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Geschichte und Philosophie

Leserbrief zu: „17. Juni 1953. Arbeiteraufstand oder faschistischer Putsch?”

Von Sascha Möbius | 01.09.2003

Der Autor E. Lorenz verspricht gleich in der ersten Zwischenüberschrift, den LeserInnen darzulegen, was am 17. Juni 1953 „wirklich geschehen" war. Abgesehen davon, dass weder Lorenz (noch irgendein anderer Mensch) von einem historischen Ereignis die „Wahrheit" wissen kann, zeigt der Artikel einen erschreckenden Mangel an Kenntnissen der rekonstruierbaren Ereignisse.

Der Autor E. Lorenz verspricht gleich in der ersten Zwischenüberschrift, den LeserInnen darzulegen, was am 17. Juni 1953 „wirklich geschehen" war. Abgesehen davon, dass weder Lorenz (noch irgendein anderer Mensch) von einem historischen Ereignis die „Wahrheit" wissen kann, zeigt der Artikel einen erschreckenden Mangel an Kenntnissen der rekonstruierbaren Ereignisse.

Dies ist umso ärgerlicher, als der Autor in der Einleitung den Eindruck erweckt, er habe zumindest einen Teil der aktuellen Literatur zum Thema gelesen. Dies beginnt schon bei der Abrechnung mit Hubertus Knabe. Über diesen Historiker kann mensch durchaus geteilter Meinung sein, doch hat er nie (wie Lorenz behauptet), ein Buch mit dem Untertitel „Aufstand der Deutschen" geschrieben. Stattdessen titelte Knabe „Ein deutscher Aufstand".

Eines der Lieblingsthemen von E. Lorenz ist die westliche Einflussnahme in der DDR. Dabei bleiben seine Angaben aber so schwammig, dass sie nicht einmal überprüfbar sind, sondern als reine Behauptung stehen bleiben. Methodisch sauber wäre es, zwischen zwei Dingen zu unterscheiden. Dass es eine rege Geheimdiensttätigkeit in der DDR gab, ist unbestritten. Diese bezog sich aber vor allem auf das Sammeln von Informationen […]

Die Staatssicherheit wurde nach dem 17. Juni damit beauftragt, westliche Hintermänner und „Faschisten" für Schauprozesse zu präsentieren. In den entsprechenden internen Dokumenten gestehen die Sicherheitsdienste der DDR jedoch ein, dass sie keine entsprechenden Rädelsführer ausmachen konnten. In der Region Magdeburg-Halle wurden z.B. trotzdem entsprechende Schauprozesse durchgeführt. In deren Folge wurde 1954 der sozialdemokratische Gärtner Ernst Jennrich als „Faschist" hingerichtet. Das Gericht hatte in erster Instanz aufgrund der vollkommen unzureichenden Beweislage einen entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft abgelehnt, war dann aber von Hilde Benjamin angewiesen worden, die Todesstrafe auszusprechen. […]

Weiter geht der Autor in derselben Manier auf die Ursachen des 17. Juni ein. Die massenhafte Repression spricht er fast gar nicht an. Dass Zehntausende von Arbeiterinnen und Arbeitern aufgrund nichtigster Verstöße gegen die Arbeitsdisziplin monate- oder jahrelang ins Gefängnis geworfen wurden, erwähnt Lorenz nicht. Hier sprechen die Zahlen für sich. Waren im Juli 1952 in der DDR knapp 31.000 Menschen inhaftiert, so wuchs diese Zahl bis zum Mai 1953 auf über 66.000 an. […]

