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Kultur

Buchbesprechung: „Goodbye Mr. Socialism“?

Von Jan Weiser | 01.07.2010

In Goodbye Mr. Socialism wohnen wir einem Gespräch zwischen Antonio Negri (*1933) und Raf Valvola Scelsi bei. Ersterer ist spätestens seit Empire (2000, deutsch 2002) Star-Theoretiker derjenigen Linken auch hierzulande, die den alten Marx hinter sich gelassen haben. Sein neues Buch Goodbye Mr. Socialism (2007/2009) nun ist kaum zu empfehlen als Einführung in den neo- oder postmarxistischen Diskurs; ein ergiebiger Quell jedoch für Liebhaber­Innen von Café-Geschwätz linker Schickeria.

In Goodbye Mr. Socialism wohnen wir einem Gespräch zwischen Antonio Negri (*1933) und Raf Valvola Scelsi bei. Ersterer ist spätestens seit Empire (2000, deutsch 2002) Star-Theoretiker derjenigen Linken auch hierzulande, die den alten Marx hinter sich gelassen haben. Sein neues Buch Goodbye Mr. Socialism (2007/2009) nun ist kaum zu empfehlen als Einführung in den neo- oder postmarxistischen Diskurs; ein ergiebiger Quell jedoch für Liebhaber­Innen von Café-Geschwätz linker Schickeria.

