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Geschichte und Philosophie

Revolutionär wider Willen

Von Harry Tuttle | 01.09.2010

Vor 30 Jahren wurde die polnische Gewerkschaft Solidarność gegründet. Ihre Forderung nach einer „selbstverwalteten Republik“ war eine Herausforderung für die Demokratie und der bislang letzte bedeutende Versuch, einen rätedemokratischen Sozialismus zu erkämpfen.

Vor 30 Jahren wurde die polnische Gewerkschaft Solidarność gegründet. Ihre Forderung nach einer „selbstverwalteten Republik“ war eine Herausforderung für die Demokratie und der bislang letzte bedeutende Versuch, einen rätedemokratischen Sozialismus zu erkämpfen.

Der Repräsentant der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PVAP) bemerkte auf dem Weg zur Lenin-Werft in Gdansk schnell, dass die Arbeiter­Innen ihn nicht mochten. „Die unfreundlichen Rufe, das Trommeln auf den Wagen, der uns dorthin brachte – ich konnte die Feindseligkeit spüren“, berichtete Mieczyslaw Jagielski später. Im August 1980 war dem Vizepremierminis­ter die undankbare Aufgabe zugefallen, die Regierung bei den Verhandlungen mit den streikenden Arbeiter­Innen zu vertreten.
Die Streikwelle hatte im Juli begonnen, der Anlass war die Erhöhung der Preise für Lebensmittel. Bislang war es der Regierung immer gelungen, mit ökonomischen Zugeständnissen und Repression – bei der Niederschlagung der Streiks im Jahr 1970 waren nach offiziellen Angaben 49 Menschen getötet worden – eine unabhängige Organisierung der Arbeiter­Innen zu verhindern.
Nicht verhindern konnte die Bürokratie, dass kämpferische Arbeiter­Innen Erfahrungen sammelten und politische Schlussfolgerungen zogen. Bislang war jeder Sieg von kurzer Dauer gewesen. Die immer wieder versprochene Reform der Partei und der staatlichen Gewerkschaften blieb aus und die erkämpften Lohnerhöhungen wurden durch neue Preiserhöhungen entwertet. Es war jedoch vor allem die Misswirtschaft der Bürokratie, die zu Produktionsausfällen und auch zu zahlreichen vermeidbaren Arbeitsunfällen vor allem im Bergbau führte. Überdies hatte eine verfehlte Modernisierungspolitik der PVAP zu einer immensen Verschuldung bei westlichen Banken geführt. Um die Schulden bezahlen zu können, mussten die Exporte gesteigert werden – auf Kosten der Versorgung der Bevölkerung.

