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Geschichte und Philosophie

30 Jahre Kampf um die 35-Stunden-Woche

Von Pidder Lüng | 01.07.2014

Der Kampf um die Arbeitszeit ist so alt wie die Arbeiterbewegung selbst, ja, kann sogar zu ihren Ursprüngen gezählt werden. Dennoch gibt es darin besonders beachtenswerte Höhe- und Tiefpunkte. Einer von ihnen ist die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche.

Der Kampf um die Arbeitszeit ist so alt wie die Arbeiterbewegung selbst, ja, kann sogar zu ihren Ursprüngen gezählt werden. Dennoch gibt es darin besonders beachtenswerte Höhe- und Tiefpunkte. Einer von ihnen ist die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche.

Dass die gerade 30 Jahre her ist, ist ein Anlass, sich damit wieder zu beschäftigen, darüber hinaus gibt es aber auch gute Gründe.
Was war damals eigentlich los?
Genau genommen ist es falsch, davon zu reden, vor 30 Jahren habe es den Kampf um die 35-Stunden-Woche gegeben. Er begann viel früher und auch später gab es noch Streiks darum, aber vor 30 Jahren war die Auseinandersetzung auf ihrem Höhepunkt angekommen:

Vom 12. April bis 5. Juli 1984 gab es einen dreizehnwöchigen Streik in der Druckindustrie. Zwischen dem 14. Mai und dem 4. Juli die Streiks der IG-Metall in der baden-württembergischen und hessischen Metallindustrie. Betroffen waren über 690.000 Beschäftigte, der größte Anteil unter ihnen allerdings durch Aussperrung und die „kalte Aussperrung“ (dazu später). Bei manchen gelten diese Arbeitskämpfe noch heute als die längsten und härtesten der Nachkriegsgeschichte in Deutschland, obwohl es schon längere und härtere gegeben hat – allerdings nicht mit so vielen Beteiligten.
Zum Hintergrund dieser Kämpfe
Nach den Jahren des Wirtschaftswunders wirkte die Krise 1974/75 wie ein Schock. Nachdem Viele geglaubt hatten, dass ein Kapitalismus mit stabiler Vollbeschäftigung erfunden worden sei, der nur noch geringer Korrekturen bedürfe („soziale Marktwirtschaft“ heißt das dann auf ideologisch), war die Massenarbeitslosigkeit eine scheinbar neue Erfahrung.

Wie so oft, gebar die Krise des Kapitalismus auch eine Krise der Erklärungsmuster. Statt zu begreifen, dass einfach die Normalität dieser Wirtschaftsweise in Nachkriegsdeutschland Einzug hielt, wurde – zumindest auf Seiten der Mehrheit in den Gewerkschaften – eine andere Ursache ausgemacht: Rationalisierung. Darin steckt natürlich das berühmte Körnchen Wahrheit, aber eben nicht mehr. Richtig allerdings ist daran: Gerade in der Druckindustrie gab es einen enormen Rationalisierungsschub durch die Umstellung althergebrachter Verfahren in den Setzereien auf elektronische.

Auch in der Metallindustrie hielten Computer und Roboter Einzug. Allerdings spielt Rationalisierung seit der ersten industriellen Revolution eine Rolle. Die Krisen des Kapitalismus werden erst verständlich, wenn deren Rolle im Gesamtgefüge betrachtet wird.

Diese Fehleinschätzung mag dazu beigetragen haben, dass vielen nicht bewusst war, auf welches Kaliber der Auseinandersetzung sie sich mit der Forderung nach der 35-Stunden-Woche einließen. Wie dem auch sei: Eine andere Einschätzung, die die Gewerkschaften hatten, war richtig: Dauerhafte Massenarbeitslosigkeit schwächt Gewerkschaften. Sie mussten niedrigere Tarifabschlüsse als zuvor hinnehmen. Gewerkschaften, die nichts mehr durchsetzen können, werden leicht als überflüssig wahrgenommen und drohen Mitglieder zu verlieren.
Haltungen der Gewerkschaften
So waren es dann auch die am stärksten von Rationalisierung betroffenen Gewerkschaften, die IG Druck und Papier sowie die IG Metall, in denen die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung sich als erstes durchsetzte. Anders als in der Vergangenheit, in der es bei Arbeitszeitverkürzung um die Humanisierung der Arbeitswelt ging, wurde sie jetzt als Mittel gegen die drückende Massenarbeitslosigkeit diskutiert.

