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Kultur

Internet, Software und Revolution

Von Jan Weiser | 01.05.2011

Was haben Guttenberg und Mubarak gemeinsam? Erstens: Beide mussten kürzlich zurücktreten. Zweitens: Beiden half das Internet beim Scheitern. Es ist Teil eines neuen Gefüges von Produktivkräften, das sich unter der industriekapitalistischen Oberfläche ausgebreitet hat und nun täglich Bedeutung einfordert.

Was haben Guttenberg und Mubarak gemeinsam? Erstens: Beide mussten kürzlich zurücktreten. Zweitens: Beiden half das Internet beim Scheitern. Es ist Teil eines neuen Gefüges von Produktivkräften, das sich unter der industriekapitalistischen Oberfläche ausgebreitet hat und nun täglich Bedeutung einfordert.

Was Anfang des Jahres zum Fall Guttenbergs geführt hat, war u. a. ein Protestbrief an Angela Merkel, unterschrieben von weit über 20 000 im Wissenschaftsbetrieb tätigen Menschen. Nur über das Internet konnte binnen weniger Tage die Unzufriedenheit einer derart großen Menge gebündelt werden. Deren eigentliche Rückendeckung wiederum dürfte wohl vom „Guttenplag“-Wiki gekommen sein: Hier wurden binnen kürzester Zeit von einer Schar ambitionierter „Ermittler­Innen“ derart viele Plagiatsstellen zusammengetragen, ausgewertet, diskutiert, visualisiert und in alle Welt kommuniziert, dass die gesamte Verteidigungsstrategie Guttenbergs schon im Ansatz scheitern musste. Es handelte sich um die „klassische“ Strategie des Politik-Betriebs – Leugnen, Aussitzen, Manövrieren usw. – die einer neuartigen „Kriegsführung“ nicht gewachsen war. Der Kriegsminister wurde nicht von einer Partei besiegt, sondern von Akteur­Innen, die ihr Handeln eher als so etwas wie ein kollektives Kunstwerk begriffen.

Die Plagiatsstellen wurden aber nicht nur über das Internet zusammengetragen, sondern v. a. auch über das Internet ausfindig gemacht, da ein großer Teil der Quellen frei verfügbar war oder gemacht wurde. Das umfassende Erstaunen und die Entrüstung über die Zahl der Plagiate und die Arbeitsweise Guttenbergs oder vielleicht dessen Ghostwriters dokumentiert, dass hier etwas vorgefallen war, mit dem so niemand gerechnet hatte: Dass nämlich auch der Minister das Internet auf kreative Weise genutzt hat, und zwar ohne sich im Geringsten an die allgemeinen Spielregeln zu halten.
Reaktionärer Diskurs
Doch der Diskurs hierüber war auch aufseiten der Guttenberg-Kritiker­Innen im Wesentlichen reaktionär geprägt, besonders unter den Vertreter­Innen des Elfenbeinturms. Die hauptsächliche Argumentationslinie war die, dass geistiges Eigentum anderer Menschen nicht ohne entsprechende Gegenleistung (wissenschaftliche Anerkennung, Namensnennung) genutzt werden dürfe. Darüber hinaus sei es – wenn nicht juristisch, so doch mindestens moralisch – Unrecht, ohne „harte Arbeit“ etwas zu produzieren und als etwas „Eigenes“ anzubieten, d. h. im zweiten Schritt auch zu verkaufen. Wo bleibe denn da der Wissens-Standort Deutschland? Letzten Endes lief diese ganze Kritik darauf hinaus, dass Guttenberg sich nicht den bürgerlichen Eigentumsverhältnissen unterworfen hat, bzw. deren in die Welt der Wissenschaft gedachter Verlängerungslinie. Natürlich ist es zynisch, wenn ein Multi-Millionär, dessen ganzes Eigentum auf eben diesen Verhältnissen beruht, sie genau in dem Moment bricht, wo es seinem egoistischen Privatinteresse dient.

Jedoch: Was in diesem Zusammenhang die eigentliche Brisanz hat, ist nicht das individuelle „Fehlverhalten“ eines Einzelnen, sondern vielmehr der offen zutage getretene Widerspruch zwischen technischen Möglichkeiten und etablierten Handlungsformen; marxistisch formuliert: der Widerspruch zwischen einer Produktivkraft und einem Produktionsverhältnis.

