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Frankreich: Bringen die Proteste eine Trend wende?

Von Michael Weis (erster Teil), Julien Salingue & Ugo Palheta | 28.07.2016

Frankreich wird seit März von massiven Protesten und Streiks gegen die geplante Reform des Arbeitsgesetzes erschüttert. War der Auftakt noch durch den spektakulären Auftritt der „Nuit Debout“ gekennzeichnet, einer Bewegung nächtlicher Platzbesetzungen, die sich seither auf viele Städte des Landes ausgedehnt hat, haben die Aktionen inzwischen auf wichtige Sektoren der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens übergegriffen und diese durch Streiks teilweise lahmgelegt.

Frankreich wird seit März von massiven Protesten und Streiks gegen die geplante Reform des Arbeitsgesetzes erschüttert. War der Auftakt noch durch den spektakulären Auftritt der „Nuit Debout“ gekennzeichnet, einer Bewegung nächtlicher Platzbesetzungen, die sich seither auf viele Städte des Landes ausgedehnt hat, haben die Aktionen inzwischen auf wichtige Sektoren der Wirtschaft und des öffentlichen Lebens übergegriffen und diese durch Streiks teilweise lahmgelegt.

In einigen Bereichen (Bahn oder Air France) fallen die Proteste gegen das Arbeitsgesetz (der Arbeitsministerin El Khomri) mit branchenbezogenen Anliegen zusammen, die sich gegen die dort schon länger geplanten Einschnitte richten. Auch in der Privatindustrie – etwa in der Automobilindustrie – bündeln sich die Proteste mit der dort gärenden Wut über die Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen, die im Zuge von „Pakten der Wettbewerbsfähigkeit“ während der letzten Jahre eingeführt worden waren.

Bislang hat die Regierung darauf mit einer doppelgleisigen Taktik reagiert: Einerseits versucht sie durch (unbedeutende) Änderungen am Reformpaket die Ablehnungsfront aufzubrechen und die Bewegung zu spalten, andererseits setzt sie durch zunehmende polizeiliche Repression und Standurteile auf Einschüchterung, flankiert von einer Medienpropaganda, die die Bewegung als Randalierer zu diskreditieren versucht.

Da auch in den eigenen Reihen bis hin zu etlichen Abgeordneten die Opposition gegen die sozialdemokratische Regierungspolitik zunimmt, versuchen Valls und Hollande das Gesetz unter Umgehung des Parlaments durchzudrücken. Anlässlich der Lesung im Senat am 14.6. fanden wieder landesweite Demonstrationen – teils mit internationaler Beteiligung – und punktuelle (parallel zu den seit Wochen dauernden) Streiks statt, an denen sich über eine Million Menschen (nach Angaben der Gewerkschaften) beteiligten. An diesen größten Aktionen seit Beginn der Mobilisierung nahmen diesmal auch vermehrt Abordnungen aus der Privatindustrie teil.

Der am selben Tag stattgefundene Anschlag eines fundamental-islamistischen Attentäters und die andauernde Randale der Hooligans im Rahmen der EM waren Regierung und Presse willkommener Anlass zum Rundumschlag gegen die“ Störenfriede an der republikanischen Ordnung“. Die Regierung erwägt sogar ein Verbot weiterer Demonstrationen und eine Haftung der CGT für Sachschäden im Rahmen der Aktionen.

Der Versuch der Regierung, die gewerkschaftliche Ablehnungsfront durch eine „Nachbesserung“ des Gesetzesentwurfs durch ein Spitzengespräch am 17.6. mit dem CGT-Vorsitzenden Martinez auseinander zu dividieren, verlief vorerst im Sande, da lediglich kosmetische Korrekturen angeboten wurden. Neben der Ausweitung der Streiks in den Betrieben und der Mobilisierung der Jugend wird die gewerkschaftliche Einheit darüber entscheiden, ob die Regierung zum Nachgeben gezwungen werden kann. Im Bruch dieser Einheit liegt zugleich auch die größte Gefahr, wie das Abbröckeln der Streiks bei der Bahn gezeigt hat, nachdem die CGT auf dessen Fortsetzung verzichtet hat.

Auch wenn sich die Regierungs- und Medienpropaganda darauf kapriziert haben, die CGT-Führung zum Hassobjekt der Nation zu stilisieren, sollte bedacht werden, dass Martinez und Co. nur durch den Druck der Basis in eine ernsthafte Mobilisierung gezwungen wurden und bspw. durch eine „angemessene“ Vertretung in der Sozialversicherung ihren „Radikalismus“ schnell abgekauft bekämen. Die Vergangenheit hat hinreichend gezeigt, wie sehr die Reformisten im Ernstfall mit dem System verbunden sind.

