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10. Die Selbstverteidigung des ArbeiterInnenstaats

01.06.1985

Jeder ArbeiterInnenstaat muss sich natürlich gegen alle Versuche des Umsturzes und offene Verletzungen seiner Grundgesetze verteidigen. In der proletarischen Demokratie eines stabilen ArbeiterInnenstaats, der nach der erfolgreichen Entwaffnung der Bourgeoisie und dem Ende des Bürgerkriegs entstanden ist, wird nach Verfassung und Strafgesetzbuch die private Aneignung der Produktionsmittel oder die private Anstellung von Arbeitskräften verboten sein, genau wie unter der Herrschaft der Bourgeoisie in Verfassung und Strafgesetzbuch Eingriffe in das Rechts auf Privateigentum verboten sind. Ebenso werden, solange die proletarische Staatsmacht fortbesteht und die Restauration des Kapitalismus möglich bleibt, die Verfassung und das Strafgesetzbuch der Diktatur des Proletariats den Tatbestand des bewaffneten Aufstands, Versuche zum gewaltsamen Sturz der ArbeiterInnenmacht, terroristische Angriffe auf VertreterInnen der Arbeitermacht, Sabotageakte, Spionage im Dienst ausländischer kapitalistischer Mächte usw. verbieten und unter Strafe stellen. Strafbar dürfen aber nur entsprechende bewiesene Tatbestände oder deren direkte Vorbereitung sein und nicht die allgemeine Propaganda, die explizit oder implizit eine Restauration des Kapitalismus befürwortet. Dies bedeutet, dass die politische Organisationsfreiheit allen einschließlich probürgerlicher Elemente gewährt werden sollte, die in ihren tatsächlichen Handlungen die Verfassung des ArbeiterInnenstaats einhalten, d.h. keine gewaltsamen Aktionen zum Sturz der Arbeitermacht und des kollektiven Eigentums an den Produktionsmitteln unternehmen.

Es gibt keinen Grund, warum die ArbeiterInnen Propaganda, die sie zur Rückgabe der Fabriken und der Banken an die Privateigentümer “ermutigt”, als eine tödliche Gefahr ansehen müssten. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie sich mehrheitlich von einer Propaganda dieser Art “überzeugen” lassen, ist gering. In den imperialistischen Ländern, in den bürokratisierten Arbeiterstaaten und in einer wachsenden Zahl halbkolonialer Länder ist die ArbeiterInnenklasse stark genug, um das “Meinungsdelikt” nicht in das Strafgesetzbuch oder in die tägliche Praxis des ArbeiterInnenstaats einführen zu müssen.

Es ist wichtig, einen deutlichen Unterschied zu machen zwischen Aktivitäten, die Gewalt gegen die ArbeiterInnenmacht provozieren, und politischer Betätigung, ideologischen Positionen oder programmatischen Erklärungen, die als Befürwortung der Restauration des Kapitalismus interpretiert werden können. Gegen den Terror verteidigt sich der proletarische Staat mittels Repression. Gegen politische Programme und reaktionäre Ideen verteidigt er sich mit politischem und ideologischem Kampf. Das ist keine Frage der “Moral” oder “weicher” Positionen, sondern im Wesentlichen eine Frage der langfristigen politischen Wirksamkeit.

Durch die katastrophale Erfahrung des Stalinismus, der sich systematisch verleumderischer Beschuldigungen bediente – etwa des “heimlichen Einverständnisses mit dem Imperialismus”, der “Spionage im Dienste fremder Mächte”, einer “objektiv dem Imperialismus nutzenden Betätigung”, “antisowjetischer” oder “antisozialistischer Agitation” – , um in den Ländern, die von einer parasitären Bürokratenkaste regiert wurden, jede Form von politischer Kritik, von Opposition oder einfach von Nonkonformismus zu unterdrücken, und der unter diesem Vorwand eine grausame Massenrepression betrieben hat, ist ein tiefes (und zutiefst gesundes) Misstrauen gegenüber dem Missbrauch strafrechtlicher, gerichtlicher, polizeilicher oder psychiatrischer Institutionen zum Zweck politischer Unterdrückung entstanden. Es muss daher betont werden, dass die Anwendung von repressiven Mitteln der Selbstverteidigung seitens des Proletariats und seines Staats gegen Versuche zum gewaltsamen Sturz der ArbeiterInnenmacht strikt auf bewiesene Verbrechen und Handlungen beschränkt, anders gesagt strikt vom Bereich der ideologischen, politischen und kulturellen Betätigung getrennt werden muss.

