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DIE LINKE

Die neue Partei der Linken braucht eine Mehrheit gegen die Mitregierer – und eine Strategiedebatte

Von Manuel Kellner | 14.05.2007

Nun wird die neue Partei der Linken aus der Taufe gehoben, doch sie verfügt weder über eine Strategie noch über eine entwickelte Debatte zur strategischen Orientierung. Gerade letzteres wäre dringend notwendig – nicht um rasch zu einem Ergebnis zu kommen, sondern um das Problembewusstsein auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Man könnte einwenden, die neue Partei verfüge doch über eine Strategie, nämlich über eine linkskeynesianische, wie sie in den programmatischen Eckpunkten festgehalten wird. Doch handelt es sich dabei nicht um eine Strategie im Sinne der ideengeschichtlich in der Arbeiterbewegung gewachsenen Bedeutung dieses Wortes.

Die neue Partei der Linken strebt laut ihren programmatischen Eckpunkten eine Gesellschaft jenseits des Kapitalismus an, nämlich eine demokratisch-sozialistisch verfasste Gesellschaft. Die Frage nach der Strategie fragt danach, wie der Übergang vom heutigen zum angestrebten nachkapitalistischen Gesellschaftszustand bewerkstelligt werden soll. Der linkskeynesianische Ansatz hingegen versucht auf eine andere Frage zu antworten, nämlich auf folgende: Wie können die Interessen der abhängig Beschäftigten und der Erwerbslosen wirkungsvoll verfochten werden, ohne die Grenzen der kapitalistischen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu sprengen? Man könnte die Frage noch mehr zuspitzen: Dieser Ansatz fragt danach, wie die Interessen der abhängig Beschäftigten und Erwerbslosen wirkungsvoll verfochten werden, indem zugleich der kapitalistischen Produktionsweise eine neue prosperierende Phase verschafft wird? Denn der linkskeynesianische Ansatz behauptet ja zum Beispiel, dass eine Steigerung der Massenkaufkraft dem Kapital erspart, auf einer Menge unverkäuflicher Waren sitzen zu bleiben und ihm mithin erlaubt besser Profite machen zu können als im Rahmen des gegenwärtigen Trends zu Hungerlöhnen.

Damit ist also – ganz unabhängig von der notwendigen kritischen Diskussion des linkskeynesianischen Ansatzes – die Frage nach den Bedingungen des Übergangs zu nichtkapitalistischen Verhältnissen einer auf solidarischer Gemeinwirtschaft basierenden demokratisch verwalteten Ökonomie noch gar nicht gestellt.

Abstrakte Debatten?

Ein Hindernis für die Entwicklung einer Debatte über diese Frage scheint mir der übertriebene Pragmatismus einer Reihe von – führenden und anderen – Mitgliedern der neuen Partei der Linken zu sein. Sie verlangen konkrete Antworten auf konkrete Probleme und fürchten, wenn sie von Theoriedebatten hören, eine Ablenkung davon und ein Sichverlieren in abstrakten Gefilden.

Hinter dieser Furcht verbirgt sich meist die Idee, dass von einer Überwindung des Kapitalismus in absehbarer Zeit ohnehin nicht die Rede sein könne. Das demokratisch-sozialistische Ziel wird so, ähnlich wie in der Sozialdemokratie, zur reinen Seelennahrung jenseits aller praktischen Politikansätze. Dies droht aber zurückzuschlagen auf sämtliche Aspekte der Tagespolitik: Die Interessen der Beschäftigten und Erwerbslosen können in der heutigen Zeit nur wirksam verteidigt werden, wenn Millionen von Menschen, die dafür auf die Straße gehen, demonstrieren, streiken, sich selbst organisieren, von der Idee der Überwindung der gegenwärtigen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung zu Gunsten demokratisch-sozialistischer Verhältnisse beseelt sind. Anders dürfte es kaum möglich sein, dem wirksamsten “Argument” der Kapitalseite etwas entgegenzusetzen, nämlich dem “Argument” der Konkurrenz: “Ihr müsst länger arbeiten für weniger Geld und einen sich immer weiter verschlechternden Lebensstandard akzeptieren, damit wir die Konkurrenz im globalisierten Wettbewerb ausstechen können – sonst werdet ihr entlassen und noch mehr verarmen!"