Die Stärke des Protestes

Wenn eine soziale Bewegung entsteht, ist man leicht versucht, sie im Lichte früherer Bewegungen zu beurteilen und sich dabei möglicherweise auf den Vergleich der Teilnehmer­Innenzahlen und der Losungen zu beschränken. Mitunter neigen auch die Beteiligten selbst dazu, die Worte und Gesten der vergangenen Aufstände zu parodieren, wie Karl Marx im „achtzehnten Brumaire des Louis Bonaparte“ bemerkte. Dabei lassen sich die historische Bedeutung und der Erfolg einer Bewegung – ob unmittelbar oder langfristig – weder auf die glorreichen Erinnerungen, die sie heraufbeschwören, noch auf die Teilnehmerzahlen reduzieren. Wenn man diesen Aspekten zu viel Aufmerksamkeit schenkt, übersieht man oft die neuen Charakteristika, die unvorhersehbare Umwälzungen ankündigen und neue Horizonte eröffnen.

Es ist nun mal Tatsache, dass die gegenwärtige Bewegung, deren Niedergang oder gar Ableben die herrschenden Medien von Beginn an immer wieder gerne ankündigen, bis heute weniger Menschen mobilisiert hat als die gescheiterte Bewegung gegen die Rentenreform von 2010. Auch bei der siegreichen Mobilisierung gegen das Erstanstellungsgesetz CPE von 2006 war die Beteiligung an den studentischen Vollversammlungen und Demonstrationen umfangreicher. Trotzdem ist es durchaus möglich, dass die Bewegung gegen das Arbeitsgesetz – wozu natürlich die Bewegung „Nuit Debout“ gehört – nicht bloß eine (verkleinerte) Fortsetzung der klassenkämpferischen Periode darstellt, die im Dezember 1995 mit dem erfolgreichen Protest gegen die neoliberale Reform des damaligen Premierministers Juppé begonnen hatte, sondern einen Neuanfang: den Auftakt zu einem neuen Zyklus sozialer und politischer Kämpfe nach jahrelangen Rückschlägen für die sozialen Bewegungen.

Am politischen Scheideweg?

Mit Neuanfang meinen wir ein Wiederaufleben radikaler Proteste gegen die kapitalistische Herrschaft, die unsere Lebensbedingungen diktiert und zerstört. Die wiederholten Massenmobilisierungen in Frankreich zwischen 1995 und 2010 hatten sich im Wesentlichen darauf beschränkt, gegen den einen oder anderen Aspekt der neoliberalen Austeritätspolitik anzukämpfen. Einhergegangen waren sie, gerade mit dem Aufkommen der Antiglobalisierungsbewegung, mit einer utopischen Heilserwartung („Eine andere Welt ist möglich“), ohne dass sie einen Bruch mit dem System strategisch ins Auge gefasst und sich über die Notwendigkeit verständigt hätten, die bestehende Welt, die nach dem Gutdünken und zum Wohl des Kapitals beschaffen ist, aus den Angeln zu heben. Die jetzige Bewegung greift dieses Erbe auf und radikalisiert die Infragestellung der bestehenden Verhältnisse wie auch die Vision.

Angesichts der polizeilichen Repression, der Sturheit der Regierung und der Arroganz der Unternehmer ist das, was einst den revolutionären Aktivist­Innen vorbehalten schien, zum Gemeingut der Bewegung geworden und dringt auch in das Bewusstsein anderer Kreise der Bevölkerung ein: autonome Organisation außerhalb traditioneller Strukturen (nicht notwendigerweise gegen sie), Antikapitalismus (der weit über die bloße Ablehnung des Wirtschaftsliberalismus hinausgeht), strategische Orientierung a
uf den Generalstreik und die Verbindung der Kämpfe (von den prekarisierten Hochschulabgängern aus einfachen Schichten über die Kämpfe der Lohnabhängigen bis hin zur Umweltbewegung) und scharfe Ablehnung der Repressionskräfte des Staatsapparats. Natürlich sind diese Prinzipien erst rudimentär ins Bewusstsein gedrungen und bleiben vielleicht auch in Zukunft begrenzt, aber sie sind sehr wohl in den Köpfen vorhanden und eröffnen möglicherweise neue politische Perspektiven.

