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Brasilien

Interview mit Miguel Rossetto – Minister für Agrarentwicklung in der brasilianischen Bundesregierung

01.01.1970

"Wir werden unsere Ziele vollständig erreichen"

Was sind die wichtigsten Fortschritte, die bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt von der Regierung Lula mit der von ihr entwickelten Agrarreformpolitik erreicht wurden?

Das Programm Vida Digna no Campo (Auf dem Land in Würde leben) als Strategie der wirtschaftlichen Entwicklung umfasst die Stärkung der landwirtschaftlichen Familienbetriebe sowie eine Landreform. Die Landreform ist aus unserer Sicht folglich keine bloße Fürsorgemaßnahme. Es handelt sich um ein Programm, das sich in eine Strategie der gesellschaftlichen Integration und der wirtschaftlichen Entwicklung einfügt. Die Option besteht konzeptionell darin, über die Demokratisierung des Zugangs zum Land einen Prozeß auszulösen, der von weiteren Politikschritten begleitet werden muß. Man muß sich nämlich immer vor Augen halten, dass wir in Brasilien über 4 Millionen bäuerliche Familien haben, – mit all ihrer regionalen Unterschiedlichkeit. In den zurückliegenden zwei Jahren haben wir Fortschritte erzielt. Im Rahmen des zweiten Agrarreformplans (Plano Nacional de Reforma Agrária – PNRA), der Ende 2003 aufgestellt wurde, waren es bis heute – also innerhalb von zwei Regierungsjahren – 130.000 Familien, denen Land zugeteilt wurde. Außerdem arbeiten wir intensiv an der Sanierung und Ausgestaltung von Ansiedlungen früherer Jahre. Brasilien hat rund 5.500 Ansiedlungen im ländlichen Bereich mit rund 530.000 Familien. Heute verfügen bereits 350.000 Familien über eine regelmäßige und dauerhafte Agrarberatung. Wir sind erfolgreich bei der Ausgestaltung dieser Ansiedlungen, sei es im Strassenbau, bei der Versorgung mit Elektrizität, in der Gesundheit oder im Schulwesen. Wir haben noch viel zu tun, aber wir sind fest entschlossen, diese Entwicklung im Lauf von 2005 weiter zu vertiefen.

Was sind die wichtigsten Hindernisse, die sich dem bis heute entgegenstellen?

An erster Stelle die Haushaltsprobleme. In Brasilien kann die Regierung Ländereien für die Landreform nur durch eine Entschädigung der Besitzer zu Marktpreisen erlangen. Das zweite Hindernis, vor dem wir stehen, ist operationaler Art. Die zuständigen Institutionen, vor allem das Institut für Agrarreform (Instituto Nacional de Colonização e Reforma Agrária), sind über lange Jahre stark beschädigt worden. Wir sind dabei, dieses Instrument so wieder her zu stellen, dass es seinen Aufgaben gewachsen ist. Außerdem dürfte es wohl bekannt sein, dass uns die Ausprägung des brasilianischen Gerichtswesens behindert oder nur bestimmte Möglichkeiten zulässt und in vielen Fällen sehr langwierige Auseinandersetzungen erfordert. Weitere Hindernisse ergeben sich aus der Tatsache, dass wir in beiden Häusern des Parlaments keine Mehrheiten haben. Wir haben also einen rechtlichen Rahmen, in dem wir an der Umsetzung unserer Zielsetzungen arbeiten müssen.

Welche Ziele hat sich das Ministerium für Agrarentwicklung für 2005 gesteckt?

