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Geschichte und Philosophie

Die Matrosenrebellion im Sommer 1917

Von Peter Berens | 01.03.2011

Am 5. September 1917 wurden zwei Marineangehörige wegen Meuterei auf dem Schießplatz Köln-Wahn erschossen. Der Heizer Albin Köbis war fünfundzwanzig Jahre, Max Reichpietsch dreiundzwanzig Jahre alt. Die Justiz-Morde der Marine konnten den Matrosenaufstand, der die Novemberrevolution 1918 einleitete, nicht verhindern.

Am 5. September 1917 wurden zwei Marineangehörige wegen Meuterei auf dem Schießplatz Köln-Wahn erschossen. Der Heizer Albin Köbis war fünfundzwanzig Jahre, Max Reichpietsch dreiundzwanzig Jahre alt. Die Justiz-Morde der Marine konnten den Matrosenaufstand, der die Novemberrevolution 1918 einleitete, nicht verhindern.1

Der Gegensatz zwischen den „alten“ Großmächten England und Frankreich, die die Welt weitgehend unter sich aufgeteilt hatten, und dem Deutschen Kaiserreich, das bei deren Aufteilung „zu spät gekommen“ war, führte 1914 zum Ersten Weltkrieg, in dem auf europäischem Boden um die Neuaufteilung der Kolonialreiche gekämpft wurde.

Die Rivalität zwischen der Seemacht England und dem Deutschen Reich, begründet in der Konkurrenz um Absatzmärkte, war auch dadurch angeheizt worden, dass das Kaiserreich unter Wilhelm II. neben seinem umfangreichen Heer eine gewaltige Flotte aufbaute.
Im Wettrüsten der Marinen legte England für jeden deutschen Schlachtschiffneubau zwei eigene Dreadnoughts auf Kiel. 1913 betrug der Personalbestand der kaiserlichen Marine insgesamt 73 115 Mann, darunter 2197 Seeoffiziere. Für die Flotte wurden 467,3 Millionen Mark ausgegeben.

Angestachelt durch den Marinespleen ihres Kaisers gründete das Bürgertum zahllose Flottenvereine, die in jeder Stadt die Bevölkerung für Marine und Kolonien begeistern wollten.