Deshalb müssen wir uns nicht nur vor praxisfernen Theoriedebatten hüten, sondern auch vor theorieblinder Handwerkelei in der politischen Praxis. Interessant ist immer gerade die Verbindung zwischen den konkreten Vorschlägen und Forderungen einer linken Partei mit ihren gesamtgesellschaftlichen Zielen.

Bis zum ersten Weltkrieg sprach man in den Parteien der Arbeiterbewegung, so in der deutschen SPD, nicht von “Strategie". Man glaubte vielmehr, über eine “Taktik” zu verfügen. Diese Taktik gründete sich im Wesentlichen auf die Annahme vom natürlichen organischen Wachstum der Partei, ihrer Organisationskraft und vor allem ihres wahlpolitischen Einflusses. Das entsprach ja auch jahrzehntelanger Erfahrung. Die kapitalistische Produktionsweise selbst erzeugte ihre Totengräber, indem sie einen wachsenden Teil der Bevölkerung proletarisierte. Immer mehr Arbeiterinnen und Arbeiter würden unter dem Einfluss der Sozialdemokratie zu einem umfassenden Bewusstsein ihrer Klasseninteressen gelangen. Die Gewerkschaften, die Genossenschaften und die Partei verteidigten ihre Tagesinteressen im Rahmen des bestehenden Systems und verbreiteten zugleich die Idee vom sozialistischen Ziel. Eines Tages würde die Partei zu einer parlamentarischen Mehrheit gelangen, die großen Unternehmen vergesellschaften und mit dem Aufbau der sozialistischen Gesellschaft beginnen.

Diese “gute alte Taktik", wie man damals sagte, hielt der geschichtlichen Erfahrung nicht stand. Die Partei war auf große gesellschaftliche Erschütterungen nicht vorbereitet. Zudem hatte sie sich mit ihrer Taktik ein Führungspersonal erzogen, das den mächtigen Anpassungstendenzen der bürgerlich-parlamentarischen Institutionen erlag und mit der Zustimmung zu den Kriegskrediten und später mit dem “Verrat” (Sebastian Haffner) an der sozialistischen Revolution, die 1918 durch die Entstehung der Arbeiter- und Soldatenräte möglich geworden war, politisch auf die Gegenseite überging – obwohl sie gleichzeitig immer noch Jahrzehnte lang von vielen abhängig Beschäftigten als “ihre” Partei (im Gegensatz zu den eigentlichen Parteien des Bürgertums)
wahrgenommen wurde.

Die “gute alte Taktik”

Gemessen an den gängigen taktischen Vorstellungen der Sozialdemokratie waren die Vorstellungen, die Rosa Luxemburg erarbeitete, ein regelrechter theoretischer Quantensprung. Um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelte sie eine dialektische Sicht des Verhältnisses von Sozialreform und Revolution, wobei gerade der Kampf um die gewünschte sozialistische Gesellschaft es erlaubte, auch innerhalb des kapitalistischen Systems bedeutende Eroberungen zu machen (die Revolution von 1918/19 bestätigte dies, denn sie brachte das allgemeine Wahlrecht für Männer und Frauen, den Achtstundentag und die gesetzliche Verankerung des Rechts, Betriebsräte zu bilden, um nur die wichtigsten ihrer Errungenschaften zu nennen). Im Gegensatz zur gradualistischen Auffassung von Eduard Bernstein, der von einem friedlichen “Hinüberwachsen” in den Sozialismus träumte und das Wort prägte “Die Bewegung (sprich: die Organisation) ist mir alles, das Ziel nichts", schätzte Luxemburg den Kapitalismus ihrer Zeit so sein, dass heftige gesellschaftliche Erschütterungen unvermeidlich seien und die Herrschaft der Arbeiterklasse, mit anderen Worten: die sozialistische Demokratie unmittelbar aus breiten Mobilisierungen im Kampf um die eigenen Interessen herauswachsen müsse.