Gänzlich entlarvend sind dann die Ausführungen zum Bewusstseinsstand der ostdeutschen ArbeiterInnenklasse: „Der ideologische und auch politische Einfluss des Westens, insbesondere der Sozialdemokratie war größer, als man [die Funktionäre der SED] glaubte." Der Autor übernimmt hier voll und ganz die stalinistische Sichtweise auf das „falsche" Bewusstsein von Arbeitern in den „realsozialistischen" Staaten, tut den Lesenden aber nicht einmal den Gefallen, die Inhalte dieses Bewusstseins zu erklären. Hinter dieser Argumentation verbirgt sich anscheinend der Anspruch, dass im „Sozialismus" der Ulbricht und Co. die Arbeiterschaft nur dann revoltieren durfte, wenn sie mit einem glasklaren revolutionär-kommunistischen Bewusstsein versehen war. Dass sich Bewusstsein im Kampf bildet, war einmal Kern marxistischer Analyse von Klassenbewegungen, scheint E. Lorenz aber entfallen zu sein. Kein Wort auch hier über die autoritätsgläubige und offen chauvinistische Propaganda der SED-Führung, die noch viel weniger mit sozialistischem Bewusstsein zu tun hatte als die des Ostbüros der SPD.

[…] Woher Lorenz die später angeführte Zahl von einer halben Million ArbeiterInnen hat, die „aktiv hinter der Parteiführung" standen, bleibt schleierhaft. Widerstand gegen die Demonstrationen und Arbeitsniederlegungen aus den Betrieben ist in den vorhandenen Quellen so selten zu finden, dass es sich doch eher um eine zu vernachlässigende Größe handelt. Dass E. Lorenz die Million aufständischer Arbeiterinnen und Arbeiter als „Minderheit" bezeichnet, trifft jedoch einen nicht nur für HistorikerInnen interessanten Punkt. Rechnerisch gesehen hat er damit selbstredend Recht, politisch jedoch nicht. Die Diskussion um solche Zahlen von aktiv an Revolten Beteiligten ist nicht neu. In der wissenschaftlichen Diskussion wird sie in Bezug auf jede Revolution angeführt, um auf den Minderheitencharakter der entsprechenden Erhebungen hinzuweisen. Dies ist legitim, führt aber in die Sackgasse, da in einer entsprechenden Situation das besondere politische Gewicht der jeweiligen Seite zählt. Am 17. Juni war diese numerische Minderheit in der Lage, das gesamte Regime trotz aller Sicherheitsdienste und aller Repression binnen Stunden zu Fall zu bringen, während die SED schlicht auseinanderfiel.

Die abschließende Einschätzung des Aufstandes geht dann rein ideologiekritisch vor. Der Aufstand sei keine „politische Revolution im Sinne Trotzkis" gewesen. Es lässt sich gut darüber streiten, welche Vorstellung Trotzki von einer „politischen Revolution" hatte. Sicher aber war ihm klar, dass auch die aufständische ArbeiterInnenschaft nicht mit einem fertigen kommunistischen Bewusstsein in die Revolution geht, sondern sich dieses in einem schwierigen Prozess erst herausbilden muss. Gänzlich unverständlich ist die Kritik von Lorenz, unter den Aufständischen seien „nur wenige Kommunisten" gewesen. Mensch fragt erstaunt, wo diese hätten herkommen sollen. Auch sollte nicht vergessen werden, dass auf Seiten des Stalinismus eben auch keine Kommunisten standen bzw. die verbleibenden alten KPDlerInnen zu einem nicht unbeträchtlichen Teil nach dem 17. Juni wegen Passivität oder Unterstützung des Aufstandes aus der SED ausgeschlossen wurden.

Spannend wäre eine Diskussion über die Frage, was am 17. Juni 1953 die allseits erhobene Forderung nach Wiedervereinigung und freien Wahlen bedeutete bzw. welche Dynamik sie im Falle eines Erfolges hätte auslösen können. Allerdings muss auch deutlich festgehalten werden – und dies ist ein Problem fast der gesamten Literatur über den 17. Juni -, dass es nahezu unmöglich ist, einen nach 24 Stunden niedergeschlagenen Aufstand politisch zu charakterisieren.

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