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Geschichte und Philosophie

Die Aktualität Ernest Mandels

Von Wa.We. | 01.07.2005

Als die Medien am 20. Juli 1995 den Tod unseres Genossen Ernest Mandel bekannt gaben, machte diese Botschaft nicht nur die Mitglieder der IV. Internationale betroffen sondern große Teile der gesamten internationalen ArbeiterInnenbewegung.

Der Spätkapitalismus und die langen Wellen
Einem breiteren wissenschaftlichen Publikum wurde Mandel mit seiner Marxistischen Wirtschaftstheorie bekannt (dtsch. 1968), die den Versuch unternahm den zeitgenössischen Kapitalismus mit den Kategorien der Kritik der politischen Ökonomie zu analysieren. Neben dem normalen Krisenzyklus im Kapitalismus beschäftigte er sich im Anschluss an die Untersuchungen von N. D. Kondratieff mit den langfristigen Tendenzen der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung. Hellsichtig hat er eine so genannte Welle mit expansivem Grundton im deutschen Nachkriegskapitalismus, eine neue Gründerepoche ("Wirtschaftswunder") vorausgesagt. Dem setzte er bereits 1964 in der Zeitschrift "Sozialistische Politik 10-12" die Prognose einer folgenden Welle mit stagnierendem (depressivem) Grundton entgegen. Mit seinem Werk "Der Spätkapitalismus" (1972) überwindet er den z. T. deskriptiven Charakter der marxistischen Wirtschaftstheorie. Liest man diese Dissertation im Spiegel der Entwicklung der letzten dreißig Jahre, dann ist man über seinen prophetischen Charakter zutiefst beeindruckt. Mit dem Text "Die langen Wellen im Kapitalismus" rundet er seine Analyse ab. Den Spätkapitalismus selbst definiert Mandel als eine neue dritte Phase der kapitalistischen Produktionsweise, die sich als Folge der dritten technologischen Revolution u. a. durch objektive Vergesellschaftung und Verwissenschaftlichung der Arbeit und der tendenziellen Ausschaltung der Handarbeit aus dem Produktionsprozess auszeichnet. Begleitet ist dieser Prozess durch die internationale Zentralisierung des Kapitals und das Aufkommen multinationaler Konzerne. Die rationale Planung in Teilbereichen steht in wachsendem Widerspruch zur Gesamt-Irrationalität des Spätkapitalismus in Fragen der Ökologie, Gesundheit, Verkehrs- und Bildungspolitik usw. Er befindet sich hierbei in guter Tradition mit Trotzki, der einen ähnlichen Versuch auf dem 3. Kominternkongress (1921) und seinen Schriften aus den zwanziger Jahren unternahm. Vor diesem theoretischen Hintergrund sind die Folgen der Globalisierung für die IV. Internationale nichts besonders Neues.
Mandels Ursprünge
Ernest Mandel hatte sich früh 1939/40 der belgischen Sektion der IV. Internationale angeschlossen. Aus einem internationalistischem Elternhaus stammend, das antistalinistisch geprägt war, engagierte er sich im antifaschistischen Widerstand; wurde dreimal inhaftiert (entkam zweimal den Nazischergen und entging so einer Deportation als Jude nach Auschwitz). Sein Mentor Abraham Leon, der das Buch "Die jüdische Frage" verfasste, kam in Auschwitz um.
Die Erfahrungen des Überlebens haben ihn tief geprägt und in seinem geradezu extrem ausgeprägten Optimismus bestärkt.
Er war kein abgehobener Theoretiker, der über die ArbeiterInnenklasse schrieb, seine Arbeit für den belgischen Gewerkschaftsverbund (und den linken FTGB-Sekretär André Renard) bringt ihn in engen Kontakt mit der belgischen ArbeiterInnenbewegung. Besonders der Generalstreik 1960/61 stellte für ihn eine vitale Erfahrung dar, die seine Schriften über revolutionäre Strategie für Westeuropa beeinflussen.
Er publiziert in zahlreichen Zeitungen u. a. in der "metall", deren Chefredakteur viele Jahre Jakob Moneta ist, mit dem ihn auch eine jahrzehntelange Freundschaft verbindet.
