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Bildung, Jugend

Bildungsreform an den Schulen: Der Druck wird erhöht

Von Jochen Sussa | 01.04.2005

Eins hat der normale Lohnabhängige in diesem Land in den letzten Jahren gelernt: Wenn irgendwo von Reformern die Rede ist, dann geht’s ihm an den Kragen. Dass dabei auch der Nachwuchs nicht ungeschoren davon kommt, das lässt sich an den Reformen im Bildungsbereich sehen.

 
Das, was heute unter Bildungsreform verstanden wird, reiht sich ein in alle Reformen in den anderen Bereichen, die nur ein Ziel haben, den Wirtschaftsstandort Deutschland im internationalen Kräftespiel zu optimieren. Klar, dass Deutschland bei der nächsten Weltmeisterschaft des Schulwissens, dem PISA-Vergleichstest, einen besseren Platz erreichen muss.
Ein durchschnittlicher Schüler weiß, dass das Leben in den Bildungseinrichtungen kein Zuckerschlecken ist. Was gelernt werden soll wird von Anderen bestimmt und durchgesetzt, und es braucht schon viel Hauen und Stechen, um in der Konkurrenz zu bestehen.
In der Zukunft wird ihm der Wind noch etwas kräftiger ins Gesicht blasen. Das umfangreiche Maßnahmenpaket, das die deutschen Schulen radikal verändern soll, sieht eine Verkürzung der gymnasialen Schulzeit vor. In den Abschlussklassen von Realschule und Hauptschule werden Abschlussarbeiten eingeführt. Mit regelmäßigen Orientierungsarbeiten und bundesweiten Tests in allen Schulformen einschließlich der Grundschule soll auf diese Prüfungen hingearbeitet werden. „Messbare Leistungsstandards“, „klar festgelegtes Grundwissen“ und „unverzichtbare Kompetenzen“ sollen dem einzelnen Prüfling dabei abverlangt werden.

Kapitalistischer Bildungsbetrieb

Bildungsausgaben sind Ausgaben, die für das Kapital notwendig sind, sich aber nicht unmittelbar produktiv auswirken. Aus diesem Grund sollen sich diese Ausgaben zwar langfristig auszahlen, aber auch möglichst niedrig bleiben. So war bisher in der Bundesrepublik jede Reform im Bildungsbereich von einem Mangel an Investitionen begleitet. Der Staat ist der Träger des Bildungsbereiches und garantiert, dass die Schüler mit allgemeinen Fähigkeiten und Fertigkeiten so ausgerüstet werden, dass sie für einen allgemeinen Arbeitsmarkt ausgerichtet sind. Lesen, Schreiben, Rechnen, das soll jeder können.
In der Bundesrepublik werden die jungen Menschen quasi naturgegeben in drei Bereiche einsortiert, in den Hauptschulabschluss, den mittleren und den gymnasialen Bildungsabschluss. Diese Abschlüsse sind in den meisten Fällen ausschlaggebend (aber keine Garantie) dafür, wie die weiteren Lebenskarrieren verlaufen und die Futterplätze an den Trögen dieser Gesellschaft verteilt sind. Möglich, dass ein Tellerwäscher Millionär wird, aber dies ist kein Regelstudium. Es wird gern auf die Gleichheit der Chancen verwiesen, die jedem gegeben sind. Aber diese mündet nie in einer Gleichheit der Resultate1 . Die Folge dieser Sortierung ist die, dass zwei Drittel der jungen Menschen von einer weiteren Bildung ausgeschlossen werden.
Es hat sich in der Bundesrepublik bewährt, dass dieses Bildungssystem nicht der Kontrolle einzelner Kapitalien unterworfen ist, sondern der Staat dies zum Wohle Aller verwaltet. Das bedeutet jedoch nicht, dass der Arbeitsmarkt nicht auch Wünsche anmeldet. Werden einmal mehr höhere Abschlüsse verlangt, dann macht man sich Gedanken, wie man diese Ressourcen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen kann. 1962 sprach man in der Bundesrepublik vom Bildungsnotstand, das bundesrepublikanische Bildungssystem sei auf der Höhe von Uganda. „Die erste Bildungskatastrophe: Zu wenig Abi-turienten“2 wurde ausgerufen.
Für die einsetzende Bildungsreform machte sich gerade die SPD stark und wurde damit zum Motor kapitalistischer Modernisierung. Das Ziel, ein höherer Bildungsabschluss für eine größere Anzahl von Schülern, hatte zu Folge, dass man sich für Konzepte wie Integrierte Gesamtschulen, Kooperative Gesamtschulen, flächendeckende Förderstufe, Oberstufenreform usw. stark machte. “Die Gesamtschule, zumal in ihrer integrierten Form, in der alle Schüler unverzweigt in einer Schule lernen, verlieh der Bildungsdebatte ihre erste organisatorische Gestalt. Sie wird denn auch allgemein als der konsequenteste Schulversuch in der Bundesrepublik ausgewiesen: Eine effektivere Rekrutierung von Nachwuchs für die geistige Elite sollte über die Anhebung der Volksbildung für alle erfolgen.“ Die gesellschaftlichen Kräfte, die für die integrierte Gesamtschule eintraten, waren die SPD unterstützt von GEW und DGB.

