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Franck Gaudichaud im Gespräch mit Lisa T.

Nicaragua – Wer Wind sät …

06.06.2018

In Nicaragua finden große Proteste gegen eine geplante Reform der sozialen Sicherung statt, die die Regierung unter Führung des ehemaligen sandinistischen Kommandanten Daniel Ortega einführen will. Er ist seit 2007 Präsident des Landes. Die heftige Repression hat zu mehr als 40 Toten, Schwerverletzten, Verhaftungen geführt, es gibt Fälle von „Verschwundenen“; damit wird die autoritäre Haltung des Ortega-Clans auf dramatische Weise bestätigt. Wir haben Lisa T. drei Fragen gestellt; sie ist Soziologin, Journalistin, Mitglied des Solidaritätsverbands „France Amérique latine“ und bereist das Land seit einer Reihe von Jahren.

Kannst Du auf die Gründe für die Revolte der Bevölkerung in den letzten Wochen eingehen? Und etwas zu den recht unterschiedlichen Akteuren und Akteurinnen sagen, die bei den Mobilisierungen mitmachen?

Man muss unterscheiden zwischen den Elementen, durch die die Revolte ausgelöst worden ist, und deren tieferen, den strukturellen Ursachen. Die Ankündigung der Reform der Sozialen Sicherung ist zu dem gigantischen Brand hinzugekommen, durch den zwei Wochen vorher ein bedeutender Teil der „Reserva biológica Indio Maíz“ im Süden von Nicaragua zerstört worden ist. Diese Region in der Nähe der Trasse für das Megaprojekt eines interozeanischen Kanals, der unter Umständen sogar durch die Reserve geführt werden soll, ist Schauplatz von zahlreichen Konflikten; denn unabhängig von der eventuellen Verwirklichung des Kanalprojekts ist sie bei verschiedenen Unternehmen begehrt (vor allem für Monokulturen). Die einheimische Bevölkerung, die vor allem aus kleinen und mittleren Produzent*innen besteht, verhält sich ausgesprochen widerspenstig zu einer Rückkehr zu lohnabhängiger Existenz, was ein Heraufziehen von Agroexport-Projekten ahnen lässt. Die von eher städtischen und von jungen Menschen, die für Umweltthemen sensibilisiert sind, getragenen Proteste gegen die Ineffizienz der Regierung bei der Eindämmung des Großbrands trafen auf Verachtung und Drohungen gegen die Demonstrierenden (auch wenn deren Zahl noch so klein war); das ging systematisch von den Schocktruppen aus, die innerhalb des Sandinistischen Jugendverbands (JS) organisiert worden sind. Am 18. April hat die gewalttätige Aggression gegen eine Gruppe von Rentner*innen, die von Studierenden unterstützt wurden, das Feuer an das Pulverfass gelegt; die soziale Dimension der Proteste gegen die Absenkung der Renten um 5 % ist damit an die zweite Stelle gerückt. Ein befreundeter Wirtschaftswissenschaftler sagt, dass die Orte, an denen die Empörung am stärksten gewesen ist, denen entsprechen, die bei dem sandinistischen Aufstand gegen die Somoza-Diktatur 1979 an vorderster Front gewesen sind. Über jede Art von ideologischer Interpretation hinaus entspricht diese Feststellung dem, was die Menschen als ein nicht zu rechtfertigendes und nicht hinnehmbares Einmischen der Staatsmacht in ihre Räume betrachtet wird (soziale Kontrolle bei der Arbeit, in den Stadtteilen, Allgegenwart der Massenmedien usf.).

Manche Linke unterstützen dieses autoritäre und mafiöse Regime nach wie vor und unterstreichen seine starke Legitimierung durch die Wahlurnen, seinen vorgeblichen „Antiimperialismus“ und die Bilanz auf sozialem Gebiet. Was sagst Du dazu?

Die sozialpolitische Bilanz hat auf klientelistischen Politiken für die am meisten Benachteiligten beruht, das wurde von der mexikanischen PRI kopiert. Die ‒ nebenbei gesagt, durchaus zu begrüßenden ‒ Bemühungen um die Integration von Angehörigen von Gangs (vor allem über die Gründung von Kooperativen) liefen auf der Grundlage von Leistungen und Gegenleistungen. Als das Manna der venezolanischen Petrodollars versiegt ist, hat die Politik des Zuckerbrots aufgehört, geblieben ist nur noch der Griff zur Peitsche, die von der Polizei und denen geschwungen wird, die der bestehenden Macht alles zu verdanken haben (den berüchtigten Schocktruppen). Das Gegenstück ist das Bündnis mit den Unternehmern gewesen, das 2007 besiegelt worden ist. Den Gewerkschaften ist mittels einer konstanten Erpressung mit Arbeitsplätzen der soziale Frieden aufgezwungen worden. Der Burgfrieden mit der Unternehmerschaft war jedoch zur Aufkündigung bestimmt, sobald die zu der Einschätzung kamen, das liefe auf mehr Nach- als Vorteile hinaus. Die Erhöhung der Sozialabgaben der Unternehmer, die mit der gegenwärtigen Reform vorgesehen ist, war der Vorwand, um von Bord zu gehen, wo das Schiff schon leckt.

Gibt es politische und/oder soziale antikapitalistische Alternativen?

Die Studierendenbewegung, die sich selbst organisiert hat, lehnt sämtliche Parteien ab, auch die linken, vor allem die reformistische Linke, die sich durch ihre Bündnisse mit der Rechten in der Vergangenheit diskreditiert hat. Zur Zeit ruft nur noch COSEP (Consejo Superior de la Empresa Privada [in etwa: Industrie- und Handelskammer]) zum Dialog auf, was die Demonstrierenden nicht mehr wollen. Historische Kader der Sandinist*innen, die von der Vizepräsidentin Rosario Murillo von der Macht verdrängt worden waren, treten derzeit wieder auf die Bühne. Unter diesen Bedingungen können sich alle möglichen Kräfte an die Spitze setzen, das ist aber nicht unbedingt gesagt. Diejenigen, die von hier aus weiter die „geostrategische“ These von einer imperialistischen Offensive gegen eine „progressive“ Regierung vertreten, sind die Totengräber der wahrhaft linken Kräfte, die seit Jahren vor dem Abdriften des Regimes warnen.

Aus dem Französischen übersetzt und mit Anmerkungen versehen von Wilfried

Original: „Nicaragua: Qui sème le vent…“, in: L’Anticapitaliste. L’hebdomadaire du NPA, Nr. 430, 17. Mai 2018, S 5, https://npa2009.org/actualite/international/nicaragua-qui-seme-le-vent (18. Mai 2018).

Siehe auch:

Oscar René Vargas: „The Rise of a New Resistance in Nicaragua“, in: Socialist Worker, Chicago, http://socialistworker.org/2018/05/03/the-rise-of-a-new-resistance-in-nicaragua (3. Mai 2018);
Original: https://correspondenciadeprensa.wordpress.com/2018/04/24/nicaragua-un-giro-politico-amanece-una-nueva-correlacion-de-fuerzas-sociales/ (Managua, 24. April 2018).

Aktueller, andere Gesichtspunkte:

„Nicaragua: Schlimme Eskalation“ (5. Juni 2018), Correos de las Américas, Zürich, http://zas-correos.blogspot.com/2018/06/nicaragua-blutige-spirale-viel.html

 

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