Offener Marxismus….
Mandels Marxismus ist komplex und vielschichtig. Seine Arbeiten sind nie nur ökonomischer Natur; er schreibt über historische Themen (Der 2. Weltkrieg), analysiert zeitgeschichtliche Prozesse (Das Gorbatschow-Experiment; Kritik des Euro-Kommunismus) und veröffentlichte eine Sozialgeschichte des Kriminalromans (Ein schöner Mord). In einer Diskussion mit Johannes Agnoli bringt er es auf den Punkt: " Man beginnt zu verstehen, dass es zum Wesen des Marxismus gehört….bedeutsame Änderungen in der empirischen Wirklichkeit zu verarbeiten und dadurch den offenen Marxismus (denn der Marxismus ist ja per definitionem offen) als eine Aufgabe zu sehen, eine Aufgabe der dauernden Weiterentwicklung, Erweiterung unter Einbeziehung sowohl neuer Tatsachen als auch neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse." (Mandel/Agnoli "Offener Marxismus")
….und antistalinistischer Kampf
Eine solche Einstellung beinhaltet natürlich eine schroffe Ablehnung aller bürokratischen Positionen in der ArbeiterInnenbewegung, insbesondere wenn diese sich in den herrschenden Kapitalismus integriert (wie die Sozialdemokratie) oder als gewalttätige Staatsform (den so genannten real existierenden Sozialismus) etabliert. Der Kampf gegen die Reglementierung der Arbeiterklasse, gegen dogmatische Positionen und für "die Selbstorganisation der werktätigen Bevölkerung" (Mandel) zieht sich wie ein roter Faden durch sein Werk. Das unterscheidet ihn wohltuend vom aktuellen Elektoralismus, der parlamentarische Illusionen verbreitet und den Aufbau einer außerparlamentarischen Opposition nicht gerade begünstigt.
Von 1946 bis zu seinem Tod ist Ernest in den internationalen Leitungsgremien der IV. Internationale vertreten. Sein Motto: Der Aufbau der Internationale ist das Gebot der Stunde. Die Arbeit der IV. Internationale steht im Zentrum seines politischen Wirkens. So entwickelt er maßgeblich programmatische Positionen im Dokument " Die Dialektik der Weltrevolution in unserer Epoche", wo er die komplexen Wechselbeziehungen zwischen der permanenten Revolution in den so genannten Kolonialländern, der politischen Revolution im damaligen Ostblock und der sozialen Revolution in den imperialistischen Metropolen darstellt. (1963)
Seine dezidiert antistalinistische Überzeugung beschert ihm Einreiseverbote in die osteuropäischen Staaten (Ausnahme Jugoslawien) aber auch in den imperialistischen Demokratien wie den USA, Schweiz, Frankreich und der BRD! Der "liberale" Innenminister Genscher verweigert von 1972-78 dem aktiven Antifaschisten Mandel die Einreise!
Diese Jahre sind von zahlreichen Aktivitäten Mandels geprägt, dem Anwachsen der Internationale und einer Euphorie durch den Mai 68 in Frankreich; die Tet-Offensive in Vietnam; Prager Frühling 68; Nelkenrevolution in Portugal. Die Internationale sah die Weltrevolution aktuell vor der Haustür. International beachtenswert ist sicher seine Einladung durch Che Guevara zur Planungsdebatte auf Kuba.
Sein gelebter Internationalismus, der sich wohltuend von bürokratischen Appellen am 1.Mai seitens wohl dotierter Gewerkschaftsfunktionär abhebt, macht ihn und sein/unser Projekt vertrauenswürdiger. Die "Glaubwürdigkeitskrise des Sozialismus" (Mandel) wird angesichts der brutalen Herrschaft des Stalinismus noch geraume Zeit anhalten. Unser Selbstverständnis haben wir in dem Text "Für Rätedemokratie und Arbeiterselbstverwaltung" (isp-Verlag) dargelegt, in dem Parteienpluralismus, Pressefreiheit, unabhängige Gewerkschaften und Gewaltenteilung verteidigt werden.
Trotzki als Alternative
1992 erschien im Dietz Verlag Berlin Ernests Buch "Trotzki als Alternative" eine durchaus kritische Würdigung Leo Trotskis. Eine solche Einstellung
