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Innenpolitik

Nun gründeln sie wieder…

Von Helmut Dahmer | 14.10.2015

Im Zuge der Wiedervereinigung der beiden deutschen Teilstaaten mussten West- und Ostdeutsche sich erst wieder aneinander gewöhnen. Jahrzehnte-lang hatten kalte Krieger an der Verdrängung der Nazi-Vergangenheit und an der Verfremdung der beiden Teilbevölkerungen und ihrer Staatsführungen gearbeitet.

Nun tat sich eine neue Kluft zwischen Vereinigungs-Gewinnlern und -Verlierern auf. Und so waren die Toleranzreserven in Ost und West bald erschöpft.

Ventil für schwelende Aggressionen

Um den fragilen Zusammenhalt der lange geteilten Nation zu sichern, musste ein neues Ventil für schwelende Aggressionen gefunden werden, neue Mauern und Grenzen, neue Fremdgruppen mussten her. Sie fanden sich in Gestalt der Ausländer-Minoritäten, die in Westdeutschland ein paar Millionen, in Ostdeutschland ein paar Tausend ausmachten. Alsbald brannten (in Mölln und in Solingen, in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen) Asylbewerber-Unterkünfte. An die hundert „Fremde“ wurden in den neunziger Jahren in Deutschland von Brandstiftern und Totschlägern umgebracht.

Die damals führenden Berufspolitiker versuchten, gerade so wie heute, das alles kleinzureden und auszusitzen. Mehr noch, sie schränkten das grundgesetzlich verbürgte Asylrecht ein, einen Berstschutz, der seit 1949 die xenophoben Tendenzen einigermaßen in Zaum gehalten hatte. Die fremdenfeindlichen „Übergriffe“ pendelten sich dann in den vergangenen 15 Jahren auf einem hohen Niveau ein (jeden Tag gab es mindestens einen) und gehörten bald zur neuen „Normalität“.

Im Zeichen von Wirtschaftskrise und Massenflucht aus außereuropäischen Kriegs- und Elendsländern sowie aus ruinierten Balkanstaaten haben die durch Pegida-Demonstrationen und NPD-Agitation vorbereiteten „Krawalle“ jetzt einen neuen Höhepunkt erreicht. Die Koalitionsregierungen in Bund und Ländern aber tun so, als wäre das hierzulande etwas Neues, als wären sie von „den Ereignissen“ völlig überrascht, verstünden gar nicht, was vorgeht, und müssten nun eilends irgendetwas improvisieren.

Das unausgesprochene Programm der Regierung

Diese zur Schau getragene Ahnungs- und Verständnislosigkeit hilft ihnen, das von Mehrheiten getragene, unausgesprochene Programm der Regierungen aller Wohlstandsoasen im Elendsmeer der Weltwirtschaft auch weiterhin zu verfolgen. Diese „hidden agenda“ lautet: „Wir werden alles daransetzen, um das verelendete Fünftel der Erdbevölkerung daran zu hindern, in den wenigen irdischen Paradiesen Zuflucht zu suchen, in denen ein anderes Fünftel der heute lebenden Menschen sich seit Jahrzehnten eingerichtet hat.“ Darum fällt auch den europäischen Staats-Männern und -Frauen nichts Anderes ein, als immer neue Mauern und Zäune an ihren Grenzen zu errichten, Flüchtlinge einzufangen, sie zu kasernieren und in das Elend, dem sie zu entkommen suchten, zurückzuschicken, Fluchtboote zu zerstören und „Schlepper“ zu verhaften.

Frau Mogherini, die europäische „Außenbeauftragte“, verweist hin und wieder vage darauf, man müsse irgendwie die Herkunftsländer der Kriegs- und Elendsflüchtlinge dazu bringen, diese bei sich zu behalten. Über das „Wie“ schweigt sie sich aus, und es bleibt der Phantasie ihrer Zuhörer überlassen, ob sie an riesige Internierungslager in „failed states“ wie Libyen, Jemen, Syrien, dem Libanon oder Afghanistan denkt oder an das Jahrhundertprojekt einer „Entwicklungshilfe“, die diesen Namen verdiente, sich also auf fünf bis 10 Prozent des Sozialprodukts der reichen Nationen beliefe. Vermutlich ist aber Frau Mogherini darauf bedacht, solche Leerformeln, die geeignet sind, vom Problem der Elendsflüchtlinge in Europa abzulenken, auf keinen Fall mit einem bestimmten Inhalt zu füllen.

