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12. Die bürokratisierten Arbeiterstaaten, die Diktatur des Proletariats und der Aufstieg der antibürokratischen politischen Revolution

01.06.1985

Von einem theoretischen Standpunkt aus stellen die UdSSR und die anderen bürokratisierten Arbeiterstaaten äußerst deformierte und degenerierte Formen der Diktatur des Proletariats dar, sofern die von der sozialistischen Oktoberrevolution geschaffenen wirtschaftlichen Grundlagen von der Bürokratie nicht zerstört worden sind. In diesem Sinne leitet sich die Notwendigkeit, die UdSSR und die anderen Arbeiterstaaten gegen jeglichen Versuch der Restauration des Kapitalismus – die einen gigantischen historischen Rückschritt bedeuten würde – zu verteidigen, aus der Tatsache ab, dass es sich bei diesen Ländern um bürokratisch degenerierte oder deformierte Arbeiterstaaten, d. h. um degenerierte Formen der Diktatur des Proletariats handelt.

Daraus leitet sich aber keineswegs ab, dass es mehrere historische Varianten der Diktatur des Proletariats gibt, die wir alle mehr oder minder auf dieselbe Stufe stellen, und dass die (sozialistische) proletarische Demokratie, wie sie in unserem Programm beschrieben wird, nur die “ideale Norm” darstellt, von der sich die Realität entfernt hat und in Zukunft noch stärker entfernen wird.

Die Diktatur des Proletariats ist kein Selbstzweck. Sie ist nur ein Mittel, um das Ziel zu erreichen, die Befreiung der Arbeit, aller Ausgebeuteten und Unterdrückten durch die Schaffung einer klassenlosen Gesellschaft im Weltmaßstab, die das einzige Mittel ist, um alle brennenden Probleme zu lösen, mit denen die Menschheit konfrontiert ist, und zu verhindern, dass diese in die Barbarei zurückfällt. In ihrer äußerst degenerierten Form der Diktatur der Bürokratie bietet die “bürokratische” Diktatur des Proletariats aber keine Handhabe, diesem Ziel näher zu kommen. Sie hemmt den Übergang vom Kapitalismus zum Sozialismus. Sie ist ein Hindernis, das das Proletariat durch eine politische Revolution beseitigen muss.

Hieraus folgt, dass die sozialistische Demokratie, die Ausübung der Macht durch das Proletariat selbst mittels demokratisch gewählter ArbeiterInnen- und Volksräte, keineswegs nur eine von verschiedenen Varianten der Diktatur des Proletariats ist – eine ideale oder normative, d. h. gewissermaßen “unrealistische” Variante, was im Grunde auf eine objektivistische Apologie des Aufstiegs des Stalinismus und der bürokratischen Diktatur hinausläuft. Sie ist vielmehr die einzige Form der Diktatur des Proletariats, die unserem sozialistischen Ziel entspricht, die einzige Form, die sie zu einer wirksamen Kraft werden lässt, um der Weltrevolution und dem Weltsozialismus näher zukommen. Wir kämpfen für die Verwirklichung dieser Form der Diktatur des Proletariats – und nur für diese, und zwar nicht aus Gründen der Moral, einer humanitären Einstellung oder eines historischen Idealismus (dem Versuch, dem historischen Prozess ein “ideales” Modell aufzuzwingen), sondern aus Gründen politischer Wirksamkeit und politischen Realismus, aus Gründen programmatischer Prinzipien, aus Gründen unmittelbarer und historischer Notwendigkeit vom Standpunkt der Verteidigung der Interessen des internationalen Proletariats und des Weltsozialismus.

Außerdem kann die “bürokratische” Diktatur des Proletariats – wie in der UdSSR geschehen – nur in Folge einer katastrophalen und dauerhaften politischen Niederlage des Proletariats aufkommen, die ihm von der Bürokratie beigebracht wird. Trotzki hat in diesem Zusammenhang nicht zufälligerweise von “politische Enteignung des Proletariats durch die Bürokratie” gesprochen. Als proletarische Revolutionäre/Revolutionärinnen sind wir gegenüber der Frage eines politischen Siegs oder einer politischen Niederlage unserer Klasse nicht neutral. Wir bemühen uns darum, ihren Sieg zu gewährleisten. Wir suchen ihre Niederlage mit allen möglichen Mitteln zu verhindern. Daraus folgt wiederum, dass wir nur für die Form der Diktatur des Proletariats kämpfen, bei der sich die politische Macht in den Händen demokratisch gewählter ArbeiterInnenräte befindet.

