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Grundsatztexte

Die große Krise von 2008 – Ursachen, staatliches Krisenmanagement, Folgen

Von Guenther Sandleben | 15.10.2008
Als Kanzlerin Merkel am 5. Oktober in Paris war, erzählte ihr Nicolas Sarkozy, dass er nachts um 4 Uhr 30 aus dem Bett geklingelt wurde: Monsieur le Président habe jetzt zwei Stunden Zeit, um ein Finanzinstitut zu retten, sonst vollstrecke der Markt das Todesurteil. Dabei schwang die Drohung mit, dass ein solches Todesurteil mit großer Wahrscheinlichkeit eine Kettenreaktion auslöst, die das gesamte Finanzsystem wie ein Kartenhaus zusammenbrechen lässt.

Als Kanzlerin Merkel am 5. Oktober in Paris war, erzählte ihr Nicolas Sarkozy, dass er nachts um 4 Uhr 30 aus dem Bett geklingelt wurde: Monsieur le Président habe jetzt zwei Stunden Zeit, um ein Finanzinstitut zu retten, sonst vollstrecke der Markt das Todesurteil. Dabei schwang die Drohung mit, dass ein solches Todesurteil mit großer Wahrscheinlichkeit eine Kettenreaktion auslöst, die das gesamte Finanzsystem wie ein Kartenhaus zusammenbrechen lässt.

So erging es nicht nur dem französischen Präsidenten, ähnliche Szenen spielten sich zuvor in vielen Ländern ab, anfangs vor allem in den USA, dann aber auch in Europa und Asien. Der Markt, häufig als idealer Ort der Informationsbeschaffung, als optimaler Lenker für Produktion und Verteilung, als Schöpfer neuer Ideen schöngeredet, erweist sich als blinde, zerstörerische Macht, die dem Staat die Regeln aufzwingt. Und nun heißt die Regel nicht mehr, halte dich aus meinen Geschäften heraus, sondern sie heißt: Interveniere jetzt, damit ich auch in Zukunft noch bestehe und meine Geschäfte machen kann. Die neo­liberale Regel ist in eine keynesianische umgeschlagen.

Und die Staaten begaben sich ans Krankenbett des Kapitalismus, um ihren Patienten, von dem sie selbst leben, zu retten und wenn möglich zu kurieren. Er soll wieder normal funktionieren, er soll die Profite durch „Schaffung“ profitabler, d. h. niedrig bezahlter Arbeitsplätze vermehren. Er soll auf diese Weise zu höheren Steuereinnahmen des Staates beitragen.

Schnelles Handeln wurde erforderlich, als der Patient eine heftige Fieberattacke erlitt. Die Aktienkurse brachen in der zweiten Oktoberwoche so heftig ein, dass Statistiker den größten Wochenverlust in der Geschichte des Kapitalismus feststellten.

Als die europäischen Staatschefs am 13. Oktober ihre Rettungspläne vorstellten, sagte Merkel: „Der Staat ist der Hüter der Ordnung“. Und kaum jemand zweifelte daran, dass ohne die europaweiten Rettungsaktionen der gesamte Kapitalismus in einen Abwärtsstrudel geraten wäre. Die Europäer bringen mehr als 1.000 Milliarden Euro zur Rettung des Kapitalismus auf (darunter das deutsche 500-Milliarden-Rettungspaket), nachdem zahllose Einzelaktionen verpufft waren; die USA verabschiedeten zuvor ein Notprogramm von 700 Milliarden US-$. Zur Beruhigung der Finanzmärkte senkten die bedeutendsten Notenbanken in einer koordinierten Aktion die Leitzinsen. 

Die Staaten hatten den Zusammenbruch gerade noch abwenden können. Folgende Fragen werden behandelt: Was sind die Ursachen der großen Krise von 2008? Wie ist das staatliche Krisenmanagement zu beurteilen? Auf welche Grenzen stoßen solche Staatseingriffe? Mit welchen politischen Konsequenzen ist zu rechnen?
1. Warum die Finanzmarktkrise die Krise des Kapitalismus ist
Bis hinein in die gewerkschaftliche Diskussion wird die Krise als Resultat unregulierter Finanzmärkte, als bloße Finanz- und Bankenkrise gedeutet, die eine an sich gesunde Wirtschaft gefährdet. Dies ist eine sehr oberflächliche und die Verhältnisse stark beschönigende Betrachtung, die der kapitalistischen Wirklichkeit nicht gerecht wird.