Die deutsche Kanzlerin, ihr Vizekanzler und das politische Führungspersonal der Bundesländer tun so, als hätte es die ausländerfeindliche Welle der neunziger Jahre nie gegeben. Ihre hilflosen Verlautbarungen klingen, als wäre die manifeste und militante Xenophobie der Minderheit, die für die Mehrheit zu sprechen behauptet und in der Lage ist, Tausende von Demonstranten auf die Straßen zu bringen, ein völlig ungelöstes Rätsel, dessen „Gründe“ man allererst erforschen müsse. Dabei ist kaum ein Sozialrätsel unserer Tage so gründlich erforscht worden wie der Antisemitismus und seine Verallgemeinerungsform, die Xenophobie.

Fremdenfeindlichkeit nicht neu

Es gibt eine reiche und differenzierte Literatur über die historischen Erscheinungsformen der Fremdenfeindlichkeit in Deutschland und in anderen europäischen Gesellschaften, und seit Nietzsche, Freud und Adorno wissen wir, was es mit dem Ressentiment der zu kurz Gekommenen und all derer, die sich zu kurz gekommen wähnen, auf sich hat – was sie von ihrem Antisemitismus und ihrer Xenophobie haben. Die einschlägigen empirischen Untersuchungen zeigen, dass seit Jahrzehnten etwa 15 Prozent der Bevölkerung antisemitisch (und fremdenfeindlich) eingestellt sind und dass weitere 15 Prozent ähnlich denken.

Längst ist auch geklärt, dass der soziale Ort, an dem diese Attitüden gedeihen, nicht der Rand der Gesellschaft, sondern deren Mitte ist. Wer nach den (innenpolitischen) „Gründen“ der ungebrochenen Tradierung fremdenfeindlichnationalistischer Ideologien fragt, wird zunächst einmal darauf stoßen, dass die deutschen Christdemokraten jahrzehntelang der (west-)deutschen Bevölkerung suggeriert haben, ausgerechnet Deutschland, das seit Jahrhunderten von Migranten-Strömen aus Ost und West, Süd und Nord durchquert worden ist und das selbst Scharen von Auswanderern, die ein besseres Leben suchten, und Emigranten, die der Diskriminierung und Verfolgung in ihrer Heimat zu entgehen trachteten, in alle Welt entsandte, dass ausgerechnet dies Deutschland nun kein Einwanderungsland (mehr) „sei“. Das aber sollte heißen, man werde zu verhindern suchen, dass es (trotz der Millionen von „Gastarbeitern“) zu einem werde.

Der Fragesteller wird die deutschen Regierungen weiterhin fragen, was sie denn seit Mölln und Rostock getan haben, um die Aufklärung über Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit in die Familien, Schulen und Universitäten sowie in die Polizeischulen und Bundeswehrkasernen zu tragen.1 Auch nach einem Dutzend Attacken auf Asylantenquartiere kommt niemand auf die Idee, dort Wachen aufzustellen. Auch angesichts von „wilden“ Flüchtlingslagern vor Bahnhöfen, in Wäldern oder in improvisierten Zeltstädten werden nirgendwo leerstehende Immobilien für die nächsten Hunderte und Tausende von Flüchtlingen hergerichtet. In den letzten Jahren sind Scharen von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrunken, doch die Marine der Anrainerstaaten bleibt (von einigen wenigen Schiffen abgesehen) in ihren Häfen, statt Leben zu retten.

