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Bildung, Jugend

„Der Griff zur Knarre folgt der Logik der Staatsgewalt“

Von Interview: Philipp Xantos | 01.06.2009

Freerk Huisken ist eine Referenz auf dem Gebiet der marxistischen Bildungskritik. Mit  Avanti sprach er über Amokläufe, dem Schüler­Innenstreik im Juni und das bürgerliche Bildungssystem. Das Interview führte Philipp Xantos.

Freerk Huisken ist eine Referenz auf dem Gebiet der marxistischen Bildungskritik. Mit  Avanti sprach er über Amokläufe, dem Schüler­Innenstreik im Juni und das bürgerliche Bildungssystem. Das Interview führte Philipp Xantos.

Avanti: Was signalisieren uns die Amokläufe an Schulen (Erfurt, Emsdetten, Winnenden)? Was sagen sie über das Schulsystem in der BRD aus?

Freerk Huisken:  Erst einmal finde ich die Signale bemerkenswert, die von der öffentlichen Debatte über die Amokläufe ausgehen: Die Taten sollen „unfassbar“ sein, die jugendlichen Täter sollen sich durch „geistige Defekte“ und ihre „Unauffälligkeit“ auszeichnen. Damit soll dann wohl mitgeteilt sein, dass man letztlich gegen diese Amokläufe nichts machen kann, es eben immer wieder Menschen gibt, die die Veranlagung zum Ausrasten besitzen. Was den praktisch gewordenen Rachefantasien der Täter zugrunde liegt, warum es diese Jugendlichen so häufig in die Schule zurücktreibt, und warum sie offenkundig ihrer Umwelt beweisen wollen, dass sie „Macht über Leben und Tod“ von Schülern und Lehrern besitzen, all dies und noch einiges mehr wird ausgeblendet. Auf die Idee, dass solche Jugendlichen das Produkt von schulischen und außerschulischen Lernvorgängen sind, kommt kaum jemand. Dabei liegt einiges auf der Hand: Wer gelernt hat, dass er hierzulande einen Anspruch auf Erfolg, Anerkennung und Respekt besitzt und das mit einer Garantie auf Erfolg verwechselt, wer außerdem den Unfug gelernt hat, dass das Geheimnis eines jeden Erfolgs im stabilen Selbstbewusstsein liegt, der ist zu allerhand Rohheiten fähig, um Anerkennung zu erzwingen, wenn sie sich denn nicht so einstellt. Und auch das muss als Lernresultat festgehalten werden: Der Einsatz von Gewalt als Mittel für die Umsetzung von Rachegedanken ist zwar verboten; allerdings nur denjenigen, die dazu nicht staatlich befugt sind. Wer aber sein Interesse an Rache für sich so hoch hängt, dass es ein ganzes Leben bestimmt, der weiß sich ebenfalls befugt und hält sich für berechtigt, zur Knarre zu greifen. Er folgt darin ganz der Logik der Staatsgewalt, von der er gelernt hat, dass jenes Interesse am meisten gilt, das über die besten Kanonen verfügt.

Was sind die strukturellen Fehler des bürgerlichen Bildungssystems?

Huisken: Das bürgerliche Bildungssystem hat keine Fehler, es ist ein Fehler. Das meint: die Zwecke des Bildungswesens sind anzugreifen. Und die bestehen zum einen darin, den Nachwuchs per Schulpflicht so zuzurichten, dass er aus freien Stücken all das tut, was in dieser Gesellschaft für den ordentlichen Staatsbürger vorgesehen ist. Nämlich: seine Ausbildung auf spätere Brauchbarkeit für „Arbeitgeber“ aller Art auszurichten, das Geldverdienen in fremden Diensten als obersten Lebenszweck zu akzeptieren, seinen Dienst in der „Verteidigung westlicher Werte am Hindukusch“ zu leisten, per Familiengründung dafür zu sorgen, dass die Deutschen nicht aussterben, und in der demokratischen Wahl den Parteien, die ihm nur diese trostlosen Alternativen lassen, immer wieder die Lizenz zur Herrschaft über ihn zu erteilen. Erziehung zum mündigen Staatsbürger nennt sich das übrigens – zu recht, denn mindestens 10 Jahre schulischer Zurichtung braucht es schon, um später ohne Vormund wie gewünscht den „Ernst des Lebens“ zu bewältigen und sich als „guter Deutscher“ aufzuführen. Zum anderen hat das Bildungswesen hierzulande dafür zu sorgen, dass die Mehrheit des nationalen Nachwuchses von jener Bildungskarriere ausgeschlossen wird, die es erlaubt, eventuell ein Leben oberhalb der Armutsgrenze einzurichten. Deswegen verläuft das Lernen in der Schule als chancengleicher Leistungstest, der die Schüler früh nach Siegern und Verlierern im Schulsystem sortiert, und damit eine Vorsortierung für den Arbeitsmarkt und die Welt der Berufe leistet. Dort geht die Sortierung –  nicht nur nach Beschäftigten und Arbeitslosen – per Konkurrenz das ganze Arbeitsleben lang weiter.