Über den Versuch der Ökonomen, die Krisenursache jenseits des Kapitalismus anzusiedeln
Besonders weit treiben das der Neoliberalismus und die Neoklassik, die ein Marktmodell entwerfen, worin marktendogene Krisenprozesse ausgeschlossen sind. Krisen werden zu exogenen Ereignissen umgedeutet, die angeblich nichts, aber auch gar nichts, mit dem Marktsystem zu tun haben. Äußere Umstände sollen es sein, etwa die Lohnpolitik der Gewerkschaften, die Finanzpolitik des Staates oder externe Schocks (Ölpreisschocks etc.), die das harmonisch wirkende Marktsystem stören würden. Wie widersinnig und wirklichkeitsfern dieser Marktutopismus ist, zeigt die jetzige Finanzkrise auf besondere Weise: Eigentlich sollen die Börsen den perfekten, vollkommenen Markt repräsentieren. Entgegen der Lehre sind es aber gerade die Börsen, die nun zusammenbrechen und der Staatshilfe bedürfen.
In der keynesianischen Theorie, die bei Gewerkschaftlern große Beliebtheit besitzt, wird der Marksektor zwar etwas kritischer eingeschätzt. Es wird eingeräumt, dass der Marktprozess zu Instabilitäten neigt, so dass Arbeitslosigkeit entsteht. Aber dennoch wird an der These von der Stabilität der bürgerlichen Ordnung festgehalten, da der Staat angeblich alles managen kann, ohne irgendwelche Beschränkungen zu besitzen. Diese Vorstellung prägt die gegenwärtige Diskussion, die in den beschlossenen Rettungsplänen ihren praktischen Ausdruck findet.

Die Theorie vom „finanzmarktgetriebenen Kapitalismus“ glaubt die bürgerliche Ordnung dadurch stabilisieren zu können, indem die Finanzmärkte stärker reguliert werden. Man wünscht sich einen normal funktionierenden Kapitalismus, wo die Finanzmärkte und Banken keine Herrscher, sondern bloße Mittler sind für das reibungslose Funktionieren der Wirtschaft.
Krisenzyklus, Kredit- und Zinszyklus
Erst in der marxistischen Krisentheorie wird die Krise umfassend erklärt als „die reale Zusammenfassung und gewaltsame Ausgleichung aller Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie.“  Die Finanzkrisen sind auffälligster Teil eines aus dem Kapitalismus heraus entstehenden Krisenprozesses.

Kapitalistische Entwicklung verläuft in Form von Akkumulationszyklen. Solche Krisenzyklen bestehen aus mehreren Phasen, aus der eigentlichen Krise, worin sich die Widersprüche der gesamten kapitalistischen Ökonomie zuspitzen und das Vertrauen in die Kreditwürdigkeit schwindet, aus dem allgemeinen Rückgang der Geschäftstätigkeit, der häufig zu einer Pleitewelle in der Wirtschaft und zu erheblichen Belastungen des Bankensystems führt, und schließlich aus der Phase der Ruhe oder Stagnation, gewissermaßen die melancholische Phase des Kapitals, in der sich die Angst legt, aber die Unsicherheit über den Fortbestand der kapitalistischen Ordnung fortschwingt. Es folgen die wieder aufwärts gerichteten Konjunkturphasen, zunächst die Erholung, dann die Prosperität, die schließlich in die Phasen von Überproduktion und Krise übergeht. Nimmt man diese Phasenfolge ernst, dann stehen wir ziemlich am Beginn eines allgemeinen Rückgangs der Geschäftstätigkeit.

Es ist dieser Akkumulationszyklus, der einen Kredit- und Zinszyklus und damit auch die Finanzkrise hervorbringt, und es ist keineswegs umgekehrt.
Während der aufwärts gerichteten Konjunkturphasen existiert wegen der sich allmählich beschleunigenden Akkumulation großer Kr
editbedarf, der aber meist reibungslos gedeckt werden kann, da großes Vertrauen in die Zahlungsfähigkeit der Geschäftsleute besteht. Der Kredit expandiert, sowohl der Kredit, den sich Käufer und Verkäufer von Waren untereinander geben (zum Teil dargestellt als Wechsel), als auch der Kredit, den sich die Geschäftsleute bei den Banken bzw. die Banken untereinander holen. Bei relativ niedrigen Zinsen wächst auch der Kredit von Privatleuten, die gerade während dieser Zeit von Banken mit Kreditangeboten bombardiert werden. Dies gilt sowohl für Konsumentenkredite als auch für Immobilienkredite.

