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Innenpolitik

Meine Erlebnisse mit Hartz IV, oder: Wie es sich am Rande der Gesellschaft lebt (Teil I)

Von R. G. | 01.10.2015

Angefangen hatte es im März 2011. Ich wurde arbeitslos. Ein schweres Los. Damals war mir nicht klar, wie es sich anfühlt, nicht mehr zu arbeiten. Erst dachte ich, wer Arbeit sucht, der findet auch eine. Doch ich wurde eines Besseren belehrt.

Seit 1970 habe ich ohne Unterbrechung gearbeitet. Hartz IV ist ein Wort, das die Betroffenen ungern aussprechen, weil mensch sich deswegen schämt. Zu oft ist dieser Begriff in die Negativ-Schlagzeilen geraten.

Das Job-Center

Mein erster Eindruck beim Jobcenter war nicht negativ. Aufgrund meiner Qualifikation (Facharbeiterbrief, mehrere Staatsexamina und diverse Fortbildungen) meinte der Sachbearbeiter zu mir: „Sie finden schnell wieder eine neue Stelle.“

Zwar teilte ich diese Hoffnung, aber ich hatte auch meine Zweifel. Denn das, was ich dort sah, war alles andere als aufbauend. Die Menschen, die ich dort traf, machten teilweise einen furchtbar mitgenommenen Eindruck. Einerseits von der Kleidung her, andererseits waren ihre Gesichtsausdrücke einfach leer. Jedes Lebenszeichen schien erloschen zu sein. Ich war schockiert.

Weil ich fast zwanzig Jahre eine eigene Praxis hatte, in der vier Mitarbeiter beschäftigt waren, dachte ich dennoch, schnell wieder einen Job zu finden. Ich hatte damals oft bis 21.30 Uhr gearbeitet. Meine Ehe ging dann in die Brüche, und um die Scheidungskosten finanzieren zu können, nahm ich einen Kollegen als Teilhaber in die Praxis auf. Dieser dachte jedoch gar nicht daran, sich zu etablieren, sondern machte sich nach zwei Jahren aus dem Staub. Alles das musste ich meinem Sachbearbeiter erzählen.

Die Sicherheitsleute

Beim Verlassen des Jobcenters fielen mir die vielen Sicherheitsleute auf. Später erfuhr ich, dass so manch ein Hartz IV-Empfänger dort ausgerastet ist. Dies ist auch nicht verwunderlich, denn du bist der Behörde auf Gedeih und Verderb ausgeliefert.

Das Wichtigste ist, dass du immer Ja sagst. Einmal hatte mich eine Sachbearbeiterin rausgeschmissen, als ich versuchte, ihr zu erklären, dass wir ja alle unsere Arbeitskraft verkaufen – bis auf die Kapitalisten. Mit dem Lohn, den wir als Produzenten bekommen, kaufen wir den Kapitalisten die Waren ab, die wir selbst produziert haben. Sie lief knallrot an und holte die Wachleute. Es sind in der Regel vier von ihnen da.

In diesen Centern herrscht oft ein Zustand der Überheblichkeit. So einige der dort tätigen Personen könnte ich mir gut als „Gauleiter“ vorstellen.

Nach der anfänglichen Hoffnung wurde mein Optimismus immer geringer. So verging die Zeit von Woche zu Woche: zur Jobbörse, Bewerbung abholen, im Jobcenter Bewerbung schreiben lassen, nach drei Tagen Bewerbung abschicken, warten.

Diejenigen, die Dir die Bewerbungen schreiben, sind die Härtesten. Ich erlebte einmal, wie ich meine Stellenausschreibung ab­gab, mit der Bitte es für mich zu tun. Die Sachbearbeiterin schaute mich an und sagte, ich solle morgen wieder kommen. Danach drehte sie sich um. Auf ihrer Computer-Tastatur lagen noch die Reste ihres Frühstücks. Als ich protestierte, kam schon ein Wachmann auf mich zu. Du hast keine Chance, da Du jederzeit mit Sanktionen rechnen musst.