Politisch gesehen handelt es sich keineswegs um eine rein akademische Frage. Sie stellt in allen, nicht nur den imperialistischen Ländern, in denen die ArbeiterInnenklasse jetzt im Großen und Ganzen die Verbrechen des Stalinismus und der Arbeiterbürokratien allgemein eingestanden hat, ein brennendes Problem dar. Jegliche Gleichsetzung der “Diktatur des Proletariats” mit der bloßen Verstaatlichung der Produktionsmittel ohne besondere Bedingungen zur Ausübung der Macht im Staat und in der Wirtschaft durch die ArbeiterInnenklasse wird dort zu einem großen Hindernis auf dem Weg zu einer siegreichen sozialistischen Revolution, zur tatsächlichen Verwirklichung der Diktatur des Proletariats. Objektiv hilft sie der Bourgeoisie, dem Kleinbürgertum, den Sozialdemokraten und den kommunistischen Parteien, die ArbeiterInnenklasse in das Korsett des bürgerlich-demokratischen Staats eingezwängt zu halten.

Noch brennender ist das Problem in allen bürokratisierten Arbeiterstaaten selbst, in denen die politische Revolution auf der Tagesordnung steht. In diesen Ländern würde jeder Versuch, andere Varianten als die sozialistische Demokratie als Ziel der aufsteigenden politischen Revolution hinzustellen, alle, die das versuchen würden, extrem von den Massen isolieren. Sie würden Gefahr laufen, den Hass, mit dem das Proletariats auf die Bürokratie, “die neuen Herren”, reagiert, auch auf sich zu ziehen.

Durch die konkreten Erfahrungen der ungarischen Revolution von Oktober/November 1956 und der polnischen Revolution von August 1980 bis Dezember 1981, die auf dem Weg einer voll entfalteten antibürokratischen politischen Revolution weiter gegangen sind, und des “Prager Frühlings” von 1968/69 konnten bereits außerordentlich bedeutsame Lehren in Bezug auf die Dynamik der politischen Revolution gezogen werden. Der “Prager Frühling” und die politische Revolution in Polen hatten zudem den Vorteil, dass sie sich unter sozioökonomischen und politischen Bedingungen von Ländern abspielten, in denen die ArbeiterInnenklasse die große Mehrheit der erwerbstätigen Bevölkerung stellt und sich auf eine lange Tradition von sozialistischen, kommunistischen und gewerkschaftlichen Massenorganisationen sowie in Polen auf eine reiche Erfahrung antibürokratischer politischer Revolten und Kämpfe für die ArbeiterInnenselbstverwaltung stützt. Diese drei Erfahrungen beginnender politischer Revolution bestätigen, dass der Inhalt der sozialistischen Demokratie, so wie er in unserem Programm vorgestellt und in diesen Thesen genauer ausgeführt wird, nur der bewusste Ausdruck der Ziele ist, für die Millionen von ArbeiterInnen gekämpft haben, als sie sich gegen die totalitäre Diktatur der Bürokratie erhoben.

Der Kampf gegen die Geheimpolizei, für die Freilassung der politischen Gefangenen, gegen die Unterdrückung politischer und gewerkschaftlicher Betätigung, die das Machtmonopol der herrschenden Bürokratie antasten, gegen die Pressezensur, gegen
die Willkür in der Rechtsprechung (d.h. für geschriebenes Recht und für das Recht der Angeklagten auf gesetzeskonformen Prozess und Verteidigung), gegen das Einparteiensystem, gegen die Kontrolle der Bürokratie über das gesellschaftliche Mehrprodukt und das gesamte Wirtschaftssystem, gegen die ungeheuren materiellen Privilegien der Bürokratie und für einen qualitativen Sprung vorwärts zur wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Gleichheit – das sind die Hauptbeweggründe, für die die ungarischen und tschechoslowakischen werktätigen Massen gegen die Bürokratie auf die Straße gegangen sind. Dasselbe steht in der UdSSR und in der VR China bevor.