Gegen Ende des Aufschwungs lässt die Dynamik der Nachfrage nach Waren bei stark steigendem Angebot nach. Stockender Warenabsatz mit Zahlungsverzögerungen ist die Folge, so dass das Misstrauen der Geschäftsleute untereinander sprunghaft zunimmt. Durch das Misstrauen sinkt die Bereitschaft, Kredite zu vergeben. Zugleich steigt aber der Kreditbedarf, um darüber Zahlungsmittel zu bekommen. Das Kreditsystem schlägt, wie Marx bereits im 19. Jahrhunderts feststellte, plötzlich ins Monetarsystem um.  Bare Zahlung wird überall verlangt.
2. Warum fällt die Krise diesmal besonders heftig aus?
Die Krise äußert sich derzeit vor allem als Finanzkrise, genauer gesagt als Krise der Finanzinstitute, insbesondere der Banken, die wegen fauler Kredite teilweise zahlungsunfähig sind. Um der Pleite zu entgehen, verkaufen sie auf den Kapitalmärkten u. a. Wertpapiere, um so an Liquidität zu kommen – daher auch der starke Kursverfall an den Aktienmärkten. Die Verflechtung zwischen den Banken ist derart eng, dass die Pleite einer Großbank zu einer Kernschmelze im gesamten Finanzsystem führen würde. Der Versuch, das „systemische Risiko“ zu begrenzen, steht im Vordergrund der staatlichen Rettungspakete.

Was sind die Ursachen für die besondere Heftigkeit der gegenwärtigen Krise? Erstens sind es die sich zuspitzenden Widersprüche des kapitalistischen Akkumulationsprozesses selbst, die zur Krise geführt haben und im Krisenprozess einen gewissen, vorübergehenden Ausgleich finden werden. Um die besondere Heftigkeit der Krise zu erklären, genügt es aber nicht, die normalen Widersprüche des Krisenzyklus anzuführen. Hinzu kommen die Widersprüche, die sich über mehrere Zyklen hinweg angesammelt haben.
Umschlag des Akkumulationstyps
Heute blicken wir auf eine Phase beschleunigter Akkumulation und auf einen stürmisch gewachsenen Welthandel zurück. Gründe dafür waren hohe Akkumulations- und Wachstumsraten in China, Indien und in anderen Regionen der Welt (zeitweise Mittelosteuropa, Russland, die Golfstaaten, Brasilien), sowie die durch die Entwicklung neuer Produktivkräfte entstandenen Akkumulationsschübe in den neuen bzw. technologisch stark veränderten Wirtschaftszweigen wie der Computer-, Informations- und Kommunikationstechnologie, der Energieerzeugung (solare Energie, Windenergie) und  der Biotechnologie. Die gesamte Weltproduktion ist auf eine neue, viel umfassendere Stufe gehoben. Folge davon war, dass die Krisenzyklen weniger stark ihre kritischen Seiten offenbarten. Die konjunkturelle Prosperität verlief in etlichen Ländern sehr stürmisch, in den meisten Ländern akzentuierter als sonst, während der Rückgang der Produktion gering war oder sich gar nur in rückläufigen Wachstumsraten zeigte. Größere Weltmarktkrisen hat es seit Mitte der 80er Jahre nicht gegeben.