Mit der Verarbeitung der Erfahrungen des russischen Revolutionsjahres von 1905 ging Luxemburg noch einen Schritt weiter. Sie hatte registriert, dass die Massenstreikbewegung nicht auf Knopfdruck weder eines allmächtigen Generalrats der Gewerkschaften noch eines weisen Parteivorstandes entstehen könne. Solche Bewegungen entwickeln sich mit ihrer eigenen Dynamik und ziehen viel breitere Massen in ihren Strudel, als dies noch so starke Organisationen in normalen Zeiten könnten. Sie schaffen zugleich ein ungemein bedeutendes Potenzial der raschen Bewusstseinsveränderung einer großen Zahl von Menschen. Es kommt demnach darauf an, dass die überkommenen Organisationen der Arbeiterbewegung in solchen Massenbewegungen eine produktive Rolle spielen, um ihnen zum Erfolg zu verhelfen. Die vornehmste Aufgabe in nicht- oder vorrevolutionären Zeiten ist, sich genau darauf vorzubereiten.

Doch nicht nur die reformistische Taktik der Sozialdemokratie, auch die revolutionäre Taktik der jungen KPD (Eroberung der politischen Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte) versagte. Mit dem Abebben der revolutionären Nachkriegswelle setzte daher in der jungen kommunistischen Bewegung ein neues Nachdenken über Fragen der Strategie ein. Höhepunkt dieser Reflexion waren die Debatten und Entschließungstexten zur Einheitsfrontpolitik und zur Rolle der Teil- und Übergangsforderungen auf dem dritten und auf dem vierten Kongress der Kommunistischen Internationale. Mit der Stalinisierung der Komintern verfiel diese Tradition rasch, da der Marxismus unter Stalin nicht mehr als Analyseinstrument, sondern mehr und mehr als Rechtfertigungsideologie für die Herrschaft der privilegierten Bürokratie und die Zickzacks der kleinen Führungselite fungierte.

Im Mittelpunkt der Überlegungen zur Strategie in den frühen 20er Jahren stand in der kommunistischen Bewegung die Frage, wie man die Mehrheit der Arbeiterklasse gewinnen könne. Wenn wir heute das Niveau der strategischen Debatte in der neuen Partei der Linken als ersten Schritt zunächst einmal wieder auf das Niveau von 1922 heben könnten, dann wäre schon viel gewonnen!

Die wichtigste schon lange historisch gewordene Diskussion zur Frage, wie Mehrheiten für die sozialistischen Ideen gewonnen werden können, war die um den “Millerandismus". Der Franzose Alexandre Millerand war nämlich der erste Regierungssozialist. Er löste in der Sozialdemokratie eine internationale Debatte zur Mitregiererei aus. Die Wortführerin seiner Kritiker und Kritikerinnen war Rosa Luxemburg.

Alexandre Millerand (1859-1943), ein führendes Mitglied der französischen Sozialdemokratie, war 1885 sozialistischer Abgeordneter geworden. 1899 trat er als Minister in eine bürgerliche Regierung ein – gegen den Willen seiner Partei. Zunächst meinte er, die Interessen seiner Partei und der Arbeiterinnen und Arbeiter auf diese Weise besser vertreten zu können. Doch wackelte, wie üblich, nicht der Schwanz mit dem Hund, sondern umgekehrt, der Hund mit dem Schwanz (alles andere wäre ja auch eine zoologische Sensation gewesen). 1920 wurde er Ministerpräsident, womit er auch nichts von Belang durchsetzen konnte, und später wurde er ein normaler, sogar konservativer bürgerlicher Politiker.