Zu Beginn des Ersten Weltkriegs, der von 1914-1918 dauerte, galt die kaiserliche Kriegsmarine als die zweitstärkste Flottenstreitmacht der Welt. Tatsächlich trug der Flottenbau indirekt zur Niederlage des deutschen Imperialismus bei.
Eingeschlossen in Nord- und Ostsee konnte die kaiserliche Marine während des Krieges zu keinem Zeitpunkt die englische Seeherrschaft gefährden, geschweige denn die Handelsblockade durchbrechen. Während die großen Dickschiffe in den Häfen verrosteten, wurden die kleinen U-Boote zur gefährlichsten Waffe Deutschlands zur See.
Die Rebellion der Matrosen
Im Kriegswinter 1916/17 lebte die Bevölkerung wegen der schlechten Ernährungslage überwiegend von Kohlrüben. Die Mannschaftsküchen der Kriegsschiffe verpflegten die Matrosen ähnlich schlecht, während in den Offiziersküchen noch wie im Frieden gekocht wurde. Als Führungsschicht einer künstlich hochgezüchteten, militärisch aber fast nutzlosen Waffengattung atmete das Seeoffizierskorps besonders elitären Geist, der sich in dünkelhaftem Verhalten gegenüber den Mannschaften, der Streichung von Urlaub und im stundenlangen Exerzieren offenbarte. Heizer, die die Kohlen in die Schiffs­kessel schaufeln mussten, brachen wegen der Mangelernährung zusammen. Und während die Offiziere den „Siegfrieden“ über die Entente propagierten, sahen die Mannschaften den Krieg allenfalls als „Verteidigungskrieg“ an. Das ständige Zusammenleben auf einem jahrelang nutzlos im Hafen ankernden Schiff, wo z. B. auf dem Schlachtschiff Friedrich der Große 22 Seeoffiziere, 6 Marineingenieure, 2 Sanitätsoffiziere, 2 Zahlmeister, 9 Fähnriche zur See, 28 Deckoffiziere und 1019 Unteroffiziere und Mannschaften auf engstem Raum zusammengepfercht lebten, empfanden viele Matrosen als Haft in einem stählernen Gefängnis.
Die Rebellion
Zu ersten Protesten gegen empfundene Missstände kam es auf dem Schlachtschiff Posen bereits im Januar und auf der Oldenburg im Mai 1917. Am 6. Juni 1917 traten die Matrosen auf dem Schlachtschiff Prinzregent Luitpold gegen die schlechte Verpflegung mit Dörrgemüse in den Hungerstreik. Anfang Juli aß während einer Nachtübung die hungrige Mannschaft des Flaggschiffs Friedrich der Große die für den nächsten Tag bestimmte Brotration. Weil sie dann kein neues Brot erhielt, trat sie nicht zum Dienst an. Mitte Juli beschwerte sich ein Teil der Mannschaft auf der Posen kollektiv über die Verpflegung. Ein zweiter Hungerstreik fand auf der Prinzregent Luitpold am 19. Juli statt. Am 20. Juli entfernten sich 140 Matrosen unerlaubt vom in der Werft liegenden Kreuzer Pillau wegen Urlaubsverweigerung. Das machte Schule. Am 1. August unternahmen 49 Matrosen und Heizer der Prinzregent Luitpold einen illegalen Ausflug. Gegen die Bestrafung einiger von ihnen demonstrierten einen Tag später 400 Besatzungsangehörige. Am 16. August verweigerten 40 Heizer auf dem Schlachtschiff Westfalen die Kohlenübernahme, weil sie dafür keine Extraration zum Essen erhalten hatten. Am 16. August traten bei der Musterung auf dem Schlachtschiff Rheinland viele Matrosen gleichzeitig hervor. Diese Aktionen wurden von der Admiralität als „Aufstand im Kriege” – Kriegsverrat – gewertet und bestraft.
Menagekommissionen
Die Matrosen hatten ihre Beschwerden in den „Menagekommissionen“ (menage – Verpflegung) der einzelnen Kriegsschiffe diskutiert, deren zentrale Koordination bei der des Flottenflaggschiffs lag. Während solche Kommissionen beim Heer längst eingeführt waren, um den Mannschaften ein Kontrollrecht bei der Verpflegung einzuräumen, wurden Menagekommissionen für die Marine erst im Sommer 1917 durch den Haushaltsausschuss des Reichstages beschlossen, mussten aber von den Matrosen und Heizern erst gegen den Willen der Marineleitung durchgesetzt und die Wahl der Kommission durch die Mannschaften erkämpft werden. Bald wurde in den Kommissionen nicht nur über die Verpflegung, sondern auch über alle anderen Beschwerden und über die Beendigung des Krieges diskutiert. Nicht zufällig waren dort neben Unorganisierten auch Matrosen und Heizer, die Mitglieder der legalen Parteien SPD und Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands (USPD) oder sogar beim linksradikalen Spartakusbund waren, aktiv. Leiter der zentralen Menagekommission auf Friedrich der Große waren die Matrosen Reichpietsch, Weber und der USPD-Anhänger Willy Sachse. Durch den gegenseitigen Austausch wurde schnell klar, dass auf vielen Schiffen ähnliche Zustände herrschten. Beschwerden wurden von Vorgesetzten häufig in rüdem Ton abgeschmettert und blieben fast immer wirkungslos, so dass die Matrosen ihrem Protest mit Aktionen Nachdruck zu verschaffen suchten.

Hinzu kam die Sehnsucht nach Frieden. Die Februar-Revolution 1917 in Russland entfaltete ihre Anziehungskraft; am 19. Juli hatte die Mehrheit des Reichstages um SPD, katholisches Zentrum und liberale Fortschrittler eine sog. „Friedensresolution“ verabschiedet. Im gleichen Monat trat in Stockholm eine internationale sozialistische Friedenskonferenz zusammen. Für diese Konferenz wurde unter den Mannschaften der Schiffe Unterschriften gesammelt. Angeblich sollen insgesamt 5000 Matrosen und Heizer Appelle wie den von 400 Besatzungsmitgliedern des Schlachtschiffes König Albert unterschrieben haben, worin diese nicht nur einen „Frieden ohne Annektionen und Kriegsentschädigunge
n“ forderten, sondern auch kollektiv der USPD beitraten. Damit begegneten die Matrosen der „alldeutschen“ Propaganda der Seeoffiziere für einen „Siegfrieden“ unter dem Diktat Deutschlands, die, geleitet von der Vaterlandspartei des Flottenadmiral von Tirpitz, ganz offen über die Befehlsstrukturen der Marine verbreitet wurde. Die Friedensforderungen der Mannschaften waren zu viel für die Marineleitung, die ein Exempel statuieren wollte, um die Disziplin auf den Kriegsschiffen aufrecht zu erhalten. Eine Reihe der an den Aktionen beteiligten Matrosen und Heizer wurde verhaftet.
Die Marine-Justiz
Die Untersuchung gegen die Verhafteten leiteten der Marinegerichtsrat Dr. Dobering und der Marinehilfsgerichtsrat Dr. Loesch, der selbst daran beteiligt gewesen war, Spitzel auf die Matrosen anzusetzen, um deren Unmut anzufachen. Vor allem versuchten die beiden nachzuweisen, dass die Empörung der Mannschaften nicht aus den unhaltbaren Zuständen in der Flotte selbst, sondern von außen von der USPD in die Marine hineingetragen worden sei, um dort einen gewaltsamen Aufstand anzuzetteln. Da es an Beweisen fehlte, verweigerten selbst die bürgerlichen Parteien im Reichstag der Regierung die Gefolgschaft, die die USPD nur allzu gerne verfolgt und verboten hätte.

