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Ökologie

Fukushima: Lügen, täuschen und tarnen

Von Thadeus Pato | 01.12.2011

Dekontamination – Entseuchung – heißt das Zauberwort. Die japanische Regierung gab Mitte November bekannt, dass 2012 mit einer großflächigen Dekontaminierungsaktion in den von der Atomkatastrophe von Fukushima betroffenen Gebieten begonnen werden soll.

Dekontamination – Entseuchung – heißt das Zauberwort. Die japanische Regierung gab Mitte November bekannt, dass 2012 mit einer großflächigen Dekontaminierungsaktion in den von der Atomkatastrophe von Fukushima betroffenen Gebieten begonnen werden soll.

Der Zeitraum für die gesam­ten „Aufräumarbeiten“ wird von der Betreiberfirma TEPCO mit 30 Jahren angegeben. Wer will, kann es glauben…
Die sichere westliche Technik …
Wir erinnern uns: Als das AKW in Tschernobyl in die Luft flog, hieß es, so etwas könne nur in Kraftwerken sowjetischen Typs passieren, die westliche Technik sei besser und absolut sicher. Gleichzeitig wurde das Ausmaß der ausgetretenen Strahlung heruntergerechnet, es wurde und wird bis heute betreffend die Folgen gelogen, bis sich die Balken biegen.

Was Fukushima betrifft, hielt man sich an die Erfahrungen von Tschernobyl. Schuld war natürlich der Tsunami. Dann hieß es, man bekomme die Situation unter Kontrolle – was jedem, der die Bilder von den Reaktorruinen gesehen und etwas Ahnung von der Materie hatte, nur als schlechter Witz vorkommen konnte. Als nichts mehr zu vertuschen war, wurden – ebenfalls nach dem Mus­ter von Tschernobyl – die ausgetretene Strahlung um ein Mehrfaches zu niedrig angegeben und die Grenzwerte heraufgesetzt: Ein internationales Forscherteam hat eine aktuelle Studie vorgelegt. Das Resultat ist, dass doppelt so viel an Cäsium 137 in die Atmosphäre geblasen wurde, wie die japanische Regierung zugegeben hatte. Das sind etwa 40 % der Menge von Tschernobyl und damit die zweitgrößte Freisetzung der Geschichte – wobei hinzuzufügen ist, dass bis jetzt niemand weiß, wie viel bereits ins Meer geflossen ist, das ist nicht eingerechnet. Umweltschutzorganisationen waren seinerzeit an Messungen in der See vor Fukushima gehindert worden.
Lange Vorgeschichte
Die Katastrophe kam nicht von ungefähr – sie hatte eine lange Vorgeschichte. Diese Reaktoren hätten eigentlich längst abgeschaltet werden müssen:
Der Sicherheitsbehälter vom Typ Mark I, der in der damaligen Baureihe von General Electric (GE) verwendet wurde (GE hatte die ersten fünf der sechs Kraftwerksblöcke geplant), wies schwere Konstruktionsmängel auf. Bereits 1971 forderte ein Experte der AEC (Atomic Energy Commission) in den USA, die Verwendung dieses Systems zu verbieten. Die AEC lehnte das ab, nicht etwa mit technischen Argumenten, sondern deshalb, weil dies die Atom­industrie in den USA in Gefahr bringen würde. Schließlich zogen 1976 drei Ingenieure von GE die Konsequenzen und kündigten wegen ihrer nicht berücksichtigten Sicherheitsbedenken.
Im Jahr 1985 kam die US-amerikanische nukleare Regulierungsbehörde zu dem Schluss, dass das Containment vom Typ Mark I bei einer Kernschmelze frühzeitig versagen würde. Die Konsequenz allerdings war nicht Stilllegung, sondern es wurden einfach ein paar Ventile eingebaut, um bei Bedarf den radioaktiven Dampf ablassen zu können – ungefiltert, versteht sich.
… und die Realität
Inzwischen sind noch einige peinliche Details bekannt geworden, auf die Ingenieure und Erdbebenexperten bereits des Längeren ohne jegliche Reaktion der Betreiber hingewiesen hatten:

  • Laut Aussage eines am Bau von fünf der sechs Blöcke von Fukushima I beteiligten Ingenieurs wurden bei den ersten fünf Blöcken die Baupläne aus den USA übernommen und nicht den japanischen Gegebenheiten angepasst. Selbst als 2007 die Konstruktionsvorgaben überarbeitet wurden, ging man betreffend die Kühlsys­teme von Erdbeben von maximal der Stärke 8 aus.
  • Ein weiterer beim Bau beteilig­ter Ingenieur berichtete, dass das Notkühlsystem nicht für den erhöhten Druck bei einem Unfall ausgelegt gewesen sei. Das sei der Grund, dass bereits unmittelbar nach dem Störfall Radioaktivität austreten konnte.
  • Wie aus der Aussage eines dritten Ingenieurs hervorgeht, hatte sich der Stahldruckkessel des Blocks 4 (gebaut von Hitachi) bei der Herstellung verzogen. Gegen einen hohen Jahresbonus und eine Verdienstmedaille half er, das zu vertuschen, weil ansonsten gemäß den Qualitätsvorgaben der 250 Millionen Dollar teure Kessel hätte verschrottet werden müssen. 1988, nach Tschernobyl, drückte ihn das Gewissen, er meldete den Sachverhalt. Konsequenzen? Hitachi leugnete und die Regierung lehnte eine Untersuchung ab…