Teach Your Children well3

Klar ist natürlich, dass jede Bildungsreform auch pädagogisch begleitet werden muss. Somit verband man mit dem Begriff Gesamtschule eine ganze Menge pädagogischer Werte wie Integration, soziales Lernen, Demokratisierung u.ä..
Und auch linke Lehrer sahen hier ein Stück Subversivität. Oder sahen gar ihr Ziel verwirklicht „Mehr Arbeiterkinder an die Uni“. Natürlich interessiert es das Kapital überhaupt nicht, aus welcher Klasse seine Arbeitskräfte kommen. Seine Logik ist: „Gebt die Arbeitskräfte und Abschlüsse, die ich brauche.“ Woher die Leute kommen, das ist egal. Was wichtig ist, das ist, dass ihr die Einsortierung macht. Und an dieser Einsortierung hat sich nichts geändert. Diese Dreigliedrigkeit war und ist in keiner Schulform aufgelöst, mögen auch die Wege zu diesen Abschlüssen verschieden sein.
„Die bildungspolitischen Reformen Ende der 60er Jahre waren geplant als Anpassung an die Veränderungen im Produktionsbereich und die damit erforderlichen neuen Qualifikationen. Die Strukturprinzipien der Gesamtschule – Chancengleichheit, Individualisierung, Integration, Durchlässigkeit der verschiedenen Bildungsgänge sowie die Verwissenschaftlichung der Lehrpläne, Lehrmethoden und Bildungsziele – hatten nicht primär das Ziel der Demokratisierung des Bildungswesens, wenn auch viele fortschrittliche Bildungspolitiker und Lehrer diese Hoffnung damit verbanden.
Die Einführung der Gesamtschule sollte, neben der Ausschöpfung aller Begabungsreserven, eine höhere Flexibilität, also eine vielseitigere Verwendung im Produktionsprozess und eine höhere berufliche Mobilität und Qualifikation der Arbeitskraft sichern, um eine zukünftige reibungslosere Anpassung an die Veränderungen im Produktionsbereich zu ermöglichen. Man ging von einem erheblich größeren Bedarf an qualifizierten Arbeitsplätzen aus, als es heute in Wirklichkeit der Fall ist. Die krisenhafte Entwicklung der 70er Jahre war von den Bildungsplanern der höheren Etagen genauso wenig mit einkalkuliert worden, wie überhaupt die bürgerliche Wissenschaft nicht in der Lage war und ist, einen korrekten analytischen Zugang zur Entwicklung der Produktivkräfte zu finden.“4
Im Bildungsbereich stellte sich die CDU eher als eine die kapitalistische Entwicklung hemmende Kraft dar. Mit Rücksicht auf ihr Klientel, das mit den Worten „Abitur nicht für alle, aber wenigstens doch für mein Kind“ beschrieben werden könnte, stand sie für den verstaubten Mief der Adenauer-Ära. Hauptsächlich war es bei den „konservativen“ Kräften jedoch die sozialdemokratisch ausgeschmückte Ideologie, die die Gesamtschule in Verruf
brachte. So wurden Prinzipien wie Durchlässigkeit, Orientierungs- oder Förderstufen oder das Kurssystem der Oberstufen auch von CDU-Kultusministern begrüßt.

Gesamtschulen ein Auslaufmodell

Doch längst ist die Idee einer modernen Schulform, die für alle gut ist, über den Haufen geworfen. Im Gegenteil die Durchlässigkeit der einzelnen Bildungsgänge wird erschwert. Dem Wechsel in den höheren Bildungsgang wurden durch die Lehrpläne sowieso schon viele Steine in den Weg gelegt. Die Möglichkeit der Querversetzung von einer höheren in eine niedrigere Schulform wird ausgeweitet.
Mit Anwachsen der industriellen Reservearmee veränderten sich auch die Einstiegsanforderungen für verschiedene Berufszweige. Berufszweige für die vorher ein Hauptschulabschluss genügte, verlangten jetzt für einen Ausbildungsvertrag einen Realabschluss. Damit entspricht es durchaus kapitalistischer Logik, den Zugang zu höheren Abschlüssen immer mehr zu erschweren.
So wird die Verkürzung des gymnasialen Bildungsgangs auf 12 Schuljahre über mehr Unterrichtsstunden und ein Verdichten des Stoffes in der Sekundarstufe 1 erreicht. Dabei wird wieder das Pauken im Vordergrund stehen. Zusammen mit den Hausaufgaben kommt man dann auf lockere 43 Stunden in der 8. Klasse. In der Oberstufe steigen dann die Anforderungen noch einmal merkbar. Eine Zumutung, halten wir doch die 35-Stunden- Woche für den normal arbeitenden Menschen schon für mehr als genug.
Es ist klar, dass noch mehr diesem hohen Stress nicht standhalten werden. Wieder werden die im Vorteil sein, deren Eltern sich teure Nachhilfe leisten können oder selbst die Kinder zu Hause unterstützen können.5