Diese Phase scheint auszulaufen, so dass die kritischen Phasen des Konjunkturzyklus stärker in den Vordergrund treten. Denn die im Zuge des Aufbaus neuer Industrien und ganzer Industriezweige geschaffenen neuen Kapazitäten werden mehr und mehr genutzt und vergrößern das Angebot. Auf der anderen Seite sind die Großprojekte weitgehend abgeschlossen, der Nachfragesog lässt also nach. Nun stellt sich heraus, dass im Vergleich zur Nachfrage zuviel akkumuliert worden ist. Das Angebot ist tendenziell größer als die Nachfrage, mit der Folge, dass die Sturm- und Drangperioden des Kapitals in eine länger anhaltende Periode verlangsamter und instabiler Akkumulation übergehen. Der Ausgleich von Produktion und Markt wird diesmal heftiger als sonst ausfallen, so dass mit einem stärkeren Wirtschaftseinbruch zu rechnen ist.
Stärkere Kreditexpansion
Zweitens haben die für das Kapital verhältnismäßig guten Konjunkturjahre über mehrere Krisenzyklen hinweg zu einer allgemeinen Aufblähung des gesamten Kreditsystems geführt. An der Oberfläche zeigt sich die Kreditexpansion in Vermögensblasen, etwa in einer Aufblähung des Aktien- und Immobilienvermögens, in einem stark gewachsenen Anleihemarkt und in einer ungeheuren Masse von Finanzderivaten (etwa das sechsfache des Weltsozialprodukts), die der US-Geldkapitalist Warren Buffet vor Jahren schon furchtsam als „finanzielle Massenvernichtungswaffen“ bezeichnete, die eine „Megakatastrophe“ auslösen könnten. Schrumpft nun die Wirtschaft, dann ist die Bedienung von Schulden in Frage gestellt, so dass die aufgetürmte Kreditpyramide ins Wanken gerät.
Ungleichgewichte auf dem Weltmarkt
Drittens besitzt die sprunghaft gestiegene Verschuldung eine sehr problematische internationale Dimension. Die USA sind im Ausland hoch verschuldet. Das anhaltend hohe US-Leistungsbilanzdefizit verschärft die Lage von Jahr zu Jahr. Hinzu kommt nun noch die stark wachsende Staatsverschuldung. Trotz beider Schieflagen ist der US-$ Weltreservewährung. Sobald die US-Wirtschaft stärker einbricht, geraten beide Kreditberge ins Wanken mit der Konsequenz, dass ausländische Anleger ihre Dollar-Bestände verkaufen. Ein Sturz des Dollars mit schwerwiegenden Turbulenzen für die Weltwirtschaft zeichnet sich ab. Dies wäre zugleich eine gewaltsame Bereinigung von Disproportionen auf dem Weltmarkt.

Die zurückliegende, scheinbar recht stabile Phase der Akkumulation ließ aber nicht nur solche Disproportionen entstehen, sie führte auch nicht nur zu einer allgemeinen Expansion des Kredits, sondern sie schuf auch neue Instrumente, um das gewachsene Bedürfnis nach Krediten rasch zu befriedigen.
Neue Kreditinstrumente
Der vierte Grund, der für die besondere Heftigkeit der Finanzkrise angeführt werden soll, betrifft solche innovativen Kreditinstrumente. Dazu gehören die Verbriefung von Forderungen (Kredite werden zu Paketen zusammengeschnürt und können dann in alle Welt verkauft werden) und der Handel mit Kreditderivaten. Solche Derivate dienen beispielsweise dazu, Kreditausfallrisiken durch CDS-Vereinbarungen (Credit Default Swaps) zu verkaufen. Durch die Möglichkeit des Verkaufs verbriefter Kredite bzw. von Kreditrisiken kann die Bank nun mehr Kredite vergeben, bis die Höhe ihres Eigenkapitals Schranken setzt. Solche Fortentwicklungen im Kreditwesen sind aber nicht nur ein wichtiger Hebel für eine beschleunigte Akkumulation, also auch ein Hebel zur Beförderung der dieser Akkumulation innewohnenden Widersprüche, sondern sie bilden zugleich ein wichtiges Element, wodurch das gesamte internationale Finanzsystem eine besondere Störanfälligkeit erhält. Denn es bedeutet, dass die Risiken weiter gestreut, die wechsels
eitigen Verpflichtungen undurchsichtiger sind, so dass schnell das globale Finanzsystem ins Chaos geraten kann.