Sie haben mit einer Wiedereinführung des Privateigentums und des Kapitalismus nichts zu tun, wie die stalinistischen Verleumder behauptet haben, um die konterrevolutionäre Unterdrückung der gegen die Bürokratie gerichteten Massenerhebungen durch die Entsendung von sowjetischen Truppen nach Ungarn und in die Tschechoslowakei oder durch die Verhängung des Kriegsrechts in Polen zu rechtfertigen. Im selben Sinne haben sie auch nichts mit dem Sturz der Diktatur des Proletariats zu tun.

1956 haben sich in Ungarn die ArbeiterInnenräte – insbesondere der Zentrale ArbeiterInnenrat von Budapest – nach langen Diskussionen für die Verteidigung des verstaatlichten Eigentums und die Freiheit für alle politischen Parteien mit Ausnahme der Faschisten ausgesprochen. Im Verlauf des “Prager Frühlings” in der Tschechoslowakei [1968] ist die Forderung nach uneingeschränkter Organisationsfreiheit für die politischen Clubs, Tendenzen und Parteien, die zuerst von den radikalsten AnhängerInnen der Bewegung vertreten wurde, von breiten Strömungen innerhalb der Kommunistischen Partei selbst aufgegriffen worden und hat die Unterstützung der großen Mehrheit der Gewerkschaften und der ArbeiterInnenräte erhalten, die während des Höhepunkts des “Frühlings” entstanden sind. Die ArbeiterInnenklasse hat sich energisch für die Pressefreiheit ausgesprochen, wogegen die stalinistischen Wortführer der Bürokratie, die die konterrevolutionäre Militärintervention der sowjetischen Bürokratie vorbereitet, begünstigt und unterstützt haben, ihre Angriffe bezeichnenderweise auf die vorgeblich “verantwortungslosen” und “pro-bürgerlichen” SchriftstellerInnen konzentrierten, deren freie Meinungsäußerung sie um jeden Preis ersticken wollten. Die ArbeiterInnenklasse hat sich in ihrer erdrückenden Mehrheit für die Meinungsfreiheit dieser SchriftstellerInnen ausgesprochen.

In Polen hat die ArbeiterInnenklasse 1980/81 während 16 Monaten den Versuch eines umfassenden Kampfs für die politische Revolution in einem ArbeiterInnenstaat unternommen. Die innere Demokratie, die sich die zehn Millionen ArbeiterInnen gaben, die in der Gewerkschaft “Solidarno” organisiert waren, bewies, wie fest die ArbeiterInnenklasse zu den Prinzipien der proletarischen Demokratie steht. Die Losungen “Vergesellschaftung der Produktionsmittel und der Planung” und “Aufbau einer selbstverwalteten Republik”, die von der Massenbewegung aufgestellt wurden, waren ein klarer Ausdruck für deren Bestreben, der Bürokratie die Kontrolle über die Wirtschaft wie den Staat zu entwinden und sie der kollektiven, demokratischen Leitung der ArbeiterInnen zu unterstellen; dieses Bestreben nahm im Kampf um die ArbeiterInnenselbstverwaltung und in der Bildung von ArbeiterInnenräten sowie deren Koordinationen greifbare Gestalt an. Das Programm, das vom Landesdelegiertenkongress von “Solidarno” angenommen wurde, erklärt: “Der weltanschauliche, gesellschaftliche, politische und kulturelle Pluralismus muss die Grundlage für die Demokratie in einer selbstverwalteten Republik sein.” (Programm der NSZZ “Solidarno”, in: “Osteuropa-Info”, Nr. 4, Dezember 1981, These 19, S. 31.) Es fährt fort: “Das öffentliche Leben in Polen verlangt eine tiefe und umfassende Reform, die zu einer dauerhaften Einführung der Selbstverwaltung, der Demokratie und des Pluralismus führen muss. Deshalb werden wir sowohl eine Umgestaltung der staatlichen Strukturen als auch die Schaffung und Unterstützung von unabhängigen und selbstverwalteten Institutionen in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens anstreben.” (S. 32)

