941, in: Lübbe, Peter (Hrsg.), Abtrünnig wider Willen. Aus Briefen und Manuskripten des Exils, München 1990, S. 364 f..
5    Weber, Hermann, Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt/M. 1969, S. 129.
6    Ebd., S. 109.
7    Rosa Luxemburg, Die Nationalversammlung, Berlin 20.11.1918, in: Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED, Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke. August 1914-Januar 191
9, Bd. 4, Berlin 1974, S. 409 f.
8    Ebenda, S. 474 f.
9    Weber, Hermann, Der Gründungsparteitag der KPD. Protokoll und Materialien, Frankfurt/M. 1969, S. 130.
10    Ebd., S.163 f.

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