Aber nicht alle Gewerkschaften sprangen auf den Zug auf. Insbesondere die besonders sozialpartnerschaftlich orientierte IG Chemie, Papier, Keramik hielt das Modell der Tarifrente dagegen. Sie schloss mitten in den Vorbereitungen der IG Metall auf die Auseinandersetzung um die 35-Stunden-Woche einen Tarifvertrag ab, der ausdrücklich an der 40-Stunden-Woche festhielt und die Wochenarbeitszeit nur für die Älteren verkürzte.

Die Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten wollte stattdessen einen Vorruhestand, ähnlich die IG Bergbau und Energie sowie IG Bau, Steine, Erden. Die Gewerkschaft Textil und Bekleidung forderte kürzere Arbeitszeiten ebenfalls nur für Ältere.

Auch in der IG Metall war die Forderung zunächst nicht unumstritten: Auf ihrem 12. Gewerkschaftstag wurde die Forderung gegen den ausdrücklichen Willen des Vorstandes mit knapper Mehrheit beschlossen.
Unternehmer, Bundesregierung, die etablierten Parteien und der Staatsapparat
Im Gegensatz zu den Gewerkschaften waren sich die Herrschenden rasch einig und bereiteten sich frühzeitig eine globale Konfrontation zwischen sich und den Lohnabhängigen vor. So war von Arbeitgeberseite zu vernehmen, die „Anspruchsinflation“ der Gewerkschaften müsse beseitigt und der Faktor Arbeit verbilligt werden. Es handele sich um Investitionshemmnisse, deren Verschwinden erforderlich sei, um wieder zu mehr Wachstum zu kommen. Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände stellte einen „Tabu-Katalog“ zusammen, in dem die Verkürzung der Wochenarbeitszeit die prominente Stelle einnahm. Stattdessen solle die Arbeitszeit stärker
flexibilisiert werden.

Bundeskanzler Helmut Kohl bezeichnete die Forderung nach der 35-Stunden-Woche als „dumm und töricht“. Dass das ein Eingriff eines amtierenden Regierungsoberhaupts in die Tarifautonomie war, störte an dieser Stelle nicht. Der Bundeswirtschaftsminister Lambsdorff (Ja, genau, der später als Steuerhinterzieher Verurteilte) brandmarkte die Forderung als „wettbewerbsschädlich“ und „arbeitsplatzvernichtend“.

Der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt sprach sich gegen den Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung aus. Dessen ungeachtet erklärte sich der Bundesparteitag der SPD im Mai 1984 mit dem Kampf der Gewerkschaften solidarisch, praktische Folgen hatte das keine. Die CDU/CSU versuchte, der Bewegung die Spitze zu nehmen, indem sie vorschlug, statt einer Arbeitszeitverkürzung tarifliche Vorruhestandsregelungen zu erleichtern.

Ein besonders Lehrstück gab es für alle diejenigen, die an die Neutralität des Staates glauben, der vorgeblich das Gemeinwohl vertritt:

Als durch den Streik in Zulieferbetrieben der Automobilindustrie die Arbeit auch in den Autofabriken selber zum Erliegen kam, hatten die davon betroffenen Arbeitnehmer Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Angesichts dessen verfügte der Chef der Bundesanstalt für Arbeit, Heinrich Franke, in dem nach ihm benannten Erlass, dass ihnen kein Kurzarbeitergeld zu zahlen sei. Bei der Begründung gab er sich keine große Mühe, seine Absichten zu verschleiern: Das geschehe, um „den Arbeitskampf zu verkürzen“. Mit anderen Worten: Die IG Metall in die Knie zu zwingen.

Als die Sozialgerichte nach Klagen von IG Metall Mitgliedern das korrigierten, beeilte sich der Bundesarbeitsminister Norbert Blüm, eine gesetzliche Grundlage zu schaffen: Der § 116 des Arbeitsförderungsgesetzes wurde dahingehend geändert, dass der Franke-Erlass nunmehr Gesetz war. Mit der Folge, dass die Streikkasse der IG Metall wegen der Unterstützung der auf diese Weise „kalt ausgesperrten“ Mitglieder einer enormen Belastung ausgesetzt war. Bis heute ist umstritten, ob die kalte Aussperrung tatsächlich durch streikbedingte Lieferengpässe zustande kam, oder ob dieses Mittel bewusst eingesetzt worden war und die Lieferengpässe nur vorgeschoben.
Ergebnisse
Der Kompromiss, der dann in der Schlichtung durch den früheren Verteidigungsminister Leber und den Arbeitsrechtler Rüthers erreicht wurde, hatte Haken und Ösen, von denen einige erst später so richtig offenbar wurden. Die Arbeitszeit wurde auf durchschnittlich 38,5 Stunden pro Woche verkürzt, die aber in einer Spanne von 37 bis 40 Wochenstunden auf die Beschäftigten verteilt werden konnten. Noch während die Gewerkschaftsseite ihren Erfolg feierte, bewertete die Gegenseite den „Leber-Kompromiss“ als Einstieg in den Ausstieg aus der Arbeitszeitverkürzung und den Beginn der Flexibilisierung der Arbeitszeit.