In der Zwischenzeit waren jedoch am 6. August die „Haupträdelsführer“ Sachse, Weber, Reichpietsch, Beckers und Köbis wegen „vollendeten Aufstands“ zum Tode verurteilt worden; Sachse, Weber und Beckers wurden dann begnadigt, Köbis und der Baptist Reichpietsch ermordet. Vom Ausbruch des Krieges bis Ende 1917 wurden insgesamt gegen Marineangehörige 180 Jahre Gefängnis, 181 Jahre Zuchthaus und zehn Todesurteile verhängt.
Die Rolle der USPD
Die USPD hatte unter den Matrosen keineswegs die revolutionäre Rolle gespielt, die ihr die Marinejustiz andichten wollte. Ostern 1917 gegründet waren die Unabhängigen Sozialdemokraten zwar eine frisch entstandene Massenpartei, die aber in vielen Fragen den Stempel der alten SPD trug, so wenn sie einen „Verständigungsfrieden“ forderte, einen Verteidigungskrieg nicht ablehnte und weder „für Sieg, noch Niederlage“ des kaiserlichen Deutschlands eintrat.

In der Stadt Wilhelmshaven, dem zentralen Flottenstützpunkt, zählte die USPD nur ein einziges Mitglied. Trotz hunderten von Beitrittsgesuchen legte die USPD keinen Wert darauf, Matrosen als Mitglieder zu gewinnen. Ließ sich ein Matrose auch davon nicht abschrecken, so wurde sein Mitgliedsantrag wie bei der USPD in Kiel zur Seite gelegt, er aber nicht zu Versammlungen eingeladen. Eine eigene Organisation unter Matrosen und Heizern aufzubauen, lag der USPD völlig fern, die die monarchistische Regierung durch „die Macht der Kritik“ in „Parlament, Presse und Versammlung“ „vorwärts drängen“ wollte. Es entsprach vollkommen der Wahrheit, wenn die spätere Abgeordnete Luise Zietz im Oktober 1917 vor Gericht erklärte: „Die Leitung der USPD hat nie Streiks in der Munitionsindustrie, bei Heer und Flotte empfohlen“, weil ihr, so ihr führendes Mitglied Wilhelm Dittmann, „unseren in jahrzehntelanger sozialistischer Schulung entstandenen Vorstellungen der Gedanke der militärischen Sabotage so fern lag“. Die USPD begnügte sich mit durch die doppelte Zensur gegangenen Zeitschriften und Broschüren, mit denen sie die Matrosen „ideell“ zu beeinflussen suchte. Die Novemberrevolution 1918 verurteilte am besten diese überholten sozialdemokratischen und pazifistischen Vorstellungen.
Novemberrevolution 1918
Trotz der Todesurteile verbreitete und radikalisierte sich die rebellische Bewegung unter den Mannschaften der Flotte weiter, war doch die Oktoberrevolution in Russland erfolgt und die Niederlage Deutschlands absehbar. Als die Heeresleitung bereits auf ein Waffenstillstandsangebot drängte, bereitete die Marineleitung ihr letztes Gefecht gegen die englische Flotte vor – angeblich ohne Wissen der nun amtierenden Regierung des Prinzen Max von Baden. Als die Matrosen und Heizer davon erfuhren, rissen sie am 29./30. Oktober die Feuer aus den Kesseln der Kriegsschiffe und meuterten gegen ihre Vorgesetzten.2 Wieder erfolgten Verhaftungen. Dieses Mal jedoch wurden die Verhafteten von den Mannschaften der Schiffe befreit. Da jeder, der meuterte, das Todesurteil gegen Reichpietsch und Köbis vor Augen hatte, bot nur die politische Revolution, der Sturz der alten morschen Ordnung Hoffnung. Die Novemberrevolution hatte begonnen.

1    Dittmann, Wilhelm: Die Marine-Justiz-Morde von 1917, Berlin 1926.
2     „Feuer aus den Kesseln“ (1930) heißt ein Drama von Ernst Toller um die Novemberrevolution.

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