ist nicht repräsentativ für viele trotzkistische Formationen, die an den Schriften "des Alten" hängen wie die berühmten "Talmadisten Revolution".
Mandel sieht als Opfer der Nazidiktatur die Konturen eines neuen Antisemitismus und Faschismus vielleicht etwas hellsichtiger. Das Potenzial ist nach 25 Jahren neoliberaler Herrschaft jedenfalls vorhanden. "Unter diesen Bedingungen können revolutionäre Sozialisten durch einen konsequenten Einsatz für Menschenrechte, einen radikalen Kampf gegen jegliche Form des Antisemitismus, gegen jegliche Form von Diskriminierung und durch eine prinzipielle Absage sowohl an den Stalinismus wie auch an den Kapitalismus zum ersten mal seit 1941 wieder ein breiteres Gehör bei den von den neuen sich anbahnenden Katastrophen bedrohten Juden finden." (Trotzki, S.223)
Gleichzeitig plädiert er für die bedingungslose Verteidigung der Menschenrechte und des Rechts auf demokratische Selbstbestimmung und Eigenstaatlichkeit des arabisch-palästinensischen Volkes. Zwar ist die spätkapitalistische fun-Gesellschaft um ein angenehmes Erscheinungsbild bemüht, aber "uns interessiert das Antlitz nicht die Fassade". (Trotzki). Mandels Sozialgeschichte des Kriminalromans (Ein schöner Mord) beschäftigt sich mit diesem Antlitz. Im 14. Kapitel (Staat, Geschäft und Verbrechen) schildert er beispielhaft die Verbindungen zwischen den genannten Bereichen und resümiert: "und letzten Endes erklärt sich der Aufschwung des Kriminalromans vielleicht aus der Tatsache, dass die bürgerliche Gesellschaft alles in allem eine verbrecherische Gesellschaft ist". (S.153)
Optimistischer Ausblick
Zwar legt uns Antonio Gramsci den "Optimismus des Willens und den Pessimismus der Intelligenz" nahe und Ernst Bloch versichert uns, dass "ein Marxist nicht das Recht habe Pessimist zu sein." Mandel begründet seinen vorsichtigen Optimismus differenzierter. Menschen können ohne gesellschaftliche Arbeit und Kommunikation nicht überleben. Genauso wenig können sie ohne ein Minimum an Einfühlung in andere Menschen existieren.
Auf einem soliden wissenschaftlichen und moralischen Fundament bedarf die Empathie der Ausweitung. Außerdem sind Menschen durch ihre "zweite Natur", d. h. "Kultur" formbar.
Kooperation und Solidarität bedürfen der Ausdehnung; destruktives Potenzial muss neutralisiert werden.
"Doch dies ist nur möglich, wenn die Solidarität zunehmend grenzenlos wird, wenn sie junge und alte Menschen nicht ausschließt und Frauen, Rassen, ethnische Gruppen, Teile der Produzenten, sexuelle "Abweichler" nicht an den Rand drängt. Und weil gesellschaftliche Arbeit, gesellschaftliche Kommunikation und gesellschaftliche Empathie grundlegende anthropologische Charakteristika sind, bleibt eine solche grenzenlose Solidarität eine Möglichkeit, für die wir mit all unserer Kraft kämpfen müssen." (Mandel, Macht und Geld, S.264) Wer weiterführend an Mandel interessiert ist, wird sehr gespannt auf die in Arbeit befindliche Biografie von Jan-Willem Stutje sein.
So können diese Zeilen nur zu einer weiterführenden Beschäftigung mit dem Werk Ernest Mandels anregen. Dazu empfehlen wir als Einstieg E. Mandel – "Einführung in den Marxismus" sowie Gilbert Achcar " Gerechtigkeit und Solidarität – Ernest Mandels Beitrag zum Marxismus" (beide isp – Verlag). Mandels revolutionäre Glaubwürdigkeit, seine strenge und anspruchsvolle Wissenschaftlichkeit verbunden mit einem beispielhaften Optimismus sollte nicht nur Vorbild für die Mitglieder der IV. Internationale sein, sondern für alle, die den Weg der menschlichen Emanzipation im Sinne von Ernest Mandels revolutionärem Marxismus verfolgen.

TiPP!
Weitere Infos unter:
www.iisg.nl/research/mandel.html

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