Die IV. Internationale spricht sich für die Verteidigung und die Ausweitung der fortschrittlichsten Errungenschaften der bürgerlich-demokratischen Revolutionen auf dem Gebiet des Strafrechts und der Justiz aus und kämpft für deren Aufnahme in die sozialistischen Verfassungen und Strafgesetzbücher. Das betrifft Rechte wie:

1. die Notwendigkeit eines geschriebenen Gesetzes und die Ablehnung des Konzepts rückwirkender Straffälligkeit; die Anklage muss den Beweis für das Vergehen beibringen; der/die Angeklagte gilt bis zur Vorlage dieses Beweises als unschuldig;

2. das volle und uneingeschränkte Recht aller Individuen, ihre Verteidigung selbst zu bestimmen; volle und uneingeschränkte Immunität der Rechtsanwälte für jegliche Erklärung oder Verteidigungsform im Verlaufe eines Prozesses;

3. die Verwerfung jeglichen Konzepts kollektiver Verantwortlichkeit von gesellschaftlichen Gruppen, Familien usw. für individuell begangene Verbrechen;

4. das strikte Verbot jeder Form von Folter oder der Abpressung von Geständnissen unter Zwang;

5. die Aufhebung der Todesstrafe mit Ausnahme von Situationen des Kriegs oder des Bürgerkriegs;

6. die Ausdehnung und allgemeine Einführung von öffentlichen Prozessen vor Geschworenengerichten;

7. die demokratische Wahl aller RichterInnen mit dem Recht auf Abberufung aller Gewählten nach Ermessen der WählerInnen.

Der ArbeiterInnenstaat kann zudem schrittweise die Institution der Berufsrichterschaft beseitigen, indem er den Massen zunächst auf lokaler Ebene bei geringfügigeren Vergehen selbst überlässt, die richterlichen Funktionen auszuüben.

Selbstverständlich wird das letzte Wort in dieser Angelegenheit sowie allgemeiner die endgültige Abfassung des sozialistischen Strafgesetzbuchs und die Regelung des Strafvollzugs unter der Diktatur des Proletariats bei den ArbeiterInnenräten selbst liegen, nachdem der bewaffnete Widerstand der Bourgeoisie gebrochen ist. Ihnen werden wir unser Programm vorlegen und uns in diesem Rahmen mit politischen Mitteln dafür einsetzen.

Die wichtigste Garantie gegen jeglichen Missbrauch der Repression seitens des Staats liegt in der breitesten Teilnahme der werktätigen Massen an der politischen Aktivität, in der breitesten sozialistischen Demokratie, in der allgemeinen Bewaffnung des Proletariats (ArbeiterInnenmilizen) und in der Abschaffung jedes Monopols einer Minderheit auf Zugang zu den Waffen.

Doch wie Lenin sagte: “Die Tatsache, dass das Proletariat die soziale Revolution vollzogen hat, macht es noch nicht zu einem Heiligen un
d wird die Revolution nicht vor Irrtümern und Fehlern bewahren.” Deswegen darf die Wachsamkeit der revolutionären KommunistInnen während der Periode des Übergangs zur kommunistischen Gesellschaft nicht nachlassen. Der kommunistischen Avantgarde wird es obliegen, die mindesten Anzeichen von “Bürokratismus” aufzuspüren, alle Missstände im proletarischen Staat anzuprangern und zu bekämpfen, auf die Einhaltung egalitärer und demokratischer Prinzipien zu achten, die Rechte der Frauen und “rassischer”, nationaler oder ethnischer Minderheiten zu verteidigen – kurz, auch dem proletarischen Staat gegenüber die Rolle der kommunistischen Avantgarde zu spielen.

Unbegrenzte politische Freiheit für alle Individuen, Gruppen, Tendenzen und Parteien, die das Kollektiveigentum und die Verfassung des ArbeiterInnenstaats praktisch anerkennen, so lautet unsere programmatische und prinzipielle Richtlinie. Dies bedeutet nicht, dass diese Richtlinie ungeachtet der konkreten Bedingungen vollständig anwendbar ist. Im Verlauf der Errichtung der Diktatur des Proletariats kommt es bei einer revolutionären Krise, die in einem Aufstand gipfelt, und während des Aufstands selbst, wenn die Staatsmacht von einer Klasse an eine andere übergeht, zu Ausbrüchen von Gewalt und einem damit einhergehenden Rechtsvakuum. Sie werden nur dann zum Sieg des Proletariats führen, wenn der Aufstand von der Mehrheit der Bevölkerung, der großen Mehrheit der LohnempfängerInnen, unterstützt wird – zumindest in all den Ländern, in denen diese bereits die zahlenmäßig stärkste Gesellschaftsklasse darstellen. Je breiter die Massenmobilisierung ist, die den Aufstand begleitet, desto geringer wird die unvermeidliche Gewalt und Willkür sein, die diese gigantische gesellschaftliche Umwälzung begleiten wird.