Nach der Attacke von etwa 600 Rechtsradikalen auf schwache Polizeikräfte, Gegendemonstranten und ein Flüchtlingsquartier in Heidenau (bei Dresden)2 hat es sich die Kanzlerin, Frau Merkel, die zu all diesen „V
orfällen“ bisher schwieg, leicht gemacht. Sie sprach von „Spuk“ und fand, was sich in Heidenau abgespielt hatte, „abstoßend“ oder auch „beschämend“. Das Unheimliche ist stets das Altbekannte, das keiner mehr erkennen will, und die Gespenster von Heidenau gehen seit 1945 allerorten in Deutschland um. Da aber keiner wissen will, warum es spukt, weiß auch keiner, wie man diesen Spuk vertreiben könnte. Und da es nicht nur in Heidenau spukt, hat man sich Deutschland künftig wohl als Spukschloss oder Geisterbahn zu denken.

Den Vogel aber hat am Montag danach der SPD-Chef und Vizekanzler Gabriel abgeschossen, der von dem „Pack“, das sich in Heidenau „herumgetrieben“ habe, sagte: „Diese Leute haben mit Deutschland nichts zu tun. Das sind die undeutschesten Typen, die ich mir vorstellen kann.“3 Gabriel versucht sich da zunächst als Exorzist. Doch dass „diese Leute“ mit „Deutschland“ nichts zu tun haben, ist reines Wunschdenken. Sie randalieren ja mitten in Deutschland und sind zudem überzeugt, dass sie es sind, die das „wahre“ Deutschland repräsentieren.

Dann kommt es noch schlimmer. Gabriel, der vor einiger Zeit noch mit Pegida-Leuten über ihre „berechtigten Sorgen“ reden wollte, versucht nun, deren Spieß umzudrehen, und spricht den Leuten, die das wahre „Deutschtum“ für sich gepachtet haben und es gegen jede Vermischung mit Nichtdeutschem verteidigen wollen, kurzerhand die Deutschheit ab. So endet auch dieser Versuch, wenigstens ein Mal aus dem staatsmännischen Geschwätz und Gehabe auszubrechen, nur in einer kläglichen Identifikation mit dem Aggressor.

In einem Text aus dem Jahr 2000 – also lange, bevor die NSU-Morde ruchbar wurden – hieß es: „Sobald es der Minderheit, die sich mit den Pogromen und Menschenjagden, die seit den neunziger Jahren zum Alltag des wiedervereinigten Deutschlands gehören, nicht abfinden kann, gelingt, ein paar Hunderttausend Mitbürger ihrer Apathie zu entreißen und zu gewaltfreien Aktionen gegen die rechten Schlägertruppen zu motivieren, ist die neonazistische Umsturzbewegung, die sich in den letzten Jahren unter unseren Augen herausgebildet hat, am Ende. Die erfolgreiche zivile Verteidigung der „Fremden“ und Schwachen […] würde uns und der „Welt“ beweisen, dass die Deutschen von heute mehr tun können, als Mahnmale für die Ermordeten der dreißiger und vierziger Jahre zu errichten, – dass sie aus der Geschichte der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ wirklich etwas gelernt haben.“ Dem ist nichts hinzuzufügen.

25. 8. 2015

Fußnoten

1 „Vor allem für die CDU ist das eine Niederlage. In 25 Jahren hat es die „Staatspartei“ nicht verhindert, dass Rechtsradikale in vielen Orten Wurzeln schlugen. Ihr ist ganz offensichtlich die Sprache abhandengekommen, die wenigstens erahnen ließe, dass sie handlungsfähig wäre.“ Altenbockum, Jasper von (2015): „Pack und Politik.“ Frankfurter Allgemeine, 25. 8. 2015, S. 1.

2 „Straßenschlachten mit der Polizei“, „Szenen wie im Krieg“, „33 Beamte wurden verletzt“, und nur einer (!) der Randalierer verhaftet. Locke, Stefan (2015): „Nach den Krawallen.“ Frankfurter Allge-meine, 25. 8. 2015, S. 3.

3 Zitiert nach Locke, a. a. O. – Der auf Ausgewogenheit bedachte Kommentator der FAZ, Jasper von Altenbockum, musste hier gleich noch eins draufsetzen: „Die Verachtung rechtsextremistischen Pöbels gehört zur Pflicht jedes anständigen Staatsbürgers, mehr noch als die Verachtung linksextremistischen Pöbels.“ „Pack und Politik“, a. a. O.

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