Mehr und mehr hatte sich unter den Arbeiter­Innen die Haltung verbreitet: Das können wir besser. Die erste und wichtigste Voraussetzung für die Verbesserung der Lebensbedingungen und eine politische Einmischung war eine eigene, unabhängige Gewerkschaft. Dies war die erste der 21 Forderungen, die das überbetriebliche Streikkomitee (MKS) stellte. Auch die in der Verfassung garantierte „Rede-, Druck-, Publikationsfreiheit“ sollte die Bürokratie endlich gewähren. Eine Reihe sozialer Forderungen, unter anderem nach einer scala mobile, der automatischen Lohnerhöhung in Maße der Preissteigerungen sowie der Streichung der Privilegien für die Bürokratie ergänzte diese Herausforderung der PVAP.
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Die „Vereinigte Arbeiterpartei“ stand nun den vereinigten Arbeiter­Innen gegenüber. Den Durchbruch brachte der am 14. August begonnene Besetzungsstreik auf der Lenin-Werft in Gdansk, einem Betrieb, der bereits bei früheren Arbeitskämpfen eine führende Rolle gespielt hatte. Das MKS vertrat zunächst die Betriebe der Küstenregion, doch Ende August traten auch die Bergarbeiter im Süden in den Streik. Die PVAP sah sich am 30. August gezwungen, die Existenz einer unabhängigen Gewerkschaft zu akzeptieren.
Im September wurde die Solidarność offiziell gegründet, mehr als 9,5 der 35 Millionen Pol­Innen traten innerhalb weniger Monate in die Gewerkschaft ein. Es begann eine Zeit der Kämpfe in den Betrieben und der politischen Debatten. Häufig wurden die von der Partei eingesetzten Betriebsführungen entmachtet und durch gewählte Repräsentant­Innen der Belegschaft ersetzt. Es gab zahlreiche Konflikte und Streiks, es kam aber auch vor, dass freiwillige Mehrarbeit geleistet wurde. Dann aber bestanden die Arbeiter auch darauf, selbst über die Verteilung des Mehrprodukts zu entscheiden. So vergaben Bergarbeiter in Zusatzschichten geschürfte Kohle an Krankenhäuser.
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Über die Erfahrungen und die künftige Strategie wurde in den Betrieben und nach Feierabend eifrig diskutiert. Viele Belegschaften zogen Intellektuelle als Berater hinzu, vor allem aus dem 1976 gegründeten Komitee zur Verteidigung der Arbeiter (KOR). Doch wurden die Forderungen weitgehend ohne organisierte Einflussnahme von den Arbeiter­Innen selbst entwickelt. Im September 1981 kamen die Debatten zu einem vorläufigen Abschluss. Bei einem Kongress wurde das Programm der Solidarność verabschiedet.
Gefordert wurde nicht weniger als eine „selbstverwaltete Republik“, deren Institutionen aus „freien Wahlen hervorgehen“ müssten. Das „gesellschaftliche Unternehmen, über das die Belegschaft, repräsentiert durch den Arbeiterrat, verfügt“, sollte die „Grundeinheit“ der Wirtschaft werden. Von Räten sollten auch die Wohnviertel und die gesellschaftlichen Institutionen verwaltet werden. Über die ökonomische Selbstverwaltung gab es unterschiedliche Ansichten. Das KOR befürwortete eine dezentrale Wirtschaftsordnung auf der Grundlage gesellschaftlichen Eigentums. Eine andere Fraktion propagierte die Demokratisierung der Planwirtschaft.
Von dem der Solidarność sowohl von Stalinisten wie von westlichen Antikommunisten unterstellten Willen, zum Kapitalismus zurückzukehren, findet sich in dem mit großer Mehrheit verabschiedeten Programm keine Spur. Rätedemokratie und gesellschaftliche Kontrolle über die Produktionsmittel waren die Kernforderungen. Die polnische Gewerkschaftsbewegung unternahm den bislang letzten bedeutenden Versuch, eine sozialistische Gesellschaft zu erkämpfen.
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Rückblickend erscheint es offensichtlich, dass Solidarność eine revolutionäre Massenbewegung war, deren dauerhafte Existenz die PVAP nicht dulden konnte. In der selbstverwalteten Republik wäre die Bürokratie nur noch Staffage gewesen. Doch überwog unter den Solidarność-Mitgliedern die Ansicht, eine Konfrontation mit der Bürokratie könne vermieden werden.
Dafür gab es einige gute Argumente. Die PVAP war geschwächt, auch viele ihrer Mitglieder – Schätzungen zufolge ein bis zwei Millionen – waren der Solidarność beigetreten. Es war unklar, ob die Regierung sich auf ihre Soldaten verlassen konnte, wenn diesen befohlen würde, auf Streikende zu schießen. Im polnischen Offizierskorps gab es starke antirussische Ressentiments, die KPdSU hätte nicht ausschließen können, dass im Falle einer Intervention polnisches Militär gegen sie kämpfen würde.
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Doch die Bürokratie bewies, dass sie zwar nicht die Wirtschaft, wohl aber noch die Repression effektiv organisieren konnte. Am 13. Dezember 1981 putschte das von General Wojciech Jaruzelski geführte polnische Militär. Etwa 5000 Menschen, unter ihnen die meisten führenden Gewerkschafter­Innen und Intellektuellen, wurden interniert. Um einige Betriebe wurde heftig gekämpft. Bei der Er
stürmung der Mine Wujek starben sieben Arbeiter, aber auch vier Polizisten der Eliteeinheit ZOMO. Ihr wurde die Bekämpfung offenen Widerstands weitgehend überlassen, in der Armee war es zu Befehlsverweigerungen bei Wehrpflichtigen gekommen.
Es gelang jedoch innerhalb weniger Wochen, die legalen Strukturen der Solidarność zu zerschlagen. Da die PVAP nun wieder alle Medien streng kontrollierte, war eine gesellschaftliche Debatte oder die Koordinierung von Aktionen kaum noch möglich. Es kam dennoch zu Streiks, weit verbreiteter waren langsames Arbeiten und Absentismus. Doch auch dieser Aktionsform waren Grenzen gesetzt, schließlich waren die Bürokraten die letzten, die frieren mussten, wenn es an Kohle fehlte.
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Ende 1983 schätzte der Gewerkschaftsführer Zbigniew Bujak die Zahl der verbliebenen, Beiträge zahlenden Mitglieder auf eine Million. Für eine illegalisierte Organisation war das eine beachtliche Zahl. Noch immer waren die Arbeiter­Innen eine Gegenmacht, doch die Kontrolle über die Staatsmacht hatte die Bürokratie wiedererlangt.

