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Geschichte und Philosophie

Aneinander vorbeireden: Eine Antwort auf den Leserbrief von Gabriel

Von Helmut Dahmer, Wien | 01.06.2007

Antwort auf den Leserbrief von Gabriel.

Im Hinblick auf einen Leserbrief des Genossen Gabriel habe ich die Kennzeichnung der Stalinschen Verbrechen als „Holocaust“ näher erläutert. Ich wüsste nicht, wie man anders „auf Argumente eingehen“ und eine „echte Diskussion“ führen sollte. Bei dem Versuch, die Massenverbrechen des 20. Jahrhunderts zu verstehen, bewegen wir uns alle auf dem „rutschigen Terrain“ der Geschichte1. Da helfen keine autoritären („traditionalistischen“) oder respektvollen Festsetzungen weiter, sondern nur der Austrag der Spannung zwischen dem jeweiligen Begriff und der damit gemeinten Sache2.

Dass der „Historikerstreit“ sich an der Frage entzündet hat, wie „einmalig“ der Versuch der Nazis und ihrer Helfershelfer war, die europäischen Juden durch Massenerschießungen, Deportationen und Vergasungsaktionen „auszurotten“, ist bekannt. Dass Vergleiche keine Gleichsetzungen sind, versteht sich von selbst. Dass Trotzki und die IV. Internationale dazu aufriefen, die stalinistische Sowjetunion wegen der verstaatlichten Produktionsmittel im Kriegsfall gegen imperialistische Angreifer zu verteidigen, wissen wir. Doch für die vielen Millionen Opfer Hitlers und Stalins, die weder trotzkistische Militants noch marxistische Soziologen waren, war es gleichgültig, ob sie von den Handlangern eines deformierten Arbeiterstaats oder von denen eines faschistisch-kapitalistischen Staats umgebracht wurden. Aus ihrer Perspektive handelte es sich bei der militärischen Niederschlagung der Hitlerdiktatur durch das Stalinregime (und seine Alliierten) um die Austreibung des Teufels durch Beelzebub.
Helmut Dahmer, Wien

1     Vgl. dazu den Aufsatz von Alex Callinicos – „Ausloten der Abgründe. Marxismus und der Holocaust“ – in Sozialistische Hefte für Theorie und Praxis, Nr. 13, Köln, April 2007, S. 7-20, bes. S. 18 und S. 20.

2     Die „Zigeuner“ treten in der europäischen Geschichte und Literatur (und in allen europäischen Sprachen) unter eben diesem Namen auf. Die Nazis wollten nicht „Sinti und Roma“, sondern eben diese „Zigeuner“ (mit ihrer spezifischen Tradition) ausrotten. Keineswegs alle Zigeuner lehnen es gegenwärtig ab, sich als solche zu bezeichnen. Und „unsere Tradition“ ist es, Sprachregelungen (Tabus) in Frage zu stellen. (Das von den Engländern 1889/90 in Südostafrika okkupierte Gebiet hieß [bis 1979] Rhodesien, nicht Simbabwe. Wenn wir von der größten indischen Hafenstadt im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sprechen, nennen wir sie Bombay, nicht Mumbai. Kirow wurde 1934 nicht in St. Petersburg, sondern in Leningrad erschossen…)

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