Unsere Erwartungen für 2005 orientieren sich an den Zahlen des Agrarreformplans. 115.000 neu angesiedelte Familien, – darauf haben wir uns verpflichtet. Und in der laufenden Regierungsperiode von 4 Jahren wollen wir sicher stellen, dass 400.000 Familien das Recht auf Land haben, – im Rahmen der politischen Begleitmaßnahmen. In Bezug auf die Familienlandwirtschaft und die Ansiedler geht es um eine Aufstockung ihrer verfügbaren Mittel zur Finanzierung von Investitionen und Aufwendungen. Vor zwei Jahren noch wurden in Brasilien 2,2 Mrd. Reais (rd. 630 Mio EUR – d. Übers.) auf diesem Gebiet ausgegeben, heute investieren wir – im laufenden Agrarjahr – 7 Mrd. Reais (rd. 2 Mrd. EUR – d. Übers.). Wir sind außerdem dabei, das nationale System der Agrarberatung zu verbessern, was sehr wichtig ist, den Zugang zu Produktionstechnologien zu demokratisieren und eine nachhaltige Produktionstechnologie zu fördern. Wir haben Programme aufgelegt zur Sicherung von Mindestpreisen, zu öffentlichen Aufkäufen sowie zur Agrarversicherung. Bei letzterer handelt es sich um eine historische Forderung aus der Landwirtschaft, um witterungsbedingte Schäden im Ackerbau zu kompensieren. Wir arbeiten an der Herausbildung einer Politik, treiben Landreform und Landzuteilung voran und stärken die Familienlandwirtschaft mit dem Ziel, in Brasilien ein Landbesitz- und Landwirtschaftsmodell zu erreichen, das eine bessere Einkommensverteilung zur Grundlage hat und das bereits bewiesen hat, dass es mehr Arbeitsplätze und Einkommen schafft und zu größerer Nachhaltigkeit in der Produktion führt. Dies ist die Strategie, die wir vertreten und mit der wir in unserem Ministerium arbeiten.

Verhindern die bestehenden Beschränkungen nicht die Umsetzung des Agrarreformplans?

Nein, denn Präsident Lula und seine Regierung stehen dazu. Die Landreform ist Regierungsprogramm und die Hindernisse werden überwunden. Wir sind eine klare Verpflichtung eingegangen, arbeiten in den vier Jahren der Regierung Lula dafür und werden die Ziele des Agrarreformplans vollständig erreichen. 

Wie steht es um die Auseinandersetzung zwischen den Befürwortern des Agrobusiness und der Familienlandwirtschaft innerhalb der Regierung?

Die Auseinandersetzung läuft und sie ist legitim, denn es handelt sich ja um Modelle, die in Brasilien existieren. Die brasilianische Gesellschaft erlebt die Folgen beider Modelle und offensichtlich handelt es sich um eine berechtigte Diskussion im Hinblick auf den Gebrauch unseres Bodens, unserer Gewässer und unserer Naturressourcen. Brasilien hat Erfahrungen mit diesen Modellen und die Regierung arbeitet mit beiden. Wir haben uns verpflichtet, das Modell zu stärken und aufzuwerten, was das Recht auf Land demokratisiert mit all dem, was ich bereits erwähnt habe. Das Modell ist von großer Bedeutung, weil es – anders als manche es sehen – bedeutende Auswirkungen in der Politik hat. Selbst wenn – historisch gesehen – diese Form der Landwirtschaft in der Regel wenig Unterstützung durch die Regierungspolitik erhalten hat – was Kredite, Technologieförderung usw. betrifft – so erwirtschaftet sie heute immerhin 10 % des Bruttoinlandsprodukts, macht ein Drittel dessen aus, was man als Agrarhandel bezeichnet und stellt 7 von 10 Arbeitsplätzen auf dem Land. Infolgedessen verfügt sie über eine große Vitalität und Fähigkeit zur Erzeugung von Lebensmitteln für unser Volk sowie die Fähigkeit, Einkommen in unseren Regionen zu halten. Wir arbeiten daran, und wir sind dafür verantwortlich, dieses Modell zu stärken. Aber die Diskussion darüber ist, wie gesagt, berechtigt. Sie beschäftigt und durchzieht beständig die Regierung wie die brasilianische Gesellschaft.

Was macht das Ministerium für Agrarentwicklung in Nürnberg auf der Biofach, der größten internationalen Messe für ökologische Produkte?

Unsere Teilnahme an der Biofach ist Ausdruck unserer Strategie, ein Muster von landwirtschaftlicher Produktion zu unterstützen, das nachhaltig ist. Dies ist Bestandteil unserer Strategie und wir freuen uns, dass es auch in Brasilien eine wachsende Bewegung, eine sich ausbreitende Vorstellung von nachhaltiger Landwirtschaft gibt, sowohl aus sozia
lem wie umweltgerechtem Blickwinkel. Wir sind an entsprechenden Erfahrungen anderswo interessiert, wollen in den Erfahrungsaustausch treten und das Bewusstsein vergrößern. Wir werden mit einer bedeutenden brasilianischen Delegation vor Ort sein, die unsere vielfältigen Erfahrungen repräsentiert und wir wollen mit unserer Anwesenheit das Bekenntnis zur nachhaltigen Produktion unterstreichen. 

Mit dem Minister sprach Antônio Inácio Andrioli, Doktorand an der Universität Osnabrück, am Rande des V. Weltsozialforums in Porto Alegre

Übersetzung: Hermann Dierkes

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