Internationale Solidarität war nun wichtiger denn je. Es gab Armut, insbesondere in Familien, aus denen Mitglieder inhaftiert oder entlassen worden waren, aber auch einen Bedarf an linker Literatur. Sie musste ins Land geschmuggelt und illegal verteilt werden, eine Aufgabe, der sich vor allem Gruppen der IV. Internationale und linke Gewerkschafter­Innen widmeten.
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Die illegalisierten polnischen Gewerkschafter­Innen unterstützen auch Streiks im Westen. Sie sicherten 1984 ihre „volle Unterstützung und Solidarität den britischen Bergarbeitern“ zu, die gegen die Schließung ihrer Gruben kämpften. Die konservative Regierung Großbritanniens fand damals in Jaruzelski einen guten Freund. Er lieferte die dringend benötigte Kohle und trug so zur Zerschlagung einer weiteren Gewerkschaft bei.

Dennoch konnte Solidarność auf die Solidarität großer Teile der Linken nicht zählen. Vor allem stalinistische Gruppen verwiesen auf das Bündnis mit dem US-Präsidenten Ronald Reagan und Papst Johannes Paul II. Tatsächlich unterstützte diese „heilige Allianz“ die gemäßigte, von Lech Walesa geführte Fraktion. Doch Reagan hatte kein Interesse an einer „selbstverwalteten Republik“, er sah in Solidarność vornehmlich ein Mittel, die Sowjetunion unter Druck zu setzen.
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Der Kirche schuldeten die Bürokrat­Innen eigentlich Dank, denn sie hatte immer wieder versucht, die Kampfbereitschaft der Arbeiter­Innen zu bremsen. Man solle „nicht zuviel fordern“, hatte Kardinal Stefan Wyszynski, der Primas der polnischen Katholiken, während der Streiks im August 1980 gemahnt. Sein Nachfolger Jozef Glemp rief nach dem Putsch zur Ruhe auf. In der Zeit der Illegalität allerdings spielte die Kirche eine wichtige Rolle, denn ihre fast unantastbaren Institutionen dienten der Verteilung von Hilfsgütern und illegalen Schriften.

Es war die Bürokratie selbst, die Ende der achtziger Jahre die Rückkehr zum Kapitalismus organisierte und sich dafür in Polen die Mitarbeit wichtiger Solidarność-Mitglieder sicherte.

Die Gewerkschaft war kaum noch existent, und es kam in Polen auch später nicht mehr zu Arbeitskämpfen, die denen der Jahre 1980/81 vergleichbar wären. Doch als bislang letzte große rätedemokratische Bewegung hat Solidarność nicht allein historische Bedeutung. Die Gewerkschaft bewies, dass innerhalb kurzer Zeit eine von Arbeiter­Innen getragene Befreiungsbewegung entstehen kann, die aus eigenen Erfahrungen heraus für eine selbstverwaltete Gesellschaft kämpft. 

 

„Verratene Revolution“
Bei der Familie M. entspann sich eine Diskussion um Bücher. M. erzählte, wie ihm ein Exemplar von Trotzkis „Verratene Revolution“ in die Hände kam. Er las Tag und Nacht, weil das eine Exemplar weitergegeben werden musste. M. sagte, erstmals habe er eine Erklärung für die Fehlentwicklung der Revolution bekommen. Seine Frau war immer noch erbost, dass sie das Buch nicht zu Ende lesen konnte. M. wurde der Mittelpunkt der Verteilung der Inprecorr im südlichen Bereich, und er war ein Begleiter der ersten Versuche zur Rätedemokratie in Wroclav. Es war sicher sinnvoll, dass wir – nicht ohne Risiko – die Solidarność-Bibliothek mit Literatur beliefert haben. Die Bücherei wurde mit dem Kriegsrecht aufgelöst. Wer mag die Bücher danach gelesen haben?