In diesem Programm heißt es weiter: “Wir sind der Ansicht, dass die Grundsätze des Pluralismus in das politische Lehen hineingetragen werden müssen. Unsere Gewerkschaft wird Bürgerinitiativen stützen und verteidigen, die das Ziel haben, der Gesellschaft verschiedenartige politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche Programme vorzustellen.” (S. 32)

Es ist mehr als wahrscheinlich, dass sich ähnliche Konfrontationen während jeder künftigen politischen Revolution ereignen werden, vor allem in der UdSSR und der VR China. Die revolutionären MarxistInnen können nicht zögern oder eine abwartende Haltung einnehmen. Sie müssen sich nach dem richten, worum es der großen Mehrheit der werktätigen Massen geht – Verteidigung uneingeschränkter demokratischer Freiheiten, gegen die Zensur und die Repression der Bürokratie.

Zu Beginn einer wirklichen politischen Revolution unterscheiden die werktätigen Massen zwischen denjenigen Sektoren der Bürokratie, die versuchen, Mobilisierungen und die Selbstorganisation der Massen auch mit Gewalt zu verhindern, und anderen Sektoren, die – aus welchen Gründen auch immer – dem Druck der Massenbewegung nachgeben und sich mit ihr zu verbünden scheinen. Erstere werden gnadenlos aus allen Organen ferngehalten werden, die aus der wahren ArbeiterInnen- und Volksmacht entstehen. Letztere werden geduldet werden, und die Massen werden mit ihnen sogar taktische Bündnisse schließen, vor allem dann, wenn sie von den verhasstesten VertreterInnen der bürokratischen Diktatur angegriffen werden.

Bei der Institutionalisierung der ArbeiterInnenmacht werden die werktätigen Massen jedoch alle nötigen Maßnahmen ergreifen, ihre zahlenmäßige, soziale und politische Überlegenheit in den regenerierten Sowjets sicherzustellen, um zu verhindern, dass diese wieder unter die Hegemonie der Bürokratie – sei es auch nur ihres technokratischen und “liberalen” Flügels – geraten. Doch dies kann auch durch geeignete Wahlregeln verwirklicht werden und darf in keiner Weise das Verbot bestimmter Parteien oder ideologischer Tendenzen enthalten, die als Vertretung jener Sektoren der Bürokratie betrachtet werden, die sich zeitweise mit den revolutionären Massen verbündet haben.

Während des Aufstiegs und des Kampfs für den Sieg der antibürokratischen politischen Revolution werden die revolutionären MarxistInnen das enorme Handikap überwinden müssen, dass der Marxismus, der Kommunismus, der Leninismus und der Sozialismus allgemein durch Stalin, den Stalinismus und dessen Erben diskreditiert wurden, indem sie ihre verabscheute Unterdrückungsherrschaft diesen großen emanzipatorischen Denkrichtungen gleichgesetzt haben. Die IV. Internationale kann dieses Handikap erfolgreich überwinden, indem sie sich auf die Bilanz von mehr als einem halben Jahrhundert
gnaden- und kompromissloser Kämpfe stützt, die ihre BegründerInnen und ihre Mitglieder gegen diese Unterdrückungsherrschaft geführt haben. Sie muss aber zu dieser Bilanz ein mutiges Programm mit konkreten Forderungen hinzufügen, die in den Augen der Massen den Sturz der Herrschaft der Bürokratie, deren Ersetzung durch die von den ArbeiterInnen selbst ausgeübte Macht und die von den Massen geforderten ausreichenden Garantien verkörpern, um zu verhindern, dass je wieder die politische und wirtschaftliche Macht der ArbeiterInnen durch eine privilegierte Gesellschaftsschicht an sich gerissen wird. Unser Programm der sozialistischen Demokratie fasst all diese Forderungen zusammen, die in den Augen der zweihundert Millionen ProletarierInnen der bürokratisierten Arbeiterstaaten dem sozialistischen Ziel Glaubwürdigkeit verleihen.

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