Das Beispiel dafür lieferte die im vorigen Jahr einsetzende Finanzkrise: Eine sektoral und regional begrenzte Subprime-Hypothekenausfallkrise bei Eigenheimkrediten reichte aus, um selbst renommierte Bankhäuser in Europa ins Wanken zu bringen.
Immobilienkrise
Damit ist ein fünfter Punkt angesprochen, die Immobilienkrise, die sich nicht nur in den USA, sondern auch in Großbritannien, Spanien, Irland, Frankreich aber auch in Teilen Asiens zuspitzt. Ohne die neuen Finanzinstrumente wäre eine derart rasche Expansion der Kreditvergabe unmöglich. Aber ohne die Sturm- und Drangperioden des Kapitals hätte es nicht diesen Bauboom gegeben, der das Kreditbedürfnis erst hervorrief. Niedrige Zinsen begünstigten eine steigende Nachfrage nach Immobilien; steigende Immobilienpreise ließen weitere Immobilienkäufe als attraktiv erscheinen. Mit dem Anstieg der Immobilienpreise wuchs die Möglichkeit für weitere Kredite, indem die teueren Immobilien zusätzliche Sicherheiten etwa für Konsumentenkredite boten. Die Spirale drehte sich immer weiter, bis eine nachlassende Bauwirtschaft die Gegenbewegung einleitete. Es waren die Zahlungsausfälle am US-amerikanischen Markt für Hypothekarkredite mit geringer Bonität (Subprime), die dann Mitte 2007 zur Bankenkrise beitrugen.
Umschlag des Kreditsystems ins Monetarsystem
Der sechste Punkt betrifft den Umschlag des Kreditsystems ins Monetarsystem. Eine solche Geldkrise bildet eine besondere Phase der Produktions- und Handelskrise. Diesmal ging sie aus der Immobilienkrise hervor. Was sie so schwerwiegend macht, ist der Umstand, dass sie mitten im Herzen des Finanzsystems stattfindet, nämlich genau dort, wo Banken untereinander Geld borgen. Seit Mitte vorigen Jahres trauen die Banken einander nicht mehr und meiden es, sich Kredite zu geben. Nach dem Bankrott der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers brach der Interbanken-Handel völlig zusammen. Eine kurzfristige Refinanzierung der Banken über den Geldmarkt war nun nicht mehr möglich – eine der Ursachen für den Zusammenbruch der Hypo Real Estate. Selbst nach den jüngsten Rettungspaketen sind die Banken immer noch misstrauisch und parken ihr Geld lieber zu ungünstigeren Zinsen bei der EZB, als es untereinander zu leihen. So lag nach Angaben der EZB das Volumen in der so genannten Einlage-Fazilität am 14. Oktober beim Rekordstand von 182,8 Milliarden Euro. In normalen Zeiten wird diese Möglichkeit wegen der ungünstigen Zinsen kaum genutzt.
3. Können Regierungen den Kapitalismus retten?
Die Regierungen haben es noch einmal geschafft, die Kernschmelze im Finanzsystem zu stoppen. Wird ihr Erfolg von Dauer sein oder ist es nur ein Pyrrhussieg, eine viel zu teuer erkaufte Rettungsaktion, die mehr einer Niederlage als einem Sieg ähnelt? Wo liegen die Grenzen staatlichen Handelns?
Privateigentum
Die erste Grenze ist durch das kapitalistische Privateigentum selbst gegeben, das der Staat unbedingt respektieren muss, will er sich selbst nicht prinzipiell in Frage stellen. Er darf nur mit „marktkonformen Mitteln“ agieren. Selbst wenn seine Akteure spürten, dass ein anderes soziales System im Schoße des Kapitalismus heranreift und sich darauf vorbereitet, als System der assoziierten Produzenten an seine Stelle zu treten, könnten sie als Funktionäre des Staates nichts anderes tun, als die Geburt des Neuen zu verhindern. Dies macht den bürgerlichen Charakter des Staates aus und führt zu der Schwierigkeit, angemessen auf die gegenwärtige Krise zu reagieren. Deshalb steckt der Staat in dem Dilemma, die Finanz- und Wirtschaftskrise nur durch solche Maßnahmen bekämpfen zu können, die den Keim einer weiteren Krise bereits in sich tragen. Über Systemalternativen wird nicht nachgedacht.

Daran hängt die zweite Grenze staatlichen Handelns. Der Staat finanziert sich über Steuern und Kredite. Beide Finanzierungsquellen liegen aber jenseits seines Gestaltungsspielraums, nämlich dort, wo sich die eigengesetzliche Reproduktion des kapitalistischen Prozesses vollzieht. Aber dieser Reproduktionsprozess verläuft in Form von Krisenzyklen, verbunden mit dem Problem, dass Stockungen in der Akkumulation auch den Staat durch ein schrumpfendes Steueraufkommen und durch Mehrausgaben treffen.
Verschuldungsgrenzen
Solch eine Konstellation kündigt sich nun an. Der Handlungsspielraum des Staates ist also durch eine stockende Wirtschaft eingeschränkt, obwohl weitere Interventionen erforderlich wären. Hinzu kommt die stark gestiegene Staatsverschuldung, vor allem in den USA. Die hohe Staatsverschuldung verkleinert die Manövriermasse, über die der Staat noch verfügt. Die Staaten werden unbeschadet kaum noch einen weiteren Kraftakt stemmen können, wie sie es jetzt mit ihren Rettungspaketen getan haben.

Besonders dramatisch wird es erst, wenn die schlechte Konjunktur große Industrie- und Handelsunternehmen zu Fall bringt. Die Banken werden dann erneut belastet und müssten auf die Kreditbürgschaften des Staates zurückgreifen. Die Staatsverschuldung würde ein weiteres Mal in die Höhe schießen. Weitere Notprogramme wären erforderlich, ohne dass der Staat die notwendigen Reserven dazu besäße. Die Staaten gerieten dann schnell in eine ausweglose Situation, in der sie ihr Vertrauen verspielen, egal, was sie tun.

