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Innenpolitik

Agenda 2010: Ein neoliberales Umverteilungsprogramm

Von Clarissa L. | 01.06.2003

Nicht erst seit gestern betreiben die Herrschenden den „Systemwechsel“. Seit den achtziger Jahren wird mit einer „Reform“ nach der anderen das System der „paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen“ langsam ausgehöhlt. Dennoch hat Schröders Agenda 2010 eine neue Qualität.

Nicht erst seit gestern betreiben die Herrschenden den „Systemwechsel“. Seit den achtziger Jahren wird mit einer „Reform“ nach der anderen das System der paritätischen Finanzierung der Sozialversicherungen langsam ausgehöhlt. Dennoch hat Schröders Agenda 2010 eine neue Qualität.

Zum einen wegen des Ausmaßes dieser neuen Umverteilungsoffensive, zum anderen wegen des Stils beim Umgang mit den Gewerkschaften. Die Gewerkschaften werden übergangen oder ignoriert, die verbalen Angriffe auf die Gewerkschaften jedoch sind eher Sache der CDU oder der FDP. Das braucht Schröder nicht, ja es wäre schädlich und würde sogar die verkommene (sozial-demokratische) Gewerkschaftsbürokratie gegen die Regierung aufbringen. Die inhaltliche Alternativlosigkeit des DGB (s. Artikel auf S. 6-7) und die lahme Organisierung von Protesten machen der Regie-rung jedenfalls Mut. Geht die Agenda 2010 einigermaßen glatt durch, kommt der nächste Angriff um so schneller.
Herbe Einschnitte
Allein auf der unmittelbar ökonomischen Ebene sind die Verluste, die mit Schröders Agenda den einzelnen Betrof-fenen und den Lohnabhängigen insgesamt drohen, gewaltig. Hier nur ein paar aus-gewählte Fakten:

Etwa 2,7 Millionen Menschen (die bisherigen ArbeitslosenhilfebezieherInnen und die SozialhilfebezieherInnen, die arbeiten können) sollen ab dem nächsten Jahr nur noch das Arbeitslosengeld II bekommen. Das ALG II soll auf Sozial-hilfeniveau liegen, abgefedert nur 1 oder 2 Jahre lang mit maximal 160 Euro monatlich. Eine Alleinstehende, die bisher z.B. 1095 Euro Arbeitslosengeld bekam, stürzt auf 586 Euro ab. Besonders Ältere werden viel verlieren, weil auch die Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes gekürzt wird. (s. Kasten)

Heute sind z.B. mehr als 600.000 Arbeitslose über 55 Jahre alt. Sie sollen zukünftig nur noch 18 Monate lang (bisher 32 Monate; die unter 55-jährigen nur noch 12 Monate lang) Arbeitslosengeld bekom-men, dann nur noch ALG II auf Sozialhilfeniveau – vorausgesetzt es gibt überhaupt noch eine Unterstützung. Denn: Auf den Grundbetrag der Arbeitslosenhilfe (zukünftig ALG II) wird Vermögen verstärkt angerechnet, wie es schon mit den Hartz-Arbeitslosenhilfe bekamen, werden keine Bezugsberechtigung mehr haben. Für die SPD-Regierung ein "positiver Nebeneffekt": Da von diesen Menschen sich dann viele nicht mehr "melden" werden, fallen sie aus der Statistik heraus. Gleichzeitig sollen die Kriterien für zumutbare Arbeit verschärft werden. Qualifikation und bisheriger Beruf sollen keine Rolle mehr spielen. Ausdrücklich sollen auch Billigjobs zumutbar sein. Die Lohndrückerfunktion des Arbeitslosenheeres soll also drastisch verschärft werden.
Bei den Bedürftigen holen
Das Einsparvolumen wird allein bei der Kürzung der Bezugsdauer von ALG I etwa 3,8 Mrd. Euro, bei der Senkung des künftigen ALG II etwa 3,6 Mrd. Euro betragen. Umverteilt wird auch der Beitrag zur Krankenversicherung. Da diese in Zukunft nur noch von den Versicherten allein zu bezahlen sein wird, werden die Lohnabhängigen zusätzlich 3,9 Mrd. Euro aufbringen müssen, was also für ihre konsumtiven Ausgaben fehlen wird. Werden alle diese Reformen umgesetzt, addieren sie sich auf über 11,3 Mrd. Euro jährlich.

Hier noch nicht eingerechnet sind die Auswirkungen auf die Renten. Da die Beitragszahlungen für die BezieherInnen von ALG I und ALG II kleiner ausfallen oder sogar ganz wegfallen sollen, rechnen die Rentenversicherungen heute schon mit zusätzlichen Mindereinnahmen von 2 Mrd. Euro jährlich schon ab Mitte des Jahrzehnts. Zu allem Überdruss erklärte Eichel am 20. Mai, dass in Zukunft die Rentensteigerungen überdacht werden müssen.

Ebenfalls noch nicht mit eingerechnet sind die geplanten erhöhten Zuzahlungen bei der Gesundheitsversorgung. 2001 betrug dieses Volumen schon 5,4 Mrd. Euro. Wenn zukünftig bei den Medikamenten die Zuzahlungen auf vier, sieben und zehn Euro steigen, werden die Lohnabhängigen allein darüber mit mehreren hundert Millionen Euro zusätzlich belastet.

Uns liegt der Referentenentwurf des Gesundheitsministeriums vor. Auf Seite 16 lautet das Fazit dieser "Komprimierten Fassung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Gesundheitswesens…":

"Aus den vorgesehenen Regelungen für die gesetzlichen Krankenkassen ergibt sich im Jahr 2004 ein finanzielles Entlastungsvolumen in einer geschätzten Größenordnung von 13 Mrd. Euro. Die Ablösung der paritätischen Finanzierung des Krankengeldes mit einem derzeitigen Finanzvolumen von ca. 7 Mrd. Euro durch eine rein versichertenbezogene Finanzierung kommt hinzu, so dass sich insgesamt ein Finanzvolumen von rund 20 Mrd. Euro ergibt, das massiv zur Entlastung bei den Lohnnebenkosten beiträgt." Mit dieser Kernaussage endet der Referentenentwurf.

So viel also zur heutigen Bedeutung des Begriffs "Reform" im offiziellen Sprachgebrauch (wie auch im Verständnis der KollegInnen). Insgesamt also soll den Lohnabhängigen sehr viel Geld aus der Tasche gezogen werden, was viele Menschen in kurzer Zeit in die Armut stürzen wird. Gleichzeitig wird dies die Massenkaufkraft so stark schmälern, dass ein weiterer drastischer Anstieg der Arbeitslosigkeit die zwangsläufige Folge sein wird.

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