Als Frage ausgedrückt: Was wäre denn, wenn alle von vornherein so handeln würden wie Guttenberg? Dann würde Wissen so produziert werden, dass jedeR jedeN „plagiiert“, d. h. dass alle ihr Wissen zur freien Verfügung stellen und sich alle in freier Weise darauf beziehen können. Das Wissen wäre dann gemeinschaftliches Produkt aller am Produktionsprozess Beteiligten, deren individueller Anteil gar keine Rolle spielte und die alle gleichermaßen die Möglichkeit erhielten, aus diesem Produkt Nutzen zu ziehen. Es wäre dies die Einlösung des von Marx formulierten Prinzips „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“ und die Erfüllung der anarchistischen Forderung eines Johann Most: „Ich reklamiere alles für alle und verneine jede Herrschaft.“

Genauso funktionierte das besagte „Guttenplag“-Wiki. Auch Wikipedia folgt einem ähnlichen Prinzip, wenn auch auf hierarchische und mittlerweile für viele unerträglich bürokratisierte Weise (Stichworte: „Qualitäts-Standards“, „Relevanz“, „Administratoren“, „Männliche Dominanz“…). Der individuelle und der Gesamt-Aufwand an Arbeit sind in derartigen freien Kooperationen, die Wikis darstellen, für alle geringer. Guttenberg ist daher nicht dafür zu kritisieren, dass er sich die Arbeit leicht gemacht hat, sondern, dass er dies auf egoistische Weise getan hat, nämlich in einem sozialen Kontext des Privateigentums, kalkulierend, dass seine „wertlose“ Arbeit trotzdem den Anschein von Wert haben sollte.
Am Anfang war das Wort
Diese gesellschaftliche Form, nämlich die des Werts, bedarf in diesem Zusammenhang einer näheren Betrachtung. Im Bereich des „Wissens“ jedoch lässt sich über Wertverhältnisse nur wenig aussagen, denn der „Wert“ einer Dissertation, eines Lexikon-Eintrags oder eines Aufsatzes ist ohnehin sehr konstruiert und hauptsächlich ideologisch motiviert. Wenn das (enzyklopädische) Wissen daher auch mit der bürgerlichen Eigentumsform unvermählt bleiben und zwischen diversen ideologisch-idealistischen Liebhabern pendeln darf, so gilt das ganz sicher nicht für seine große Schwester: die Software.

Auch Software gehört zur Sippe der Wissenschaft, ist also Wissen, jedoch nicht enzyklopädisches oder Wissen im Sinne der mittelalterlichen „septem artes liberales“1, sondern technisches, anwendbares, produktiv verwertbares Wissen. Es ist dieses technische Wissen, diese produktive Wissenschaft, die nach Marx’ Analyse in der Entwicklung des Kapitalismus zur entscheidenden Produktivkraft werden sollte. Die Anwendung von Software ist heute das technische Verfahren, mittels dessen Produktionsprozesse gesteuert, Lagerbestände kontrolliert, Waren gehandelt, Transportströme überwacht werden und womit der gesamte Prozess der Kapitalverwertung vermittelt wird, einschließlich des nicht-produktiven Überbaus und der Kommunikation zwischen den Individuen. „Der Produktion wissenschaftlichen Charakter zu geben, [ist] die Tendenz des Kapitals“ (MEW 42, 595). Marx nennt dies die „Verwandlung des Produktionsprozesses aus dem einfachen Arbeitsprozess in einen wissenschaftlichen Prozess“ (MEW 42, 596).