Würden sie tatenlos zusehen, wie die Pleitewelle eine Firma nach der anderen dahinrafft, dann wären zwar erst einmal keine weiteren Kredite erforderlich, jedoch würde die sich ausbreitende Krise die finanzielle Grundlage der Staaten um so mehr untergraben. Würde sie stattdessen weitere Notprogramme zur Rettung von Konzernen auflegen, dann würde die Staatsverschuldung sofort zunehmen, mit der gleichen Folge, dass die Finanz­märk­te die Kreditwürdigkeit des Staates in Zweifel zögen. In beiden Fällen bekäme der Staat keine neuen Kredite, die er aber unbedingt braucht, um wie ein Kreditritter die alten Schulden zu bedienen. Der Staat wäre pleite! Dann würden Nicolas Sarkozy oder andere Regierungschefs erneut aus dem Bett geklingelt mit der Nachricht, dass der Markt schon bald das Todesurteil vollstrecken würde, diesmal nicht über ein Finanzinstitut sondern gegenüber einem Staat. Bei einem kleinen Staat wie Island, der bereits Bankrott ist, kann der Zusammenbruch durch Auslandskredite noch abgewendet werden, nicht aber bei den großen Staaten. Die Staaten sind ebenso wie größere Konzerne auf das Vertrauen angewiesen, das ihnen die globale Finanzwelt entgegenbringt. Vertrauen lässt sich nicht erzwingen, selbst die USA können dies nicht.
4. Können Notenbanken den Kapitalismus retten?
Wie weit reicht der Handlungsspielraum der Notenbanken? Auf den ersten Blick haben sie keine Schwierigkeiten, Kredite in eigener Währung zu vergeben. Denn sie besitzen diese Papiermaschine, die wie durch Zauberschlag eine unerschöpfliche Geldquelle zu sein scheint. Aber das Notenausgabemonopol funktioniert nur, weil das Vertrauen da ist, die Notenbanken würden durch eine umsichtige Geldpolitik den Wert des Geldes einigerma&szli
g;en stabil halten. Ein solches Vertrauen ist ungeheuer wichtig, denn es existiert kein wirklicher Wert, der hinter dem Geld steht. Die Goldeinlösungspflicht ist abgeschafft.

In der bisherigen Krise haben die Notenbanken ihr Vertrauen bereits aufs Spiel gesetzt. Erstens haben sie sich an den bisherigen Rettungsaktionen massiv beteiligt. Beispielsweise gewährten die Fed einen 30-Mrd.-Dollar-Kredit zur Rettung der US-Investmentbank Bear Stearns und einen 85-Mrd.-Dollar-Kredit zur Rettung des taumelnden Finanzriesen AIG. Die Bank of England half bei Northern Rock und bei anderen Instituten.

Zweitens erweiterten etliche Notenbanken den Kreis der Finanzinstitute, der sich bei ihnen verschulden kann.

Sie haben drittens die Bonitätsstandards der Wertpapiere vermindert, die für solche Kredite hinterlegt werden müssen. Etliche Notenbanken, darunter die Fed, akzeptieren inzwischen auch verbriefte Forderungen mit fraglicher Kreditwürdigkeit, welche kaum noch ihren Abnehmer finden. Aber die Notenbanken nehmen sie ab und liefern dafür das allgemeine Tausch- und Zahlungsmittel. Dazu ein wichtiges Detail am Rande:

Mitte Oktober 2008 beschloss die EZB, die Liste notenbankfähiger Sicherheiten zu erweitern. Zu den Sicherheiten, die die EZB im Rahmen ihrer Offenmarktoperationen akzeptieren will, gehören nun auch marktfähige Schuldtitel, die auf US-$, Pfund Sterling und Yen lauten, aber im Euroraum emittiert sind. Die Bonitätsanforderungen für Sicherheiten wurden von A- auf BBB- gesenkt. Das Handelsblatt (16.10.2008) zitiert einen Geldhändler mit den Worten: „Jetzt werden die Zentralbanken zum Mülleimer. Was passiert, wenn die jetzt beschlossenen, zum Teil doch eher fragwürdigen Sicherheiten nicht eingelöst werden?“