Nachdem die Absagen sich häuften und überhaupt nichts passierte, ging es mir immer schlechter. Meine Hoffnungslosigkeit wurde immer größer. Hatte ich mir doch so viele Möglichkeiten ausgerechnet.

Wenn Du 43 Jahre ununterbrochen gearbeitet hast und dies gewohnt bist, musst Du erst lernen, mit dieser abrupten Änderung Deiner Situation umzugehen. Bevor Du in Rente gehst, kannst Du dich darauf einstellen. Du weißt, es sind noch so und so viele Tage, dann ist es soweit. Bei Arbeitslosigkeit ist das anders.

Um von dem monatlichen Arbeitslosengeld II von 391 € minus 76 € für Strom und Telefon – also von 315 € – leben zu können, ging ich zur Tafel, um einzukaufen.

Die Tafel

Oh Schreck lass nach! Da standen die Armen alle in einer Reihe und warteten, bis die Tür sich öffnete. Auf meine Frage, warum wir hier warten müssen, kam die Antwort, wir warten auf die Lieferung. Dies kann lange dauern, je nachdem, was sie an Resten bekommen.

Du stehst also in einer langen Schlange, manchmal bis zu zwei Stunden. Du musst die Blicke der anderen ertragen, die nicht auf die Tafel angewiesen sind. Leute, die 45 Jahre bei Benz gearbeitet haben, nie eine Fortbildung besucht haben, fahren an Dir vorbei und schauen von oben herab auf Dich herunter.

Natürlich sind diese Arbeiter, die ein ganzes Leben geschuftet haben, nicht die Verantwortlichen für das Problem. Die „Agenda 2010“ hat diese Armut verschärft, um dem EU-Vertrag von Lissabon gerecht zu werden.

Beim Warten spreche ich viele Leute an. Die meisten sprechen nur sehr schlecht Deutsch. So komme ich kaum in einen engeren Kontakt.

In der Schlange stehen viele Kinderwagen da – ohne Kinder. Sie dienen als Einkaufswagen, um viel mitnehmen zu können. Als sich die Tür öffnet, wird der Laden regelrecht gestürmt. Sie kaufen, was der Laden hergibt, und ich, der hier neu ist, werde zur Seite gedrängt, angerempelt. Waren, die ich in meinen Korb lege, sind plötzlich weg. Ich muss mich erst daran gewöhnen, dass hier das Gesetz des Stärkeren gilt.

Besonders Migrant­Innen kennen sich da aus. Sobald der Kinderwagen voll ist, werden sie von ihren Männern abgeholt. Ich glaube nicht, dass sie alles verwerten können, denn das Haltbarkeitsdatum der Lebensmittel ist zum Teil schon lange überschritten. Es ist eher wohl anzunehmen, dass sie damit Freunde unterstützen, denen der Lohn nicht zum Leben reicht.

Auch brauchst Du einen Hartz IV-Bescheid, um einen Ausweis zu bekommen, der Dich dort zum Einkaufen befugt.

Oft sind Kinder im Laden dabei. Wenn ich die letzte Tafel Schokolade in meinen Einkaufskorb legen konnte und Kinder das sahen, dann bekamen sie von mir die Schokolade. Die Mütter waren immer dafür dankbar, und ich hatte ein Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit gesetzt.

Wir wollen keine Tafeln, wir wollen eine Arbeit, von deren Geld wir leben können. Wir schämen uns alle bei den Tafeln, besonders die Älteren, die von ihrer Rente nicht leben können. Oft habe ich eine ältere Frau an die Hand genommen und bin mit ihr in den Laden gegangen. Hier unten solche Zustände, und bei denen da oben, den Reichen, Schotter und Gier ohne Ende.

Wird fortgesetzt

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