Bildungsstandards

Ein Prestigeobjekt der Kultusministerkonferenz sind Nationale Bildungsstandards. Über diese „Wundermittel zur Rettung des Schulwesens“ wird viel diskutiert. Das Deutsche Institut für internationale päda-gogische Forschung geht bei der Formulierung seines Begriffs von einem optimis-tischen Menschenbild und individueller Förderung aus. Jedes Kind ist wichtig, Leistungsfähigkeit und Chancengleichheit sind Leitkategorien.6 Genau aber das werden die sich in der Bildungspolitik durchsetzenden Bildungsstandards nicht tun, sie werden nicht der Orientierung und individuellen Förderung der Schüler dienen. Im Gegenteil werden sie „der „Systemperfektionierung“ dienen, dem Ziel, Kinder und Jugendliche möglichst passgenau als Haupt,- Realschüler und Gymnasiasten einsortieren zu können.7

Die Hochbegabten

Bildungspolitiker machen sich darüber Sorgen, ob denn auch die Hochbegabten genug gefördert werden. Dient das gesamte Schulsystem sowie schon immer dazu, die Unterschiede zu manifestieren und Eliten herauszubilden, so soll die Einrichtung von Eliteschulen und Eliteuniversitäten noch einmal mehr die Konkurrenz verschärfen und neben den Massen an unterschiedlichen Abschlüssen, die man sowieso braucht, auch die Köpfe hervorbringen, die einer führenden Weltmacht auch die Spitze der Denker liefert, die dieser natürlich auch „zustehen“. Unterschiede darin, ob man den ganzen Tag studieren kann, ohne noch daneben zu malochen, ob man sich Studiengebühren leisten kann, werden zusätzlich dafür sorgen, dass die Eliten schön unter sich bleiben.
Gegen die Verschärfung des wachsenden Leistungsdrucks
Es ist nahe liegend, dass die verstärkten Anforderungen in der Sekundarstufe I sich weiter nach unten fortsetzen in die Grundschule und sogar an die Kindergärten andere Anforderungen gestellt werden. Orientierungsarbeiten in der Grundschule sollen schon früh zeigen wohin die Richtung geht. Der weniger leistungsbezogene Umgang mit den kleinen Kindern wird als „Kuschelpädagogik“ diffamiert.
So wie heute ein gesellschaftlicher Widerstand gegen die wachsenden Leistungsanforderungen in den Betrieben mehr als nötig wäre, so nötig wäre ein gemeinsamer Widerstand von Schülern, Lehrern und Eltern gegen die wachsenden Zumutungen in der Schule. „Eine Erziehung des Kleinkindes, die die Entfaltung seiner Persönlichkeit respektiert und begünstigt, würde eine Jugend vorbereiten, die sich die Gesellschaft aneignet und sie formt, bis sie sich ihnen anpasst (…) Die Schule wäre nicht mehr allein die Welt der Kinder, sie stünde auch offen für die Erwachsenen, sowohl zu ihrer permanenten Erziehung als auch für ihre Freizeit“8
Natürlich sollen alle Veränderungen auch möglichst billig vonstatten gehen. Inzwischen sind die Bildungsausgaben in der Bundesrepublik auf 4,3% gesunken. Im internationalen Vergleich ist das nicht viel. Mit ihnen rangiert Deutschland unter dem Durchschnitt der Bildungsausgaben der Mitgliedstaaten der Europäischen Union9 und befindet sich wieder im hinteren Bereich der Industrieländer. Die fehlenden Investitionen im Bildungsbereich werden in allen Bundesländern gleich aufgefangen, indem die Lehrkräfte mehr arbeiten müssen.

1 Die Wissenschaft der Erziehung, F. Huisken 1991
2 Weder für die Schule noch fürs Leben, F. Huisken 1992
3 Popsong von Crosby – Stills Nash & Young
4 Kritik der Gesamtschule, isp-Verlag 1980
5 Vgl. Konservative Bildungsansichten- Quo Vadis Gymnasium? (GEW Hessen
6 Vgl. GEW: Nationale Bildungsstandards- Wundermittel oder Teufelszeug
7 Vgl. E&W 10/2003 S. 23
8 Ligue Communiste: Der Sozialismus den wir wollen, 1972
9 Vgl. Politik und Zeitgeschehen B21-22/2003

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