Dann passiert, dass die Notenbanken das Vertrauen verlieren, wie es vor ihnen die Geschäftsbanken verloren haben! Denn sie tauschen ihren eigenen Kredit gegen fragwürdige Kreditpapiere. Wenn zudem die heute noch als sicher geltenden Staatsanleihen problematisch werden, die gleichfalls in ihren Depots den Gegenposten für die emittierten Banknoten bilden, dann muss die Vertrauenskrise die Banknoten selbst erschüttern. Das Papiergeld würde nicht mehr als Zirkulations- und Zahlungsmittel akzeptiert, so dass die Notenbank die Macht verloren hätte, aus Papier Geld zu machen.
Zu welchen Konsequenzen ein solcher Vertrauensverlust führt, soll am Beispiel der USA skizziert werden.
5. Das Beispiel USA
Ein Vertrauensverlust des Staates einschließlich der Notenbank hätte für die USA und – wegen der großen Bedeutung der US-Ökonomie – auch für den Weltmarkt besondere Konsequenzen. Der US-$ fungiert traditionsgemäß als Weltreservewährung. Um diese Weltgeld-Funktion auch noch in Zukunft zu erfüllen, muss der US-$ stabil sein. Ansonsten würden die Dollarbesitzer Einbußen hinnehmen mit der Konsequenz, dass sie sich ein anderes Wertaufbewahrungsmittel suchen müssten.
Die ausländischen Notenbanken, allen voran die chinesische und die japanische Zentralbank halten den Dollar in Form zinstragender Wertpapiere, die der US-Staat selbst emittiert oder zumindest garantiert hat. Die sprunghaft wachsende Verschuldung des US-Staates bei einer sich verschärfenden Wirtschaftskrise lassen solche Wertpapiere mehr und mehr als problematisch erscheinen.

Hinzu kommt noch, dass die Fed fragwürdige Wertpapiere in ihrem Depot hält, auf deren Grundlage sie den US-$ emittiert hat. Eine Vertrauenskrise solcher Wertpapiere schlägt rasch um in eine Krise des US-$. Die Währungsreserven sind also unsicher, nicht nur weil der Emittent der Wertpapiere an Vertrauen verliert, sondern auch deshalb, weil die Währung, auf die die Wertpapiere ausgestellt sind, unsicher ist. Welchen Grund sollten Anleger haben, eine Währung in Reserve zu halten, die auf faulen Krediten beruht. Und es würde sich unter Risikogesichtspunkten verbieten, diese zweifelhaft gewordene Währung noch dazu in Form zweifelhafter Wertpapiere zu halten, die der Staat möglicherweise gar nicht auf Dauer bedienen wird.

Für den US-$ besteht also die Gefahr, dass die ausländischen Dollarbesitzer auf den Vertrauensverlust mit Verkäufen ihrer auf Dollar lautenden Wertpapiere und mit einem Umtausch in andere Devisen oder in Gold reagieren. Dies führte zum weiteren Kursverlust des Dollars, zu einer Verteuerung der US-Importe und auf diesem Weg zu steigenden Preisen in den USA. Das Misstrauen in den USA gegenüber ihrer eigenen Währung würde durch solche Inflationsprozesse zusätzlich gesteigert. Eine Hyperinflation könnte die Folge sein, verbunden mit weiteren Kursverlusten des Dollars. Ein sich beschleunigt entwertendes Geld ist natürlich erst recht untauglich, als Anlage-Währung, also auch untauglich, als Weltreservewährung zu dienen.

Hyperinflation und Dollar-Crash würden nicht nur das Vertrauen erschüttern bzw. die Importe verteuern, sondern es würden sich weitere, noch viel ernstere Schwierigkeiten einstellen. Ausländische Exporteure würden US-$ als unsicheres Zahlungsmittel ablehnen. Sie würden andere Waren, „harte“ Devisen oder Gold verlangen. Auf jeden Fall würden sie die Waren an den amerikanischen Importeur nicht auf Dollar-Kredit verkaufen.

Die USA sind im Ausland hoch verschuldet. Da ihre Leistungsbilanz chronisch defizitär ist, fließen den USA durch den Waren- und Dienstleistungsverkehr per saldo keine Devisen zu. Die Importüberschüsse sind nur möglich, weil die erforderlichen Devisen durch ausländische Geldanleger, die an die Stabilität des Dollars glauben, durch den Kauf von US-Wertpapieren ins Land fließen. Das Spiel geht solange gut, wie der Dollar als Anlagewährung weltweit attraktiv ist. Das Spiel ist aber aus, sobald der Dollar diese Attraktivität infolge des eigenen Wertverlustes verliert, wenn also die für den Importüberschuss benötigten Devisen nicht mehr als Kapitalanlage in die USA strömen. Und noch gefährlicher würde sich die Situation darstellen, wenn es statt der nötigen Devisenzuflüsse zu Devisenabflüssen käme, wenn also auch noch die Kapitalbilanz negativ würde.  