Das Gespräch ähnelt einem sokratischen Dialog und die erste Erkenntnis lautet: Es dürfte wohl so nie stattgefunden haben, umfasst das Buch doch über 200 Seiten. Es lässt sich also annehmen, dass es sich um mehrere zusammengefügte Interviews handelt. Die Rollen sind hier nun strikt so verteilt, dass Scelsi als besonnener „Normalo“-Linker kleine Inputs liefert, die aber nur Steilvorlagen dafür sind, dass der Interviewte intellektuell und wortgewandt glänzen kann. Im Folgenden werden ohne Anspruch auf Vollständigkeit einige „Glanzlichter“ abgehandelt.
Negri und Stalin
Die Eintrittskarte in den Diskurs ist billig zu haben: Negri lässt uns bereits auf Seite 10 wissen, dass er am Abend des Mauerfalls 1989 mit einem Freund anstieß auf das Ende, das der „primitive und totalitäre Sozialismus endlich genommen hatte“. Das Verrückte ist hierbei nicht, dass er offenbar auch nach 20 Jahren nicht bemerkt hat, welche geschichtliche Konjunkturkrise aller Linken mit der Wende begann. Der Kritiker des „totalitären Sozialismus“ rechtfertigt nur zwei Seiten später wortreich den wohl dunkelsten Punkt in der Geschichte der Arbeiter­Innenbewegung, den Hitler-Stalin-Pakt: „Ich gehöre ganz sicher nicht zu denen, die sich über das Bündnis Stalins mit den Nazis entrüstet geben. Im Gegenteil schien mir darin immer ein großes Element strategischer Klarheit zu liegen …“. Und weitere zwei Seiten später gibt er sich „sicher, dass man ohne Stalin nicht über den Zarismus hinausgekommen wäre“. Da Negri Star-Philosoph ist, wird’s im nachgesehen.
Begründungen?
Es zeigt sich schon hier, dass Negri nie Argumente oder Belege für seine Thesen aufweist, dafür aber mit plakativen Slogans und fragwürdigen Analogien aufwartet. Ein weiteres Beispiel: „Es gibt keine Philosophie der Geschichte“. Punkt. Literaturhinweise kennt das Buch nicht. Leider bleibt daher nur die Wahl, Negris Gedanken zu akzeptieren oder abzulehnen. Eine kritische Rezeption ist mangels Substanz kaum möglich.  Vielleicht ist dies der Grund, weshalb Negri so beliebt ist. Auch Erläuterungen fehlen meist. Es handelt sich bei seiner Theorie größtenteils um ein wüstes Gedankensammelsurium.
Negri und Lula
Negris Haltung zum „linken“ brasilianischen Präsidenten Lula da Silva (S. 84) weist Ähnlichkeit zu der gegenüber Stalin auf. Er benennt offen die systematische Korruption dieser Regierung, jedoch nur, um letzten Endes alles zu rechtfertigen. Lula habe einen „Sinn für Demokratie“ und die Korruption sei schlicht notwendig, um an der Macht zu bleiben. Verachtungswürdig seien vielmehr Maoisten und gewisse Trotzkisten, die dem Führer illoyal die Gefolgschaft aufgekündigt haben und damit den rechten Kräften in die Hände spielen würden (Als „trotzkistisch“ bezeichnet Negri übrigens auch den slowenischen Philosophen Slavoj Žižek, der sich in seiner ansonsten geistreichen Negri-Kritik sofort gegen diesen Titel zur Wehr setzt.1)
Negri und Gewalt
Negri wendet sich gegen den Pazifismus. Gewalt an sich ist für ihn einfach eine „Ausdrucksform“ des Menschen, ein „Teil menschlicher Realität“ (als wäre das nicht alles). In diesen Zusammenhang passt auch, dass Negri das chinesische Regierungsprogramm „Kulturrevolution“ (1966-76), deren Opferzahl bis heute unbekannt ist, romantisiert als „Behauptung einer anderen Moderne“. Gewalt ist für Negri im Grunde immer und überall legitim, bis auf eine Ausnahme: Zum Thema gewaltsame Revolution befragt, sagt er schlicht: „Wie gesagt, ich schließe das aus“.
Negri und Europa
Die Grenze des Erträglichen wird zum Ende des Buches überschritten. Negris politische Hoffnung liegt auf Europa (S. 227). Dies sei der „Garant für Pluralismus in der Welt“. Denn Europa sei „das einzige ,Land‘, in dem sich große Tradition der Zivilisation und eine ungeheuer reiche demokratische Erfahrung von unten begegnen“. Nur Europa sei „in der Lage, einen pluralistischen und demokratischen Elan der realen und dynamischen Transformation weltweit auszulösen“. Wie Žižek (op. cit.) richtig feststellt, ist (auch) dieser These keinerlei Begründung beigelegt. Auf Negris Eurozentrismus ist wohl auch die Aussage zum Kosovo-Krieg der NATO auf Seite 46 zurückzuführen: „Die einzig achtbare (!) Haltung, nahm damals Joschka Fischer ein“. Als wäre das regierungs-grüne Propagandakonstrukt von „Hufeisenplan“, „Konzentrationslagern“ usw. nicht schon längst, selbst von bürgerlichen Medien, als würdelose Kriegslüge aufgedeckt worden. Wenn in Zukunft Regierungs-Linke die Aufgabe haben, deutsche Kriegseinsätze theoretisch zu rechtfertigen, wissen sie schon heute, in welchem Buch sie nachschlagen dürfen.
Scheunentore
Wir können festhalten, dass Negri mit ziemlicher Sicherheit jedes noch so große Scheunentor verfehlt, wenn es darum geht, was mensch als irgendwie vernunftbegabteR SozialistIn – ganz gleich welcher Strömung – unterstützen oder ablehnen sollte: Stalin, Lula, Fischer … Der Titel des Buches findet hierin seine Entsprechung. Das gibt Anlass dazu, die begrifflichen Kategorien, in denen Negri denkt, in Frage zu stellen.
Multitude
Der Begriff Multitude (von lat. multitudo – [Volks-]Menge) bezeichnet etwas zwischen „Volk“ und „Klasse“, also z. B. in Brasilien gewissermaßen „die Arbeiterklasse“ + die „Indígenas“ + „die Frauen“. Ganz davon abgesehen, dass diese Definition in ihrem großen „Einschließen“ ausschließend ist   – als würden die Frauen, Homosexuellen usw. nicht schon so dazugehören), soll der Begriff vermutlich folgendes ausdrücken: Eine Benennung der Menge von um ihre Rechte kämpfenden Menschen, die keinen weiteren „Hinterge
danken“ enthält, wie das bei „Volk“ und auch bei „Klasse“ der Fall ist. Doch das führt dazu, dass letztlich alles zu Multitude dazugehört. Das Konzept „bedingungsloses Grundeinkommen“ knüpft übrigens hieran an. Hätten Lenin und Trotzki z. B. den Begriff Multitude gehabt, hätte ihre Auseinandersetzung um das Verhältnis zwischen „Arbeitern“ und „Bauern“ nicht stattfinden können: Schließlich waren alle Multitude …  Letztlich bringt der Begriff die Haltung all der Linken auf den Punkt, die alle unterstützen, die gegen oder für irgendwas kämpfen, für die der Kampf für den Djihad und die Legalisierung von Marihuana irgendwie eins sind. Brauchen wir nicht vielmehr eine genau entgegengesetzte, d. h. einschränkende Orientierung? Scelsi schlussfolgert: „Der Riese (d.i. der Kapitalismus) kann zu Fall gebracht werden, wenn jede und jeder die eigenen Fäden spinnt, auch wenn das unabhängig von anderen geschieht“. Ist das nicht ohnehin Alltag im Kapitalismus? Und wie soll die Multitude regieren? Eine Antwort hierauf verspricht der Begriff …
… Governance
Governance wird in zwei Bedeutungen verwendet: 1. Die Staatsmacht „fragt“ die soziale Bewegung (die Multitude) und diese findet dadurch eine Ausdrucksmöglichkeit. Ganz im Sinne von John Holloway will Negri eine „Revolution“ unter unbedingter Ausklammerung der Machtfrage. 2. Eine vollkommene Gesellschaft der Multitude (Governance) wäre eine absolute Demokratie, die im Unterschied auch noch zur Rätedemokratie völlig ohne Repräsentanz auskommt. Žižek ist bereits aufgefallen, dass immer dort, wo es Governance gibt, ein autoritärer Alleinherrscher an der Spitze steht (siehe Lula, Chavez, Subcomandante Marcos). Die politische Sackgasse für die Governance besteht darin, dass der bürgerliche Staat immer erst den notwendigen Rahmen bildet, den die Multitude daher strukturell nie verlassen kann.
Zwei Welten
Es genügt nicht, im Urteil über Goodbye Mr. Socialism zu wiederholen, was der Genosse Sascha Stanicic von der SAV schon vor acht Jahren über Empire urteilte: „Es ist eine Qual dieses Buch zu lesen […]. Viele der geäußerten Ideen kann man nur als obskur bezeichnen, es bleibt auf jeder Seite abstrakt und widerspricht sich in einigen Fragen selber“, wenngleich dies auch hier gilt.
Denn dieses Statement zeigt letztlich, dass ein Punkt zu kommen droht, an dem Vertreter­­Innen zweier Welten sich nicht mehr verstehen und nichts mehr zu sagen haben, sich nicht einmal mehr zur Kenntnis nehmen. Die voranschreitende Auseinanderentwicklung von bloßem organisations- bzw. praxisbezogenem Marxismus auf der einen und bloßem „Universitäts“-Marxismus auf der anderen Seite – d. h. Marxismus auf der Straße und Marxismus im Straßen-Café – sollte uns zu denken geben. Wovon wird die Überwindung dieser Spaltung abhängen?

1     Žižek: „Auf verlorenem Posten“, Suhrkamp 2009.

Antonio Negri, Raf Valvola Scelsi: Goodbye Mr. Socialism: Das Ungeheuer und die globale Linke, Bittermann-Verlag, 239 Seiten

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