Wenn daher zu Beginn des Johannesevangeliums die Identität von „Gott“ und „Wort“ postuliert wird, so trifft das für die heutige Gesellschaft in
besonderer Weise zu: Denn in ihr ist das Kapital die waltende Gottheit und der Zeichencode des Quelltexts ist deren transzendentale Substanz. Und wie die Gottheit beherrscht der Programmcode einmal er­dacht das menschliche Leben: „Die Wissenschaft, die die unbelebten Glieder der Maschinerie zwingt, durch ihre Konstruktion zweckgemäß als Automat zu wirken, existiert nicht im Bewusstsein des Arbeiters, sondern wirkt durch die Maschine als fremde Macht auf ihn, als Macht der Maschine selbst“ (MEW 42, 593).
Wert und Arbeitszeit
Die Fremdheit dieser „Macht“ tritt zutage, wo die „user“ mit Lizenzverträgen drangsaliert werden, die ewig ungelesen bleiben und dennoch die allgemein anerkannte Autorität des Privateigentums und damit des Justiz- und Polizeiapparats hinter sich wissen. Die Arbeit verläuft so, wie es die Software verlangt, die scheinbar der Maschine als kalte Seele innewohnt. Der Programmcode ist in letzter Instanz deshalb etwas Fremdes, da ihm die bürgerliche Form der Ware übergestülpt wurde.2 Denn obwohl sich die Produktionskosten von Software praktisch auf die Entwicklungskosten reduzieren, wird ihr in der Zwangsehe mit dem Privateigentum abverlangt, Quelle von Wert zu sein. Wert wird aber im Kapitalismus nur durch verausgabte Arbeitszeit erzeugt. Die Quantität des Werts lässt sich nur bestimmen, indem die zur Warenproduktion notwendige Arbeitszeit bestimmt wird. Was bei Zucker und Motorrädern funktioniert und in gewisser Weise auch der Natur der Sache entspringt, ist bei der Ware „Programmcode“ nicht mehr der Fall. Wie soll die Arbeitszeit zur Produktion einer im Wesentlichen immateriellen Ware ermittelt werden, die einmal vorhanden beliebig oft reproduziert werden kann? Die schöpferische Leistung des Programmierens ist immer Einzelleistung. Denn insofern sie arbeitsteilig betrieben werden kann, muss sie bereits algorithmisch erfasst sein. Diese Erfassung aber ist bereits das Programmieren und was einmal erfasst ist, ist vorhanden und fertig, kann mithin nie wieder Wert generieren. Marx formulierte es folgendermaßen: „Das Kapital ist selbst der prozessierende Widerspruch dadurch, dass es die Arbeitszeit auf ein Minimum zu reduzieren strebt, während es andrerseits die Arbeitszeit als einziges Maß und Quelle des Reichtums setzt“ (MEW 42, 601).
Wenn daher unter dem Wertverhältnis die Arbeitszeit einziges Maß des Reichtums ist, dann ist dieses Verhältnis eine soziale Form, die gemessen an ihrem Inhalt absolut reaktionär ist.

Erhebliche Brisanz gewinnt dieser Widerspruch dann, wenn die Anwendung von Software nicht mehr nur eine Produktivkraft unter vielen ist, sondern sich mehr und mehr den gesamten Produktions- und Gesellschaftsprozess unterordnet. Der Kapitalismus hat damit eine Produktivkraft erzeugt, die ihrem Wesen nach über seine Form hinausweist.
Facebook-Revolution
Und das Internet ist nichts anderes als die angemessene Verkehrsform der Software. Mit dem Vorhandensein von Software und Internet bieten sich grundsätzlich neue Möglichkeiten für die Produktion von Gütern, aber auch für die Reproduktion der sozialen Beziehungen: Das Internet bietet das Potenzial für eine egalitäre Neu-Organisation der Gesellschaft. Denn ein Internet-Dienst wie facebook ist zwar ursprünglich ganz nach Geschmack des Marktes konzipiert: Die Nutzer­Innen werden ausspioniert, mit Werbung bombardiert und sind dazu angehalten, sich über individuell-standardisierte Profile selbst zu attraktiven Angeboten für den Arbeits- und Beziehungsmarkt zu machen. Und dennoch musste auch facebook so angelegt werden, dass sich zwischen Aïr-Gebirge und zentral­asiatischer Steppe noch tausend Wege für kreativen Missbrauch finden ließen. Die Menschen in Tunesien und Ägypten verabredeten sich zu Demonstrationen, verbreiteten selbstgeschriebene Nachrichten und organisierten so binnen Tagen Massenrevolten, wie sie die Menschheit zuvor nicht kannte. So war es diesmal ihr eigenes Wort, das Schöpferkraft hatte, indem sie dem Gebot des „broadcast yourself!“ nachkamen.

Die Unverträglichkeit von Autoritarismus und Internet zeigte sich daran, dass die Diktaturen in ihren letzten Tagen das Internet schlicht abschalten ließen. Wenn sich bereits so etwas wie facebook für eine Umwälzung nutzen lässt, dann können wir nur erahnen, in welchem Umfang sich Plattformen nutzen ließen, die von vornherein für hierarchiefreie Kommunikation gemacht sind. Basisdemokratische Just-in-time-Wirtschaftsplanung und permanente Bedürfnis-Diskussion verbunden mit freier kooperativer Wissens- und Wissenschaftsproduktion – und das heißt in letzter Instanz freie kooperative materielle Produktion – sind vom technischen Standpunkt her heute eine Kleinigkeit.
Teilen statt besitzen

Der Hacker und Programmierer Richard Stallman, Gallionsfigur der „Freie-Software-Bewegung“ definierte vor Jahren schon vier Grundprinzipien der „commons“, die der etablierten Funktionsweise der Software diametral entgegenstehen:3

  • die Freiheit, Software für jeden Zweck verwenden zu dürfen;
  • die Freiheit, jedes Programm zu analysieren und zu verstehen;
  • die Freiheit, jede Software mit allen zu teilen und
  • die Freiheit, jedes Programm zu verbessern.