Das Niveau von 1899/1900

Rosa Luxemburg erklärte in ihrer Streitschrift “Sozialreform oder Revolution?” (Ursprünglich eine Artikelserie 1899/1900) und in anderen Beiträgen, dass die Partei der Arbeiterinnen und Arbeiter, solange sie in der Minderheit ist, nur mit unversöhnlicher Oppositionspolitik und in schroffem Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien Chancen hat, Mehrheiten für die sozialistischen Positionen zu erobern. In dem Maße die führenden Sozialisten als Teil und Variante der bürgerlichen Politik erscheinen, begeben sie sich dieser Möglichkeit. Sozialisten, die gar in bürgerlichen Regierungen mitwirken, werden zu Geiseln der bürgerlichen Politiker. Sie werden gezwungen, sich mit allen Konsequenzen auf die Logik bürgerlicher Politik einzulassen – und die ist nicht nur gegen die historischen, sondern in aller Regel auch – und zumal in Krisenzeiten – gegen die unmittelbaren und elementaren Klasseninteressen der abhängig Beschäftigten gerichtet.

Die SPD ist schon lange über den “Millerandismus” hinausgegangen und treibt normale bürgerliche Politik, obwohl sie wegen ihrer Ursprünge in der Arbeiterbewegung immer noch Probleme spürt, die die normalen
bürgerlichen Parteien nicht haben. Jüngster Ausdruck ihrer spezifischen Krise ist nicht nur der Schwund ihrer WählerInnenbasis, sondern auch die Erosion ihrer traditionellen Bindungen an die Spitzen sowie die mittlere Funktionärsschicht und die Mehrzahl der Aktiven der Gewerkschaftsbewegung.

Doch in der neuen Partei der Linken spielt ein millerandistisches Milieu eine bedeutende Rolle, das sich als völlig beratungs- und erfahrungsresistent erwiesen hat. Diejenigen, die es durch das Mitregieren als Juniorpartner der SPD im Land Berlin geschafft haben, die WählerInnenschaft der Linkspartei.PDS fast zu halbieren, haben daraus die Konsequenz gezogen, einfach so weiterzumachen – geschwächt, und daher unter noch ungünstigeren Bedingungen. Mit zahlreichen von ihnen mitverantworteten Maßnahmen haben sie gar eine Pionierrolle in Sachen antisozialer Konterreform und Privatisierungspolitik gespielt. Leider haben sie viel Rückhalt im Apparat der Linkspartei.PDS, der mit demjenigen der neuen Partei der Linken recht weitgehend identisch sein wird.

Diese millerandistische Meute ist unbelehrbar. Was Zehntausende von Wählerinnen und Wählern nicht geschafft haben, werden auch die eigenen Parteimitglieder nicht schaffen. Es bleibt nur, gegen diese Mitregierer, die lieber die Partei der Linken gegen die Wand fahren, als von ihrem sozialliberalen Anpasslertum abzugehen, breite Mehrheiten in der Partei zu schaffen und sie zu isolieren.

Damit dies gelingt, muss die Debatte nicht einmal auf das Niveau von 1922 gehoben werden. Es reicht völlig aus, das Niveau von 1899/1900 zu erreichen. Doch das ist bitter nötig, zumal wenn mit kommenden weiteren Wahlerfolgen (die wir uns ja alle wünschen) die Appetite weiterer führender Kreise der Partei wachsen, die Mitregiererei gar auf die Bundesebene zu übertragen.

Eine breite Mehrheit der neuen Partei der Linken kann auch ohne abgeschlossene Strategiedebatte aufgrund eines Konsenses über eine ganze Reihe konkreter Vorschläge und Forderungen in enger Tuchfühlung mit kämpfenden Kolleginnen und Kollegen sowie mit den alten und neuen sozialen Bewegungen konkrete Politik machen, an außerparlamentarischen Bewegungen teilnehmen, die Forderungen der Beschäftigten und Ausgegrenzten in die Parlamente tragen. Sie kann dies, und sie kann zugleich mit offenem solidarischem und genossenschaftlichem Geist und mit wissenschaftlichem Ernst eine langfristig angelegte programmatische und strategische Debatte über den “Sozialismus des 21. Jahrhunderts” und darüber führen, wie das demokratisch-sozialistische Ziel in Vermittlung mit dem Kampf für die Durchsetzung der konkreten Vorschläge und Forderungen erreicht werden kann.

Manuel Kellner (Pädagogischer Leiter von SALZ e.V.), 14. Mai 2007
(Der Autor ist Mitglied der internationalen sozialistischen linken – isl)

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