Unterm Strich gab es allerdings in der Tat eine Wochenarbeitszeitverkürzung, die trotz aller berechtigten Skepsis (nur 1,5 Stunden weniger) Beschäftigungseffekte hatte, die sich nachrechnen ließen. Andererseits konnte jetzt die Arbeitszeit von betrieblichen Erfordernissen abhängig gemacht werden. Auch Arbeit am Wochenende hat zugenommen.

Durch die Flexibilisierung nach den Bedürfnissen des Betriebes kam eine neue Rolle auf die Betriebsräte zu. Mit der absehbaren Folge, dass sie dort besser im Interesse der Beschäftigten gehandhabt werden konnte (und auch heute kann), wo die Betriebsräte eine starke Position haben, umgekehrt die Beschäftigen in Betrieben mit schwacher Interessenvertretung sich die Nase wischen. Mit der Standarddrohung, die Produktion zu verlagern, werden Betriebsräte nur all zu häufig erpresst. Mangels tariflicher (d.h. überbetrieblicher) Regelungen sind sie dann auch leicht erpressbar.

Umstritten ist, ob die Arbeitszeitverkürzung zu größerer Leistungsverdichtung geführt hat, oder die Unternehmen das nicht ohnehin getan hätten. Empirisch ist weder das Eine noch das Andere zu belegen. Die Mechanismen der kapitalistischen Wirtschaftsweise legen allerdings nahe, dass die Leistungsverdichtung immer stattfindet. Im Bewusstsein der Beteiligten hat sich aber der Eindruck, dass Leistungsverdichtung der Preis für Arbeitszeitverkürzung sei, festgesetzt.

Thesen zum Abschluss

  • Die damalige Begründung für die Forderung nach Arbeitszeitverkürzung ist heute richtiger denn je. Doch 35 Stunden reichen heute nicht aus, das Ziel muss deutlich darunter liegen. 30 Stunden könnten eine vorläufige Orientierung sein.
  • Auf Lohn- und Personalausgleich zu verzichten, darf nicht in Frage kommen: Ohne Lohnausgleich ist es nichts anderes als Teilzeitbeschäftigung, ohne Personalausgleich schlägt die Leistungsverdichtung zu.
  • Angesichts der zu erwartenden Konfrontation, welche die gesamte Gesellschaft in so einem Kampf ergreift, dürfen nicht einzelne Gewerkschaften in isolierten Tarif- runden versuchen, diese Forderung durchzusetzen. Ein koordiniertes Handeln ist gefragt, wobei auch Gruppierungen außerhalb der Gewerkschaften mitmachen sollten.
  • Für arbeitsmarktpolitische Effekte wird höchstens eine Minderheit streikbereit sein. Die Begründungen, wenn wir für die Forderung werben, müssen daher so vielfältig sein, wie die Bedürfnisse der Beschäftigten: Gesundheit, Erholung, Zeit für andere Dinge usw.
  • Wer Arbeitszeitverkürzung fordert, stellt die Machtfrage, nämlich die Frage, wer über die Zeit von Menschen verfügen darf. Damit hat die Forderung das Zeug, in eine globale Konfrontation zwischen „unten“ und „oben“ zu führen. Die Gewerkschaftsführungen wissen das. Deshalb fürchten sie diese Forderung und werden sie sich nur zu eigen machen, wenn sie von unten (aus der Mitgliedschaft) und von außen (durch soziale und politische Initiativgruppen) dazu gedrängt werden.
  • Die Arbeitszeitfrage kann mobilisieren. Das haben verschiedene einzelbetriebliche Auseinandersetzungen in der letzten Zeit gezeigt. Isoliert werden diese Auseinandersetzungen nicht viel bewegen. Es kommt deshalb darauf an, diese Kämpfe zu bündeln und gemeinsame Forderungen zu entwickeln.

Literaturhinweise
Beim ISP-Verlag erschienen:

  • 35 Stunden Sofort! Verteilung der Arbeit auf alle. (Initiative Soziale Sicherheit).
  • Jakob Moneta, Wer nicht kämpft hat schon verloren.
  • Redaktionsgruppe Info 35 (Hrsg.), Der Streik für 35 Stunden. Aktive Kolleginnen und Kollegen ziehen Bilanz.
  • Jakob Moneta, Die Streiks der IG Metall.
  • Bartelheimer-Moneta, Das kann doch nicht alles gewesen sein … Der Kampf für 35 Stunden.

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