Wofür können und sollten streikende Schüler­­Innen eintreten? Was sind denn ihre „objektiven“ Interessen?

Huisken:  Das mit den „objektiven“ und „subjektiven“ Interessen ist so eine Sache: Warum soll ich einem Schüler etwas über – angeblich – „objektive Interessen“ erzählen, wenn seine „subjektiven“ doch ganz anders aussehen? Ich würde vielmehr fragen, ob das, was Schüler heute an der Schule kritisieren, eine vernünftige Kritik ist. Wer nur für kleinere Klassen, mehr Lehrer und längere Schulzeit eintritt, der hat an den oben genannten bildungspolitischen Zwecken der Schule nichts zu kritisieren, sondern möchte nur Bedingungen schaffen, unter denen er leichter und darüber vielleicht erfolgreicher in der Schule durchkommt. Solche Schüler akzeptieren die eingerichtete Lernkonkurrenz, entdecken in ihr bloß Härten, die sie für überflüssig erklären. Und sie protestieren dagegen, weil sie in ihr besser abschneiden wollen – gegen die Mitschüler, die alle dasselbe wollen. Aber vielleicht besteht das „objektive Interesse“ jener Schüler, die die angehende nationale Elite verkörpern, ja gerade darin. Und vielleicht fällt diesen Schülern auch deswegen immer wieder ein, ebenso demonstrativ wie vertrauensvoll bei jenen Stellen um Änderung nachzusuchen, die zur Zeit  die Konkurrenz verschärfen, nämlich bei den staatlichen Bildungsbehörden.
Vielleicht sollte man sich deswegen weniger die Frage stellen, wofür man streiken will, sondern sich vielmehr erst einmal sehr gründlich Klarheit darüber verschaffen, wogegen man eigentlich antritt.

Wie soll ein gutes Schulsystem aussehen? Muss nicht auch im Sozialismus gelernt werden?

Huisken: Was heißt hier „auch“! Da ginge es überhaupt erst richtig los mit dem vernünftigen Lernen; und d. h. mit einem Lernen, das erstens  Maß nimmt an richtigem Wissen, für das man sich zweitens soviel Zeit nimmt, wie jeweils fürs Begreifen des Wissens benötigt wird, das drittens von dem Interesse der Lernenden lebt, sich die Welt zu erklären, um sie den eigenen Bedürfnissen gemäß zu gestalten, mithin viertens frei ist von dem Maßstab der Brauchbarkeit des Lernstoffs für das Funktionieren als Staatsbürger und in einer kapitalistischen  Berufswelt. Dass all dies in der heutigen Schule nicht geht, man sich richtige Erklärungen für all das, was einen an der hiesigen Gesellschaft stört, immer außerhalb und in der Regel gegen den Lehrplan der Schule aneignen muss, das spricht ja auch nicht unbedingt für die Schule im Kapitalismus und ihr Recht auf Bildung für alle.

 

Freerk Huisken
Freerk Huisken (Jahrgang 1941) ist marxistischer Theoretiker und war bis 2006 Professor für politische Ökonomie des Aus
bildungswesens an der Universität Bremen. Einen Namen machte er sich als Kritiker des bürgerlichen Bildungswesen, das er aus der Ökonomie ableitete. In jüngerer Zeit, d. h. nach „Erfurt“ und „Rütli“, polarisierte er mit aufschlussreichen Beiträgen zu den Amokläufen an Schulen und machte sich damit im herrschenden Diskurs unbeliebt. Aktuell beschäftigt er sich zudem mit der Hirnforschung.
Lesenswerte Aufsätze zum Thema und Veranstaltungstermine finden sich auch im Internet auf www.fhuisken.de

 

 

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