Wegen fehlender Devisenzuflüsse und aufgrund von Geldabflüssen („Flucht aus dem Dollar“) wären die USA gegenüber dem Ausland praktisch pleite. Die Fed könnte selbst die für den Außenhandel nötigen Devisen nicht mehr zur Verfügung stellen. Sie wäre machtlos, dagegen etwas zu tun. Ihre Macht ist auf die Ausgabe von Dollar begrenzt. Sie kann weder Devisen noch Gold herbeizaubern.

Zu dieser Grenze ihres Handelns kommt noch eine zweite hinzu. Sie kann auch die Warenbesitzer nicht zwingen, den Dollar als Kauf- und Zahlungsmittel einzusetzen. Das große Mysterium, das eine Notenbank umgibt, wenn sie Papier bedruckt, das dann als Geld aufersteht, löst sich nun in der Geldkrise auf. Es wird dann klar, dass die Notenbank zwar über eine Papiermaschine, nicht aber über eine Geldmaschine verfügt. Um Geld zu schaffen, reicht eine Druckerpresse nicht aus; es müssen noch andere Umstände hinzukommen, die aber von der Notenbank weder produzierbar, noch nennenswert beeinflussbar sind. Nur wenn die Notenbank das Vertrauen der Warenbesitzer hat, kann der bedruckte Papierze
ttel die Eigenschaft des Geldes erhalten.

Ohne Devisen müsste der Import der USA zusammenbrechen. Ohne Import würde die Industrie still stehen. Und ein solches Ausscheiden der USA aus dem Weltmarkt würde zugleich zu einem Stillstand des Welthandels führen. Eine gefährliche Abwärtsspirale der Wirtschaft wäre die Folge. Der Kapitalismus wäre am Ende.
6. Kapitalismus am Ende?
Regierung und Notenbanken können also nicht auf Dauer den Kapitalismus stabilisieren. Dazu reicht ihr Handlungspotenzial nicht aus, das durch die besondere Heftigkeit der Krise zusätzlich beschnitten wird. Eine Abwärtsspirale der kapitalistischen Wirtschaft zeichnet sich ab. Ist der Kapitalismus am Ende, vergleichbar mit den staatssozialistischen Ländern vor 20 Jahren?

Dass der Kapitalismus abgewirtschaftet hat, ist offensichtlich. Aber es fehlt eine real existierende Alternative, die einfach übernommen werden könnte. Das ist der Unterschied zu 1989, als sich die Menschen beeinflusst vom real existierenden Propagandaapparat des Westens einbilden konnten, dass der Kapitalismus ein Ausweg wäre.

Ein neuer Anlauf der Befreiung ist erforderlich, der mit dem ökonomischen Zusammenbruch des Kapitalismus wichtige Voraussetzungen hat. Es zeichnet sich nämlich eine dramatische Zuspitzung der Widerspruche zwischen den Klassen ab: Die Staaten müssen sich entschulden und dies werden sie tun ganz auf Kosten der abhängig Beschäftigten, Arbeitslosen und Rentner durch Anhebung von Massensteuern, durch Senkung von Sozialleistungen und durch Enteignung der Sparer (mögliche Währungsreformen und Staatsbankrotte). Die Unternehmen werden Massenentlassungen vornehmen und versuchen, durch Lohnsenkungen, Verlängerung der Arbeitszeit und durch weitere Intensivierung der Arbeit den Rückgang ihrer Profite durch Erhöhung der Mehrwertrate aufzuhalten. Ein Kampf um die Mehrwertrate zeichnet sich ab, ein Kampf Klasse gegen Klasse, ein ökonomischer und zugleich politischer Kampf, bei dem es dann um mehr als um bloße Lohnsicherung geht. Es wäre ein Kampf um die künftige Gestaltung der Gesellschaft, der dann bald in einen revolutionären Befreiungsversuch münden könnte. Nur durch einen derart bewussten politischen Akt lässt sich der Kapitalismus abschaffen. Passierte das nicht, dann würde er sich nach einer Phase der Lähmung allmählich erholen und sein zerstörerisches Werk fortsetzen.

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