Krise der politischen Hegemonie

Diese Radikalisierung ist ein Reaktion auf die Radikalisierung der herrschenden Klassen, die die Finanzkrise von 2008 und die jüngsten Attentate dafür hernehmen konnten, ihre  Anfang der 80er Jahre begonnene neoliberale und staatsautoritäre Offensive zu intensivieren. Hinzu kommt eine politische Krise, die in ihrem Ausmaß meist unterschätzt wird. Dabei geht es nicht um eine vorübergehende Abwendung der Wähler­Innen von ihren angestammten politischen Vertretern, sondern um eine zunehmende Unfähigkeit der herrschenden Parteien – und damit der von ihnen vertretenen Klassen –, die Bevölkerung in ihre politischen Entscheidungen aktiv einzubinden und sie substantiell und dauerhaft für das herrschende System zu gewinnen. Um mit Gramsci zu sprechen: Die politische Hegemonie der Herrschenden steckt in einer Krise.

Daher spielt es keine Rolle, ob man die Aussichten der gegenwärtigen Bewegung optimistisch oder pessimistisch bewertet, und erst recht nutzt es nichts, als Außenstehender Bewertungen vorzunehmen oder Ratschläge zu erteilen. Vielmehr sollte man anerkennen, was die Bewegung schon geleistet hat. So hat sie bspw. dazu beigetragen, dass die unsinnige Idee einer „Urwahl unter der Linken“ (zur Bestimmung eines gemeinsamen Präsidentschaftskandidaten) schnell ad acta gelegt wurde, deren Ergebnis nur eine noch größere Personalisierung der politischen Orientierung, de facto also eine weitere Entpolitisierung, gewesen wäre und die Scheidelinie zwischen den unvereinbaren Positionen der PS und ihren Satrapen einerseits und der „radikalen Linken“ andererseits verwischt hätte. Unser Problem liegt nicht darin, den Wahlmodus unserer Herren zu reformieren und junge, „unverbrauchte“ Gesichter,  die sich zuvor in den Aufsichtsräten der Konzerne als „Modernisierer“ empfohlen haben, in die politischen Ämter zu hieven, um dort die abgehalfterte Garde zu ersetzen.

Erste Schritte zu politischer Autonomie

Diese Art von Politik zieht nicht mehr, zumindest, was ihre Fähigkeit anbelangt, dauerhafte Illusionen in die Reformierbarkeit des Systems hervorzurufen oder gar zu aktiver Beteiligung anzuregen. Sie führt nur noch ein Schattendasein, das mithilfe von geschicktem Marketing der Wahlkampagnen und willfährigen Medien vor dem endgültigen Zerfall bewahrt wird. Sie oszilliert zwischen rassistischen Ausfällen und Finanz­skandalen, hohlem Geschwätz und leeren Versprechungen und liefert für alle Welt einen Anblick, deren Mittelmäßigkeit nur noch durch das Ausmaß an Unterwürfigkeit und Korruption der Berufspolitiker überboten wird.

Die gegenwärtige Protestbewegung kann sich weiterhin auf die Fahnen schreiben, dass sie hat durchscheinen lassen, wie „Politik von unten“ aussehen kann, um mit Daniel Bensaïd zu sprechen. Es ist die Stunde, in der Formen politischer Autonomie entwickelt werden, mit der die Mehrheit der Bevölkerung ihre Geschicke wieder selbst in die Hand nehmen und eine wirkliche Demokratie installieren kann, die für alle Bereiche des beruflichen Alltags und der Lebensgestaltung gilt.

Voraussetzung dafür ist, dass sich die Bewegung von denen distanziert, die sich nur auf die Masse berufen und sich dabei als Sachwalter der Republik gerieren, die letztlich nur zur Mehrung des Kapitals dient und dem globalisierten Kapitalismus nur die Scheinalternative eines elenden Nationalismus entgegenstellt. Die Welt knirscht an allen Ecken und Enden und die Herrschenden gebärden sich immer dreister, repressiver und destruktiver und drohen in ihrer blinden Flucht nach vorne alles mit in den Abgrund zu ziehen, die Umwelt wie die Menschen. Nur ein Aufstand von unten mit demokratischer und antikapitalistischer Zielsetzung kann die Menschheit davor bewahren, in diese Sackgasse zu geraten und die politische Gretchenfrage zu lösen, die uns das 20. Jahrhundert hinterlassen hat: Wie lässt sich eine Alternative zum Kapitalismus finden, ohne ein despotisches Regime zu gründen, das auf der Herrschaft einer verantwortungslosen Bürokratie beruht?

Ab der ersten Zwischenüberschrift Übersetzung: MiWe

TiPP
Mehr Infos zu den Protesten um die Arbeitsrechts-„Reform“ im Labournet


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