 

I presume…
Unterwegs in W. stieg ein junger Mann in unser Auto, er sollte für uns dolmetschen. Kaum auf seinem Sitz, drehte er sich um und sagte: „I presume you are Fourth Internationalists.“ Warum diese Zuordnung? Wir waren auf dem Weg von einem Betrieb zum anderen, um mit den Aktivist­Innen vor Ort zu reden, nicht mit irgendwelchen Prominenten. Heute würde mensch sagen, das war unser Alleinstellungsmerkmal.
Fadroma
In der Wohnung eines aktiven Solidarność-Mitglieds sammelten sich in den Tagen, als in der Maschinenfabrik Fadroma der technische Direktor gewählt wurde, viele Interessierte. Die Arbeiter­Innen hatten ihre Vertreter gewählt, die abends mit der Belegschaft über die Verhandlungen diskutierten. Es gab eine Art imperatives Mandat. Dazu hatten sie einen wissenschaftlichen Beirat eingerichtet, der von Universitätsprofessoren gestellt wurde. Gewählt wurde ein Ingenieur aus dem Betrieb, den die Regierung bestätigte, sicher höchst ungern. Wir haben über Doppelherrschaft diskutiert, aber damals war der Optimismus der Arbeitenden enorm!
Orden
In T. wollten wir zur Bauern-Solidarność, auf dem ersten Treppenabsatz des Bürogebäudes war ein Kriegsveteran postiert, mit einer Fülle vielfarbener Orden dekoriert. Dieser Posten sollte am Zutritt hindern, denn ihn zu attackieren, auch vonseiten der Polizei, war ein Tabubruch. Illusionen, die Polizeikräfte würden nicht einschreiten, da sie ja Brüder, Söhne, Väter seien, gab es überall.
Inprecorr im Hühnerstall
Bei einem Besuch in B. im Süden wurden wir statt einer großen Anzahl nur drei der Inprecorr-Heftchen los, der Rest war lose, ohne „Schutzverpackung“. Diese Heftchen waren etwa 12 x 6 Zentimeter groß und auf Dünndruckpapier gedruckt, sodass mensch sie in der hohlen Hand verbergen konnte. Trotzkistische Literatur konnte nicht offen weitergegeben werden. Mit diesen Heftchen kamen wir bei M. an. Wir informierten ihn, denn schließlich kann mensch nicht bei einem Aktivisten wohnen, ohne ihm klarzumachen, worauf er sich mit uns einlässt. M. sagte nur: „Das kommt in den Hühnerstall“. Allerdings fanden wir noch am selben Abend einen Gast im Wohnzimmer, der ein solches Heftchen las und sein Interesse, ja seine Begeisterun
g äußerte. Während der Zeit des Kriegsrechts ging die Verteilung von diesem Ort bis nach Warschau.
Wanzen
Klar, dass M. verdächtigt wurde, auch während des Kriegsrechts weiter zu arbeiten. Deshalb wurde seine Wohnung mit einer Wanze ausgestattet, einem westlichen Produkt. M. war Ingenieur und ein findiger Kopf, er entdeckte die Wanze und baute sie aus. So war sie wirkungslos. Nur sein Haus stand unter einer Art Belagerungszustand. Die Sicherheitsbehörden wollten das nutzlos gewordene teure westliche Gut dringend zurück haben. Sie machten einen Deal: M. gab die westliche Technik heraus, und der Belagerungszustand, unter dem sich sein Haus befand, wurde aufgehoben und „Normalität“ hergestellt.
Während des Kriegsrechts
Wir haben uns in Privatwohnungen, teilweise auch am Ess­tisch schriftlich verständigt, vieles wurde auf der Straße oder in Parks besprochen, aber auch auf der Kirchenbank. Eine katholische Kirche steht zum Gebet offen. Auch eine Reihe von Hilfsgütern landete in der „Katedralna“ in W., das heißt beim Erzbischof. Das war wichtig, denn diejenigen, die Medikamente spendeten, brauchten eine Garantie für die sachgemäße Verwendung der Rheumamittel, Antibiotika und Schmerzmittel. Anderes kam in ein Franziskanerkloster, die Verfügung blieb aber in den Händen unserer Solidarność-Kollegen.

Barbara Schulz (alle Kästen)

 

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