Diese Liste lässt sich beliebig verlängern: Ob es nun die Unterbringung der Notstromgeneratoren im nicht wassergeschützten Kellergeschoss war (aus Kostengründen), ob die Auswechslung des TEPCO-Vorstandes 2002, weil herauskam, dass 16 Jahre lang Reparaturberichte gefälscht und Hunderte Störfälle vertuscht worden waren, ob die seit 2002 (unter dem neuen, von der Regierung eingesetzten Vorstand) mindestens sechs Notabschaltungen und eine siebenstündige „kritische Situation“ in Block 3, die ebenfalls verschwiegen wurden, oder schließlich 2008 das Versagen mehrerer Notkühlsysteme in Block 6 bei Tests: Die gesamte Geschichte von Fukushima I ist ein exemplarisches Beispiel für die Lügen, Vertuschungen und die grenzenlose, von der Regierung gedeckte Profitmacherei in der gesamten Atomindustrie.
Nach der Katastrophe wurde dann auch bekannt, dass sie eigentlich hätte nicht stattfinden müssen: Am 1.März hatte die Aufsichtsbehörde festgestellt, dass in Fukushima I insgesamt 33 Anlagen, darunter die Kühlpumpen, Notstromgeneratoren und Ventile zur Temperaturkontrolle, seit mehr als zehn Jahren nicht ausreichend gewartet worden waren. Statt die sofortige Stilllegung anzuordnen, bekam TEPCO eine Frist zur Erstellung eines Korrekturplans gesetzt. Zehn Tage später war der Super-GAU da.
Und jetzt?
Aus den Reaktorblöcken strahlt es weiter. 3200 Menschen, hauptsächlich eilig zusammengekarrte Zeitarbeiter, arbeiten auf dem Gelände – bei einer offiziell angegebenen Strahlung von 300 Mikrosievert/Stunde in der Umgebung der Blöcke (Grenzwert für Evakuierung: 20 Millisievert/Jahr!). Im Oktober wurde plötzlich eine erhöhte Konzentration des Gases Xenon festgestellt – ein eindeutiger Beweis für eine weiterhin oder erneut stattfindende Kernschmelze.

Wie die Verantwortlichen sich die „Dekontaminierung“ vorstellen, ist inzwischen bekannt. Millionen Kubikmeter Erdreich sollen abgetragen bzw. „entseucht“ werden. Wo die unglaublichen Mengen Strahlenmüll, die dabei anfallen, hin sollen, ist unbekannt. Außerdem ist bei der Bodengängigkeit vieler Isotope eine Abtragung nur oberflächlicher Bodenschichten schlicht ein Witz. Und bereits nach dreißig Jahren, wie angekündigt, die Bevölkerung wieder zurückkehren zu lassen, ist aus Sicht des Strahlenschutzes ebenso unverantwortlich
wie die Dimensionierung der Evakuierungszone. Ein Strahlenkataster – wenn es denn eines gäbe, dem man glauben könnte – würde zeigen, was verschwiegen wird, nämlich, dass es Gebiete relativ nah am Reaktor gibt, die weniger verstrahlt sind und weiter entfernte, die erheblich mehr abbekommen haben – abhängig von Windrichtung und anderen Faktoren. Vielleicht hat die Festlegung der Zone ja auch etwas mit den profitträchtigen Industriebetrieben zu tun, die knapp außerhalb gelegen sind…
Abschalten, alle, sofort!
Betrachtet man sich die Geschichte der Nuklearunfälle in Atomkraftwerken (und Atom-U-Booten), so hat seit den fünfziger Jahren im Schnitt alle fünf Jahre eine komplette oder partielle Kernschmelze oder Explosion stattgefunden. Die Reaktion von Betreibern und Regierungen war immer die Gleiche: Vertuschen, wenn das nicht ging, verharmlosen, und dann auf das kurze Gedächtnis der Menschen hoffen und weitermachen wie zuvor.

Die Katastrophe von Fuku­shima war kein „schicksalhaftes“ Geschehen. Genau genommen war es erstaunlich, dass bei einer derartigen Aneinanderreihung von Schlampereien, kriminellen Machenschaften und Untätigkeit der Aufsichtbehörden nicht schon längst der Super-GAU auch ohne Tsunami passiert war.

Ähnliches kennen wir aus der BRD. Es sei aus der zahllosen Reihe von Unfällen nur an den „Störfall“ im Hochtemperaturreaktor Hamm-Uentrop 1986 erinnert. Damals versuchten die Betreiber die „günstige Gelegenheit“ des Super-GAU in Tschernobyl zu nutzen, um im Windschatten der radioaktiven Wolke, die über Europa zog, ihren eigenen Dreck unbemerkt in die Atmosphäre abzulassen, was allerdings aufgrund der anderen Zusammensetzung des ausgetretenen Aerosols bemerkt wurde.

Diese Technologie ist zweierlei: menschenfeindlich und überflüssig. Dass sie trotzdem weiterverfolgt wird, hat viel mit Profitgier und gar nichts mit Verantwortungsbewusstsein zu tun.

Und so heißt es: bis zum nächsten Mal, wenn es wieder heißen wird, das sei „unvorhersehbar“ gewesen. Die Raffgier der Energiekonzerne im Verein mit der Kumpanei der Regierungen und der Zwang zu Wachstum um jeden Preis haben diese Technologie groß gemacht und sie wird erst verschwinden, wenn durch massenhaften Widerstand der ökonomische wie politische Preis so hochgetrieben wird, dass er für die Herrschenden nicht mehr bezahlbar erscheint. So weit sind wir (leider) noch nicht. Deshalb gilt es, weiterzumachen, beim Castor und anderswo. Bis zur Abschaltung – hier und überall sonst.

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