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Politischer Streik: Machbar und nötig

01.03.2004

In einer Hinsicht ist die Bilanz des kapitalistischen Europa eindeutig: Sämtliche Regierungen sind daran gescheitert, die Massenerwerbslosigkeit nennenswert zu verringern. Die Möglichkeit, durch Erwerbsarbeit ein eigenständiges Leben zu führen, ist zunehmend ungleich verteilt. Offiziell sind über 16 Millionen Menschen in der EU (4,4 Millionen in Deutschland) dazu verurteilt, eine Null-Stunden-Woche zu arbeiten; sie können nur mit Hilfe von Lohnersatzleistungen und Sozialhilfe überleben. Allein in Deutschland sind darüber hinaus etwa 11 Millionen Menschen unterbeschäftigt. Inzwischen gibt es ganze Familien, die seit über einer Generation ohne reguläres Arbeitseinkommen auskommen müssen. Die Anzahl der jugendlichen und jungen Erwerbslosen steigt beharrlich, ebenso die Anzahl der Dauer- und Langzeitarbeitslosen. Millionen Kinder erleben mit ihren Eltern Armut und Entwürdigung durch Sozial- und Arbeitsämter als tägliche Normalität. Das sich so hoch preisende Europa hat dem Großteil seiner Jugendgeneration keine Perspektive zu bieten. Flächendeckend wird es – erstmalig nach dem Krieg – der Generation der Kinder schlechter gehen als der ihrer Eltern. Es ist die größte Lüge der Neoliberalen, dass die ganze Krisen- und Sparpolitik dieser Tage nötig sei, um den künftigen Generationen keine Belastungen zu hinterlassen. War die Existenz eines großen Arbeitslosenheeres jahrelang willkommen, um Druck auf das Lohnniveau auszuüben, so gibt es heute eine fast vollständige Zweiteilung des Arbeitsmarkts in Arbeitsplatz»besitzende« und Erwerbslose. Die angebotsorientierte Politik des Neoliberalismus untergräbt zusätzlich die Massenkaufkraft, wodurch die Überproduktionskrise des Kapitals noch verschärft wird. Sämtliche Regierungen Europas, allen voran die sozialdemokratisch-grüne Schröder-Fischer-Truppe in Deutschland, sind deshalb in der Agenda 2010 – die die Staats- und Regierungschefs im März 2000 auf dem EU-Gipfel in Lissabon verabredet haben – dazu übergegangen, eine brutale Politik nicht gegen die Erwerbslosigkeit, sondern gegen die Erwerbslosen zu beginnen. Staatliche Lohnersatzleistungen werden zusammengestrichen, um die öffentlichen Haushalte zu sanieren, die zuvor durch Steuergeschenke an die Reichen geplündert wurden. Kollektive Schutzrechte, »Hindernisse« wie der Flächentarif oder der Kündigungsschutz stehen unter Attacke, und für die dann immer noch »Arbeitsunwilligen« werden immer offenere Formen von Zwangsarbeit eingeführt. Der Sinn der Operation ist der Ausbau des sog. Niedriglohnsektors, d.h. eine neuerliche Verschärfung des Drucks auf das gesamte Lohnniveau. Regierung und Kapital haben eine Absenkung der Löhne um 30% im Auge; der wichtigste Hebel dazu ist die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Reduzierung des neuen Arbeitslosengelds II auf ein Niveau, von dem man nicht mehr leben kann (345 Euro). Leider haben sich fast alle Gewerkschaften angesichts der dauerhaften Massenerwerbslosigkeit und auch als Reaktion auf die jüngsten »Reformprogramme« der EU-Regierungen darauf zurückgezogen, eine mehr schlechte als rechte Politik für die Arbeitsplatz»besitzenden« zu verfolgen. Doch die defensive Politik ist fürchterlich zum Scheitern verurteilt. Auf der einen Seite fehlt die Kraft, für die Arbeitsplatz»besitzer« noch materielle Verbesserungen zu erkämpfen; sie kehren den Gewerkschaften enttäuscht den Rücken. Auf der anderen Seite wird Millionen Erwerbslosen und prekär Beschäftigten die kalte Schulter gezeigt, und so wenden auch diese sich enttäuscht ab. Fast das erste, was ein Neu-Erwerbsloser heute in Europa macht, ist die Austrittserklärung an die Gewerkschaft. Diese Spaltung der abhängig Beschäftigten muss aufgehoben werden! Die Frage einer radikalen Umverteilung der vorhandenen Arbeit muss im Mittelpunkt einer neuen politischen Offensive der antikapitalistischen Kräfte stehen. Eine neue, schnelle und kräftige Arbeitszeitverkürzung ohne Lohn- und Gehaltseinbußen wird die Schlüsselauseinandersetzung der kommenden Jahre sein. An ihr wird sich jede neue politische Kraft messen lassen müssen. Die 30-Stunden-Woche für alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich ist deshalb eine der zentralen Forderungen, um die sich alle antikapitalistischen Kräfte in Europa heute versammeln sollten. Der Kampf um die Arbeitszeit, das wussten schon Marx und Engels, ist eine Machtfrage. Die IG Metall hat dies im letzten Jahr mit ihrem verlorenen Kampf um die 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland erneut erfahren dürfen. Eine Kampagne für die 30-Stunden-Woche kann deshalb nicht auf einzelne Betriebe beschränkt werden. Sie muss die gesamte Gesellschaft, die Erwerbslosenverbände, die sozialen Einrichtungen und das Leben in den Stadtvierteln erfassen und einbeziehen. Mit einem Vertrag über kürzere Arbeitszeiten ist der Kampf auch nicht zu Ende. Die Erfahrungen in Frankreich und in Deutschland haben gezeigt: Erst die Kontrolle der Beschäftigten über ihre Umsetzung in den Betrieben und über den tatsächlichen Personalausgleich kann zu einer Entlastung der Beschäftigten und neuen Arbeitsplätzen für Erwerbslose führen. Andernfalls fressen Arbeitsverdichtung und Rationalisierung die Früchte der Arbeitszeitverkürzung schnell wieder auf. Der Kampf für kürzere Arbeitszeit, höhere Löhne und eine Mindestsicherung, von der man leben kann, gehören zusammen. Was das Kapital begriffen hat, müssen Gewerkschaften schon lange wissen. Die Unternehmer wollen die Geschichte zurückdrehen: Zum ersten Mal seit Hitlers Zwangswirtschaft fordern sie die Verlängerung des Arbeitstags, um die Löhne zu senken. Deshalb sofort und ohne Kompromisse: 30-Stunden-Woche für alle bei vollem Lohn- und Personalausgleich

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