Ebenso kann der Festigung der Diktatur des Proletariats ein Bürgerkrieg oder eine ausländische Militärintervention vorausgehen, d.h. Versuche der alten herrschenden Klasse, die ArbeiterInnenmacht gewaltsam zu stürzen. Unter diesen Bedingungen kommen die Regeln des Kriegs zur Anwendung und die Bourgeoisie könnte in ihrer politischen Aktivität eingeschränkt werden. Keine einzige Gesellschaftsklasse und kein Staat haben je denjenigen, die mit gewaltsamen Mitteln auf ihren Sturz hinarbeiteten, den vollständigen Genuss politischer Rechte gewährt. Die Diktatur des Proletariats wird in dieser Hinsicht nicht anders handeln können.

Konkreter gesagt werden alle Personen, Organisationen und Parteien, die an konterrevolutionärer Gewalt beteiligt sind oder denen man nachweisen kann, dass sie diese aktiv unterstützen oder vorbereiten, unterdrückt und Bedingungen unterworfen werden, die ihnen eine Fortsetzung dieser Tätigkeit verunmöglichen. Das Ausmaß und die konkreten Formen dieser Repression werden von den Umständen und den Kräfteverhältnissen abhängen, die zu diesem Zeitpunkt in einem bestimmten Land oder einer Gruppe von Ländern bestehen. Während der ersten Phase der Errichtung des ArbeiterInnenstaats gegen den bewaffneten Widerstand der Bourgeoisie oder deren Versuche, ihn zu stürzen, kann das Vorhandensein eines geschriebenen Strafrechts – der sozialistischen Gesetzgebung – nachrangig sein gegenüber den Anforderungen der Revolution, Krisensituationen zu lösen, die nicht der Notwendigkeit untergeordnet werden können, zuerst ein Strafgesetz auszuarbeiten. Die historische Erfahrung hat wieder und wieder bestätigt, dass die Periode des eigentlichen Bürgerkriegs desto kürzer sein und die soziale Revolution desto weniger Menschenleben kosten wird, je schneller und radikaler der bewaffnete Widerstand der Bourgeoisie gebrochen wird.

Für den allgemeinen Rahmen, in dem die Revolution langfristig ihre Wirksamkeit erweisen kann, sind die bestimmenden Kriterien nach wie vor, dass die einer unmittelbaren Notwendigkeit entspringenden Maßnahmen in Bezug gesetzt werden zu den Erfordernissen der Festigung der neuen Gesellschaftsordnung auf der Grundlage einer möglichst breiten Zustimmung und Beteiligung der Masse. Selbst unter Bedingungen des Bürgerkriegs sind nur solche unmittelbaren Maßnahmen tatsächlich effizient, die das Klassenbewusstsein und das Selbstbewusstsein des Proletariats heben, anstatt es zu drücken, die das Vertrauen des Proletariats in seine Fähigkeit, einen ArbeiterInnenstaat und eine klassenlose Gesellschaft aufzubauen, stärken und nicht untergraben, und die gewährleisten, dass es sich aktiv an der Verwaltung des eigenen Staats beteiligen kann und in der Lage ist, zu mobilisieren und sich selbst zu organisieren. Selbst unter Bedingungen des Bürgerkriegs darf dieses grundlegende Kriterium nie vergessen werden, zumal sich künftige Revolutionen möglicherweise unter viel günstigerer Kräfteverhältnisse entwickeln werden als 1919 oder 1920/21 in Russland.

Hierzu hat sich Trotzki 1940 unmissverständlich geäußert. Was er damals schrieb, gilt heute noch mehr: “Vorab lässt sich folgendes Gesetz aufstellen: Je größer die Zahl der Länder ist, in denen die Herrschaft des Kapitalismus gebrochen wird, desto schwächer wird der Widerstand sein, den die herrschenden Klassen in anderen Ländern leisten werden, desto weniger heftig wird die sozialistische Revolution ausfallen, desto weniger gewalttätige Formen wird die proletarische Diktatur annehmen, desto kürzer wird sie dauern und desto eher wird die Gesellschaft auf der Grundlage einer neuen, vollständigeren, perfekteren und humaneren Demokratie sich reorganisieren. (…) Der Sozialismus wäre wertlos, wenn er nur die rechtliche Unverletzlichkeit und nicht auch die volle Garantie aller Interessen der menschlichen Persönlichkeit mit sich brächte.” (Leo Trotzki: Die Weltsituation und die Perspektiven, 14. Februar 1940, : Denkzettel. Politische Erfahrungen im Zeitalter der permanenten Revolution, Frankfurt a. M. [Suhrkamp] 1981, S. 262.)

Zudem muss die direkte politische und materielle Verantwortung der bürgerlichen Konterrevolution für jegliche Einschränkung der sozialistischen Demokratie unter Bedingungen eines Bürgerkriegs oder des Kriegs betont werden. Das bedeutet, dass der Gesellschaft insgesamt und den Überresten der ehemaligen herrschenden Klassen deutlich gemacht werden muss, dass es letzten Endes von ihnen selbst, d.h. von ihrem praktischen Verhalten abhängt, wie sie behandelt werden.

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