Programme werden zu „commons“ (in etwa: „Gemeingut“), indem diese Freiheiten auf sie angewandt werden. Mittels dieser Form produzieren die Produzent­Innen nicht Mittel zum Zweck, sondern Kunstwerke, mittels derer sie sich selbst verwirklichen und genau damit anderen dienen. Was diesen Forderungen unbezwingbare Kraft verleiht, ist, dass sie nicht etwas zu erlangen suchen, sondern nur darauf zielen, geben zu dürfen. Sie sagen nicht: „Gebt uns Geld, gebt uns Anerkennung, lasst uns vorgegebene Inhalte konsumieren!“ Sie sagen: „Liebe Kapitalist­Innen, tretet doch bitte beiseite, wir kommen ohne eure Ordnung aus…“ Würden diese Prinzipien nicht nur für „Endbenutzer“-Computerprogramme angewandt, sondern auf den gesamten Prozess der Produktion und gesellschaftlichen Reproduktion, wären die „commons“ Keimzelle (bzw. eine der Keimzellen) für den „Communismus“.

Der Kapitalismus ist heute vor die Aufgabe gestellt, permanent Produktivkräfte zu zerstören, um seine Funktionsweise aufrecht zu erhalten. Ich-AGs, Scheinselbstständigkeit, Outsourcing usw. dienen dazu, die Masse der Produzent­Innen zu atomisieren, d. h. die Produktivkraft der Kooperation, die der Produktionsprozess erforderlich macht, immer wieder aufs Neue zurückzudrängen. Die Kooperation wird verdrängt, virtualisiert und kehrt dadurch noch vehementer zurück an die Oberfläche. Internet-Zensur, Vorratsdatenspeicherung, „Endbenutzerlizenzverträge“, Kampagnen gegen „Raubkopierer“, Nachrichten-Löschung bei den Öffentlich-Rechtlichen. So wird versucht, Internet und Software in den Griff zu bekommen, bevor die anachronistische bürgerliche Eigentumsform gesprengt wird.

1    Die „sieben freien Künste“, also die Disziplinen, von denen mensch annahm, dass sie das gesamte Wissen der Menschheit repräsentieren und den Menschen veredeln. Sie waren auch „frei&
ldquo; von Verwertungslogik.
2    Zur Theorie d. „Wissensökonomie“ vgl. André Gorz: Wissen, Wert und Kapital, Rotpunktverlag 2004.
3    Siehe auch den taz-Beitrag zur Kommunismus-Debatte „Freie Software für die freie Gesellschaft“, 23.02.2011.

 

Erklärt: „Produktivkraft“
Produktivkräfte sind die konkreten Möglichkeiten, die Menschen zur Produktion haben.
Sie bestehen aus einer „materiellen“ Komponente, etwa einem Werkzeug und einer „immateriellen“ Komponente, etwa das zugehörige Anwendungswissen. Produktivkräfte erfordern immer eine bestimmte Weise der Anwendung und eine soziale Organisation, die diese Anwendung ermöglicht: die Produktionsverhältnisse. So verlangt etwa die Dreifelder-Wirtschaft eine bestimmte Anordnung und Aufteilung von Flächen und die Verteilung von sozialen Rollen in der Dorfgemeinschaft. In letzter Instanz bedingen daher die allgemeinen Produktivkräfte einer Gesellschaft deren allgemeine Produktionsverhältnisse, welche Eigentumsverhältnisse sind und auf die Produktivkräfte zurückwirken. In ihrer Entwicklung geraten die sich stets verändernden Produktivkräfte in Widerspruch zu den Eigentumsverhältnissen, was – in zugespitzter Form – eine revolutionäre Krise auslöst.
Marx vermutet, dass die im Individuum konzentrierte Wissenschaft im Verlauf der Entwicklung des Kapitalismus zur wichtigsten Produktivkraft wird.

 

 

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